geld oder leben

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Sars-Cov-2 ist ein Virus, von dem man weiß, dass es sehr gefährlich sein kann, wenn man sich infiziert.
Man weiß auch, dass es sich je nach Situation und Konstellation sehr schnell ausbreiten kann. Man weiß
auch, dass es für viele Menschen nicht wirklich gefährlich ist – zumindest nicht unmittelbar, denn
eventuelle Langzeitfolgen kennt man noch nicht. Aber wenn es sich stark verbreitet und viele Menschen
infiziert sind, werden zahlenmäßig eben doch sehr viele Menschen krank, schwer krank oder sterben.
„Heben Sie den Lockdown auf, bevor es zu spät ist!“, hat der Bundesverband mittelständische Wirtschaft
(BVMW) in einem Offenen Brief(1) an Bundeskanzlerin Merkel gefordert. In dem Schreiben wird der
Bundesregierung aufgrund des von ihr seit dem 23. März 2020 verordneten „Lockdown“ ein „gefährliches
Spiel mit den Zukunftschancen dieses Landes“ vorgehalten. Auch BDI-Präsident Dieter Kempf sagt:
„Jede Woche eines Shutdowns kostet die deutsche Volkswirtschaft einen mittleren zweistelligen

Milliardenbetrag an Wertschöpfung.“ (https://www.tagesschau.de/wirtschaft/wirtschaft-deutschland-
corona-101.html
, 02.05.2020). Und nicht nur die Industrie, sondern auch in der Politik wird von Laschet

über Lindner bis Schäuble immer stärker darauf verwiesen, dass die Pandemie-Eindämmungs-
Beschränkungen immer mehr allgemeinen wirtschaftlichen Schaden anrichten und dass der Staatshaushalt

nicht unbegrenzt Einkommensausfälle kompensieren kann. Dass allgemeiner wirtschaftlicher Schaden
wegen ausbleibender Unternehmensgewinne für den Normalmenschen die Gefährdung des Arbeitsplatzes
bedeutet, ist dabei immer mitgedacht und wird auch so verstanden. Das wird dann mit Bildern von
Einzelschicksalen veranschaulicht, die zeigen, dass verminderte oder weg gefallene Einkommen große
materielle Probleme mit sich bringen und darüber hinaus zu massiven Existenzängsten führen. Geld oder
Leben, scheint die Frage zu sein, die in der derzeitigen Situation auf dem Tisch liegt.
Aber was ist das eigentlich für eine komische Wirtschaft, bei der nach wenigen Monaten eingeschränkter
Tätigkeit bereits massenhafte Verarmung droht? Es werden doch weiterhin genügend von den regelmäßig
benötigten Konsumgütern hergestellt. In den Bäckereien liegen weiterhin zehn Sorten Brot herum, die
Spargelsaison fällt nicht aus und selbst an Klopapier fehlt es nicht. Eigentlich ließe sich die Situation
doch noch einige Zeit aushalten.
Konkrete Probleme bei der Brot- Spargel- oder Klopapierproduktion werden auch für die nächste Zeit
nicht befürchtet. Aber um Versorgungsengpässe bei bestimmten notwendigen Produkten geht es in der
Öffnungsdiskussion auch gar nicht: Es wird festgestellt, dass sich „die Wirtschaft“ ganz allgemein wegen
der Restriktionen bereits in einer Krise befinde, und befürchtet, dass sich diese Krise verschärfen und
letztlich zu unabsehbaren Schäden führen könnte. Wieso eigentlich?
Natürlich liegen gerade viele Betriebe still, angefangen von der Eckkneipe bis hin zur Autofabrik(2). Nun
könnte man fragen, was daran wieder so schlimm sein soll. Nahrungsmittel für beschäftigungslose Wirte
und Autoschrauberinnen sind ja hinreichend vorhanden und werden weiterhin hergestellt. Die Kneipen
und Fabriken gehen auch nach einem halben Jahr Stillstand nicht kaputt, sondern stehen da und können
bei Bedarf wieder benutzt werden. Warum also nicht noch bei reduzierter Produktion etwas abwarten, bis

