Öffentlicher Über/Lebensraum

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Evelyn Schalk ◄

Öffentlicher Raum als Lebensraum, Überlebensraum. Ausbruch und Freiraum. Erweiterung und Entkommen. Oder das Gegenteil davon. Fluchtraum. Zufluchtsraum. Angstraum. Sich Aussetzen und verstecken wollen. müssen. Gefahrenzone. Behaupten von Sichtbarkeit. Risiko. Für sich. Für alle. Wieder-, Rück-, Ersteroberung. Strategie und Protest. Mut und Resilienz. Immer wieder, über Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte. Gebauter Machtraum. Zerstörter Rückzug. Verkaufte Demokratie. Sicherheit für wen und auf wessen Kosten? Wer kontrolliert, wer wird kontrolliert? Welche Uniform/ierung trägt und erträgt mensch stadt raum sein? Wer definiert – Sicherheit?

Sich einschreiben, erschreiben, verschreiben, an Grenzen entlang, über sie hinweg die eigenen ziehend. um zu sein. Öffentlichkeit und freie Wahl, ewige Utopie oder endlich/e Realität? Schritte setzen auf Schichten, Generationen von Bewegungen und Spuren, in diesem Moment. Linien über die Städte, durch Kontinente. Verbindung und Bruch. Einander sehen. Handreichung, das Crescendo leiser drehen für die, deren Stimmen die Beschallung nicht übertönen. Mit jenen sein, die sich ihren Raum nicht oder nicht mehr erstreiten können, Alter und Körper, Ebenen und Fallstellen. Orientierung geben, wissen, wollen, können wohin – möglich machen von Entscheidung, leben, miteinander.

Grenzen ziehen für alle, die keine kennen außer den gekauften, Seinsraum schaffen für jene, die ihn am dringendsten brauchen. Keine unsichtbare Hand kreiert Öffentlichkeit, wie Markt. Nur die ausgestreckte. Oder zur Faust gereckte. Wortweise Widerstand, Übersetzung und Vielfalt, gebrochen im Austausch, Kommunikation und Sprache/n jenseits der Wände, die Leistbarkeit voraussetzen. Jenseits der Verschiebung von Verantwortung in Privaträume, Familienkonstrukte, Wohnzimmerabschottung. Machtverschiebung im Gesellschaftsgefügte.

Experimentierraum und Kunstraum, Scheitern dürfen und Bewahrung abseits von Vermarktung. Den Blick weiten, schweifen lassen, das Sehen, Verstehen verändern, öffnen, möglich machen. Die Grenzen des Bestandes verwischen – ist das die ultimative Provokation, die Panik der Besitzenden? Die Verhältnisse in Frage und auf die Straße stellen, die Ungleichheit sichtbar, hörbar, fühlbar machen, statt sie in trostlosen Zimmern ruhig zu halten. Immer noch, immer wieder. Oder irgendwann nie mehr wieder.

Ort von Erinnerung und Zukunft. Jetzt, im Moment. Mehr haben wir nicht. Wir, wer, alle.

Geborstener Asphalt, von der Hitze, von der Wurzel darunter, von den Schritten darüber? Jenseits des Niederhaltens, jenseits rollender Zementierung von Untergang. Das Flüstern der alten Platanen. Nicht Fallen lassen. Den Fluss rauschen hören oder das Meer, die Stimmen, die nie mehr laut werden, die Stimmen die keine Minute schweigen, Raum diesen Stimmen, in der Stadt, auf Papier, im Netz, hinter den Tasten.

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Diese ausreißer-Ausgabe erscheint als Doppelnummer und veröffentlicht einerseits die lange erwarteten Beiträge der Lesung letzten Sommer im Rahmen des Leslie-Open Programms in Graz.

„Es begann mit dem Fehlen. Von Themen, Raum, Zugänglichkeit, Augenhöhe. Von Menschen. In Medien, Literatur, Stadtraum, Kunst, Diskurs, Kommunikation – Öffentlichkeit. Was oder wer nicht als Story verkaufbar ist, existiert nicht am Markt der Möglichkeiten. (Aus: ausreißer-Editorial, Ausgabe #100 & Lesungseinladung) Pandemie und Krieg haben die Lage massiv verschärft, gehört wird, wer am lautesten brüllt. Als nicht-kommerzielles Medium versucht der ausreißer, dem Fehlen Präsenz entgegen zu schreiben: in Stadt, Sprachraum, Arbeit und Zeit. Aber welche Öffentlichkeit braucht es – als Gesellschaft und für jede*n Einzelne*n, zwischen Urbanität und Intimität, Überforderung und Banalisierung, Unabhängigkeit und Teilhabe, für notwendige Widerstände?”

Damit setzten sich die Texte von Ines Aftenberger, Eli Krasniqi, Martin Murpott, Leonhard Rabensteiner und Gerhard Ruiss im Rahmen ihrer Präsentation auseinander. Hier sind sie nun – zum Teil aktualisiert – nachzulesen, zu denken, zu diskutieren. Zudem interagieren sie innerhalb dieser Ausgabe zum Teil mit neuen Beiträgen, denn genau darum geht es im öffentlichen Raum, im städtischen wie im gedruckten: um Teilhabe, Diskurs, Interaktion auf Augenhöhe. Utopie? Im Laufe der Monate sind zahlreiche weitere Texte entstanden, ein Kaleidoskop an Perspektiven so vielfältig wie die Thematik und der Raum selbst, aber auch Entwicklungen, etwa im Grazer Stadtraum, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet werden.

Eines zeigt sich jedoch immer und immer wieder: Öffentlicher Raum ist nur so zugänglich, wie die Gesellschaft, dessen konstitutiven Teil er darstellt.

Die Realisierung dessen, was der Begriff meint, diese Utopie eines Raumes gleichermaßen für alle, würde jene Revolution und dauerhafte Änderung der Verhältnisse nicht nur abbilden, sondern tatsächliche Gleichberechtigung bedeuten und schaffen – genau deshalb stößt jeder Schritt in diese Richtung auf so massiven Widerstand der Verteidiger des Bestehenden. Und genau deshalb bleibt jeder einzelne dieser Schritte umso notwendiger.


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