Interview mit Petra Leschanz ◄
ausreißer: Du bist Juristin, Mitbegründerin der Initiativen Border Crossing Spielfeld und Pushback Alarm Austria. Als eine der aktivsten Unterstützer*innen von Geflüchteten an der slowenisch-österreichischen Grenze warst du 2015, als dort tausende Menschen ankamen, von Anfang an vor Ort − mit welchem Impuls bist du damals nach Spielfeld gekommen und wie hat sich die Situation dann aus deiner Sicht unmittelbar entwickelt?
Petra Leschanz: Ich war im Herbst 2015 eine von vielen in der Südsteiermark, die gar nicht anders konnten, als zur Grenze zu fahren, um den Ankommenden zur Seite zu stehen. Ich lebe nur wenige Kilometer von den Grenzübergängen Bad Radkersburg und Spielfeld entfernt, die zwischen Oktober 2015 und März 2016 das einzige Tor auf der Route Richtung Norden waren. Wir alle, die Ankommenden und die hier Lebenden, haben damals historische Momente erlebt. Ich weiß, dass viele von uns diese Zeit niemals vergessen werden, die von überwältigender spontaner Solidarität aus der Bevölkerung, unglaublich wirksamer Selbstorganisation und Menschlichkeit geprägt war. Niemand von uns hätte damals vermutet, wie sich das Ankommen über die Balkanroute im Laufe der Jahre verändern sollte, wie stark behördliche Gewalt gegen Kriegs- und Krisenüberlebende an innereuropäischen Grenzen für uns zum Thema werden würde und dass viele aus der lokalen Bevölkerung so konsequent an ihrer solidarischen Grundhaltung festhalten würden. Für uns hier an der Grenze waren es sehr intensive Jahre mit vielen wertvollen Erfahrungen.
ausreißer: Diese Fähigkeit zur Solidarität und zur Selbstorganisation hat wohl auch politische Vertreter*innen zunächst einmal überrascht − welche Reaktionen hast du von Verantwortungsträger*innen 2015 unmittelbar erlebt?
Leschanz: Vor 8 Jahren waren wir, die so gut wie täglich an der Grenze bei den Ankommenden waren, immer wieder erstaunt über die Kommentare und die Haltung politischer Entscheidungsträger*innen, die sich selbst nur an der Grenze blicken ließen, wenn TV-Kameras dabei waren. Ich erinnere mich noch gut an den Besuch der damaligen Innenministerin Mikl-Leitner in Spielfeld. Sie hat, anders als wir, nicht die Nähe zu den ankommenden Menschen gesucht. Sie hat uns Helfenden aus der lokalen Bevölkerung nicht zugehört. Die Innenministerin stand in einem teuren Mantel warm eingepackt im Kreise der Einsatzleiter von Polizei und Bundesheer, während nur 50 Meter weiter Mütter mit Babies schutzlos auf dem kalten Asphalt vor den Spielfelder Zelten sitzend auf den Weitertransport in Bussen warteten. Vor diesem Szenario schaute die Innenministerin offenbar auch mit großem inneren Abstand über die Menschen hinweg und tätigte ihren historischen Ausspruch: “Wir müssen die Festung Europa bauen”. Mir fällt es schwer, mir vorzustellen, dass Entscheidungsträger*innen, die in unmittelbarer Nähe völlig wehrloser Menschen derartiges über die Lippen bringen, Entscheidungen im Sinne der Bevölkerung treffen können. Da fehlt es ganz grundlegend an Empathie.
ausreißer: Diese Empathie ist seither nicht mehr geworden, im Gegenteil, die “Festung Europa” wird täglich manifestere Realität. Die Zelte in Spielfeld wurden nie abgebaut, sondern im Herbst/Winter letzten Jahres wieder “in Betrieb” genommen − wieder kamen Geflüchtete in Österreich an und wurden in die, zunächst ungeheizten, Zelte gewiesen, wieder ließ man es an grundlegender Versorgung mangeln. Was für eine Entwicklung hat da politisch und gesellschaftlich stattgefunden?
Leschanz: Ich halte es für ganz wichtig, immer wieder bewusst einen Schritt zurück zu treten und sich diese grundsätzliche Frage zu stellen. Was ist das heute für ein offizielles Europa, dass sehenden Auges schutzsuchende Menschen im Meer ertrinken lässt, während Boote der Küstenwache in Reichweite sind; das wehrlose Menschen an Grenzzäunen prügelt und foltert und in den Wäldern der Balkanroute verdursten und erfrieren lässt. Diese Dimension von Missachtung menschlichen Lebens erinnert an dunkelste Zeiten. Nicht von ungefähr kommt die Energie jener, die an den Grenze den Ankommenden zur Seite stehen, nicht nur aus einer humanistischen, sondern auch aus einer klar antifaschistischen Grundhaltung. Menschliche Werte werden heute in Europa von einer vielgestaltigen Zivilgesellschaft hochgehalten. Doch der Abgrund, der sich zu den richtungsweisenden Entscheidungen auf politischer Ebene auftut, könnte kaum größer sein. Die Kluft, die sich hier öffnet, erscheint nicht nur aus demokratischen, sondern auch aus rechtsstaatlichen Überlegungen sehr bedenklich für unsere Gesellschaft an sich.