das Virus ganz sicher unter Kontrolle ist und dann normal weitermachen? Dann würden im Jahr 2020 halt
ein paar weniger Autos produziert und viele Cocktails nicht in der Kneipe, sondern zu Hause getrunken.
Jetzt meldet sich der wirtschaftliche Sachverstand und sagt: So einfach ist das aber nicht! Für die Kneipe
muss regelmäßig Miete gezahlt werden, egal ob sie geöffnet ist oder nicht. Die Autofabrik hat
langlaufende Lieferverträge mit Stahlwerken und Lackherstellern abgeschlossen. Die verlangen
regelmäßige Bezahlung. Ob Stahl oder Lack gerade verarbeitet werden können, ist dabei egal.(3) Die
stillstehenden Unternehmen haben also ein Problem: Es werden weiterhin regelmäßige Zahlungen fällig,
Einnahmen gibt es aber nicht oder nur deutlich reduziert. Eine Weile können diese Zahlungen aus
Reserven oder durch Aufnahme von Krediten beglichen werden. Früher oder später (bei den meisten
Unternehmen eher früher) ist damit aber Schluss. Und dann geht das Unternehmen kaputt, nicht weil die
Alkoholvorräte und Kneipeneinrichtung durch ausbleibende Benutzung beschädigt wird, sondern weil der
Wirt sie verkaufen muss, um die Rechnungen zu bezahlen. Die Räume verliert er auch noch, weil er die
Miete nicht mehr zahlen kann. Mit der Autofabrik würde in viel größerem Maßstab dasselbe passieren.
Außerdem werden die Lebensmittel, von denen derzeit ja weiterhin ausreichend produziert werden, auch
jetzt nicht einfach abgegeben – sie müssen weiterhin bezahlt werden. Wirt und Autoschrauberin haben
also ein Problem, noch bevor Autofabrik und Kneipe insolvent sind: Sie müssen weiterhin ihre
Lebensmittel bezahlen. Der Wirt hat aber keine Einnahmen aus der Kneipe mehr und die Autoschrauberin
verliert ihre Stelle, weil der Automobilhersteller ihren Lohn einsparen will.
Hier greift der Staat ein. Neben vielen anderen Maßnahmen, z.B. zeitlich begrenzter Kündigungsschutz
für Mieter trotz rückständiger Mietzahlungen, organisiert er finanzielle Unterstützung für Unternehmen,
Soloselbständige und Arbeitnehmer. Das geschieht teils in Form von Krediten und hat für die Empfänger
der Leistungen die unangenehme Seite, dass sie die Hilfskredite später zusätzlich zu ihren sonstigen
Kosten bezahlen müssen, obwohl sie absehbar nicht mehr verdienen werden als vor der Krise. Teils
werden auch direkte Zuschüsse gegeben. Diese belasten aber den Staatshaushalt und werden deswegen
nicht so unbegrenzt gezahlt, wie es zum Ausgleich der wegbrechenden Einnahmen notwendig wäre. Das
Grundproblem bleibt: Wegen reduzierter Produktion wird weniger Geld verdient. Das kann durch
staatliche Hilfsmaßnahmen vielleicht gemildert und für kurze Zeit aushaltbar gemacht werden –
aufgehoben ist es damit nicht.
An der Stelle zeigt sich, dass Geld nicht einfach ein cleveres Steuerungsmittel ist, um eine
bedarfsgerechte Produktion zu ermöglichen. Es geht beim Geld nicht einfach darum, dass steigende
Cocktailpreise einen Mangel an Kneipen anzeigen und zur Eröffnung neuer anregen. Im Gegenteil: Geld
ist das einzige Mittel, um an Dinge, die man zum Leben benötigt, ran zu kommen. Wenn alle Dinge –
inklusive der notwendigen Lebensmittel – Geld kosten, dann benötigen alle Insassen dieser Gesellschaft –
Unternehmer genauso wie Arbeiter – eine dauerhaft fließende Geldquelle, so bescheiden sie für die
Arbeiter auch immer ist. Deshalb ist Geld auch nicht „praktisch“, sondern entscheidet über die
Existenz(4). Und deshalb ist für diese Gesellschaft eine Produktionspause, selbst wenn es weiterhin die
wichtigen Lebensmittel ganz praktisch en masse gibt, eine mittlere bis schwere Katastrophe, denn das
ständig benötigte Geld wird in der Produktion verdient. Steht die Produktion still, versiegt die Geldquelle

und wird durch den Stillstand sogar zerstört: Kapitalismus verträgt keinen Stillstand.
In so einer Gesellschaft – und nur in so einer Gesellschaft – gibt es also ganz buchstäblich die trostlose
Alternative: Geldverdienen mit dem Risiko der weiteren Verbreitung von COVID-19 oder gerettete
Leben in fortschreitender Verarmung.


Erstveröffentlichung auf https://gegner.in/

(1) https://www.bvmw.de/fileadmin/01-Presse_und_News/Pressemitteilungen/Dateien/Mittelstand-Offener-Brief-Bevor-es-zu-spaet-ist-01-05-2020.pdf
(2) Wobei die Produktion in den Autofabriken ja gerade wieder angefahren wird.
(3) Unter den regelmäßigen Zahlungen gibt es noch eine besondere Kategorie: Zins und Tilgung für aufgenommene Kredite. Wenn diese Zahlungen massenhaft ausbleiben, gefährdet der Zahlungsausfall die Geschäfte, die das das Bankwesen mit den Schulden dieser Gesellschaft macht und damit die Banken selbst. Wie und warum das so ist, wäre Material genug für eine Broschüre. Hier genügt die Feststellung, dass ein Zusammenbruch des Bankwesens wegen massenhafter Zahlungsausfälle zum Zusammenbruch der gesamten Wirtschaft führen würde. Deswegen setzen die Zentralbanken mit Hilfsprogrammen eigener Art gerade alles daran, dass es dazu nicht kommt.
(4) Weiterführende Argumente hierzu in: „Die Misere hat System – Kapitalismus“, 2. Kapitel, Seite 25 ff.; https://gegen-kapital-und-nation.org/page/die-misere-hat-system-kapitalismus/