Behördliche Gewalt gegen wehrlose Menschen ist in den letzten 8 Jahren in Europa absolut normalisiert worden. Das bereitet mir große Sorge.
ausreißer: Du hast angesichts dieser Entwicklungen Initiativen wie Border Crossing Spielfeld und Pushback Alarm Austria mitbegründet, die sowohl auf individueller wie struktureller Ebene aktiv sind. Was kann jede*r Einzelne bzw. eine Zivilgesellschaft aktuell tun? Bzw. wo siehst du die Verantwortung von Medien in dieser Situation?
Leschanz: Dass Menschen im Winter in Spielfeld bei Minustemperaturen wochenlang in Zelten ausharren mussten, war Ausdruck davon, dass Kriegs- und Fluchtüberlebenden in Europa zunehmend ihr Menschsein abgesprochen wird. Dass es Menschen abgesprochen wird, dass sie Kälte, Hunger, Schmerz und Angst empfinden, wie jede*r andere auch. Die bewusst unzureichende Versorgung mit Nahrungsmitteln, Kleidung und medizinischer Behandlung in der Wartezone Spielfeld entspricht dieser Grundhaltung.
Dass die Zivilgesellschaft das so nicht stehen lassen konnte, war klar. Jeder Teller warmer Suppe, jedes Paar Schuhe, das wir bei den Zelten verteilt haben, jedes Lächeln, das Ankommende und Helfende verband, wurde damit zu einem politischen Akt. Wir lassen nicht zu, dass Menschen ihr Menschsein abgesprochen wird. Und diese Botschaft ist in Spielfeld bei den Ankommenden, über alle sprachlichen Barrieren hinweg sehr unmittelbar und mit großer Begeisterung wahrgenommen worden.
Die syrischen, jemenitischen und afghanischen Kriegsüberlebenden, aber auch die jungen tunesischen, algerischen und marokkanischen Arbeiter kamen aus der Erfahrung wochen- und monatelanger Entrechtung, sie wurden auf der Balkanroute gejagt, mussten sich verstecken wie die Tiere im Wald, hatten unter unmenschlichsten Bedingungen im Dreck in Wäldern und Abbruchhäusern überlebt, jeder Kontakt zur Bevölkerung unterwegs konnte Hilfe oder Auslieferung an die Polizei bedeuten. In Spielfeld einen Teller Reis gemeinsam zu essen, mit den Nachbarskindern Fußball zu spielen, oder sogar gemeinsam ein Fest zu feiern, wie wir das zweimal gemacht haben, war für alle ein unvergesslicher Moment: Es bedeutete, in ein Leben als Mensch zurück zu kehren.
Wertvolle Initiativen wie Border Crossing Spielfeld und Pushback Alarm Austria mitbegründen zu können, ist natürlich ein großes Glück. Es bedeutet, andere gefunden zu haben, mit denen gemeinsam vieles möglich wird. Es bedeutet auch, mit großartigen Menschen etwas auf die Beine stellen zu können, wirksame Impulse zu setzten, dem Status Quo nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Ich denke, dass jede und jeder sich glücklich schätzen kann, der die Möglichkeit hat, sich selbst und die eigenen Fähigkeiten einbringen zu können. Bei mir hat das aufgrund meines juristischen Hintergrundes natürlich auch häufig mit der rechtlichen Überprüfung behördlichen Handelns zu tun. Dank mutiger Balkanroutenüberlebender, die das nötige Vertrauen in die österreichische Justiz hatten, konnte in den Jahren 2016, 2021 und 2022 mit der Unterstützung durch Border Crossing Spielfeld bzw. Pushback Alarm Austria polizeiliches Handeln an der südsteirischen Grenze am Grazer Landesverwaltungsgericht auf den Prüfstand kommen. Wenn in den Urteilen ein österreichisches Gericht wiederholt feststellt, dass Pushbacks illegal sind und dennoch an der österreichischen Grenze „teils systematisch Anwendung finden“, dann sind das wichtige Signale, die das Recht auf Asyl, aber auch das Funktionieren des Rechtsstaates an sich schützen.
Unserer Erfahrungen der vergangenen Jahre in Spielfeld zeigen, dass jede*r etwa tun kann. Jede*r kann sich nach den eigenen Erfahrungen und Möglichkeiten zivilgesellschaftlich einbringen. Das kann sich in rechtlicher Unterstützung manifestieren, oder darin, dass man den eigenen Freundeskreis nach Kleiderspenden abklappert, mit 100 Litern warmer Suppe zur Grenze fährt, den eigenen Schuppen als Spendenlager zur Verfügung stellt, die Geschehnisse an der Spielfelder Grenze fotografisch dokumentiert, im eigenen Wirkungskreis öffentlich thematisiert, das an der Grenze Menschen frieren, Wundversorgung organisiert, weil man darin Erfahrung hat, oder in einem Zugabteil seine Jause mit denen teilt, die gerade ausgehungert nach Spielfeld geschickt werden. Auch Journalist*innen können viel tun: Sie ermöglichen einem großen Kreis von Menschen das Hinsehen, sie können jenen eine Stimme geben, die sonst keine haben. Wir waren und sind allen Menschen sehr dankbar, die in Spielfeld hinschauen.
ausreißer: Danke dir fürs Interview – und vor allem für dein Dasein und Handeln!