Wir gehen nach Berlin

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Martin Murpott ◄

Hermann’s Orgie – Wir gehen nach Berlin
“Männer in Uniformen
Gehen auf und ab
Mauern und Stacheldrähte
Gewehre auf dem Dach
Ein Stückchen Zukunft heute Morgen
Ein Stückchen Zukunft heute Morgen
Wir gehen nach Berlin, wir gehen nach Berlin“

Berlin ist es dann doch nicht geworden, als ich an einem milden Frühlingstag des Jahres 2005 der obersteirischen Provinz entschwand, um mein Glück in der großen, weiten Welt zu suchen. Genau genommen wurde es noch nicht einmal Deutschland, sondern das rechte Murufer der gleichermaßen schönen wie schön spießigen Stadt Graz. Schanzenviertel, Kreuzberg-Friedrichshain oder Exarchia in Athen? Wird doch alles überbewertet, wenn ihr mich fragt. 8020 in the Hood and Lendplatz for life, Oida!

Tja, was soll man sagen? Seinerzeit war halt wirklich alles viel besser, und bevor jetzt ein gelangweiltes Raunen durch das Publikum geht oder ihr mich als Großfürst des Boomertums beschimpft: Zumindest bilde ich es mir bis heute ein! Mit Anfang-Mitte 20 hing ich gewissermaßen noch dem naiven Glauben an,  der öffentliche Raum von „Glourious Gradec“ sei wie geschaffen dafür, um ihn zu meiner ganz persönlichen Spielwiese zu machen. Insbesondere der Erzherzog Johann-Brunnen am Hauptplatz, Zeit seines neumodernen Lebens Anziehungspunkt für Pöbel jeglichen Couleurs, war anfängliches Ziel eigener Neugierde. Damals noch mit ebenso dichten wie buntgefärbten Haaren, lächerlich karierten Hosen, klischeeentsprechenden Stiefeln sowie einer viel zu schweren Lederjacke, hätte er vermutlich auch mir eine passende Bühne geboten. Doch die bereits seit 2003 andauernde nagl’sche Schreckensherrschaft der ÖVP, gleichermaßen einzelhandelsfreundlich wie subkulturfeindlich, trug bereits ihre ersten Früchte der Vertreibung. Und das sogar fast im wahrsten Sinne des Wortes. Genaugenommen waren es Betonkisten mit nur wenig ästhetischen Pflanzen und Blumen, die so sittsame Gestalten wie unter anderem mich davon abhalten sollten, hier grölend ihr wohlverdientes Büchsenbier zu bechern. Entgegen jeglicher städteplanerischen Vernunft und Kreativität, ließ der gute Mann die Dinger doch tatsächlich rund um des Erzherzogs Antlitz drapieren. Der Schikane nicht genug, bekam unser ehemaliger Bürgermeister der bourgeoisen Herzen dabei noch fleißig Unterstützung durch die bis dato ebenfalls tiefschwarze Landesregierung.  Diese fühlten sich nämlich kurz davor bemüßigt, gleich ein dazu passendes Landessicherheitsgesetz zu beschließen. Selbiges erklärte Personen – und ich zitiere – „die Einrichtungen, wie insbesondere Denkmäler und Brunnen in anstößiger Weise nützen“ mal eben so zu einer Anstandsverletzung. An Absurdität nicht zu überbieten, konnten nun die Bullen jene unangepassten Trinkerinnen, die sportlich genug waren, die Betonkisten zu überklettern oder zu umstolpern, schlicht und einfach wegweisen. Untermauert wurde dieser klassenfeindliche Unsinn dann zwei Jahre später sogar mit einem zusätzlichen und generellen Alkoholverbot am gesamten Grazer Hauptplatz. Während also im Gastgarten vom Wirten gegenüber weiterhin die Sektgläser klirrten, hatte man dem unkommerziell saufenden Pöbel zu guter Letzt endgültig den Stecker gezogen. Warum der öffentliche Konsum von Alkohol im Bundesland der Weinberge, Zirbenstrome, Hopfenäcker und Zeltfestdome ausgerechnet in Graz zum Negativthema Nummer Eins wurde, konnte mein naiver „Graz ist eine Weltstadt“-Geist damals nur bedingt erfassen. Böse Zungen jedoch behaupteten schon von Anfang an, dass dies tatsächlich einzig und allein der angrenzenden Pseudonobelgastronomie, den überteuerten innerstädtischen Einzelhändlern sowie den potentiell kauffreudigen Touris geschuldet war.  In einer Symbiose des Anstandes konnten nun alle drei letztgenannten Gruppen wieder anstandslos Geld, Waren und diversen Sprudel zum fünffachen Hoferpreis um die Wette zirkulieren lassen.Eine gar nicht so kleine Partie an alteingesessenen Non Profit-Tschecherantinnen karikierte Nagls Repressionen dadurch, dass sie die Stätte ihres Wirkens einfach 25 Meter weiter nach hinten verlagerte. Genaugenommen setzte der illustre Trupp sein Tagwerk einfach rechts neben dem sogenannten Billa-Eck unbehelligt fort, allerdings ohne dabei aus dem abwertenden Blickfeld der Bürgis und Touris zu geraten. Bedauerlicherweise für Polizei beziehungsweise später dann Ordnungswache, befand sich der neue Standort wundersamer Weise knapp außerhalb der Verbotszone, was die Amtshandlungsmöglichkeiten der uniformierten Störenfriede auf das Aufblasen schlecht verarbeiteter Schuhe reduzierte. Das Match „Allgemein genutzter öffentlicher Raum versus sterilem Stadtbild“ blieb also spannend!

Aber sagte ich vorhin tatsächlich „Ordnungswache“? Ja, ich denke das tat ich! Angesichts der hiesigen Verbrechensrate in Graz verkamen selbst Städte wie Caracas, Wien oder Tijuana zu einem von Althippies geführten Streichelzoo. Neben ihrem alltäglichen Kampf gegen diverse Gangsterbanden, internationalen Drogenkartellen oder globalen Terrororganisation war es der Polizei kaum zumutbar, auch noch eine vierte Front gegen den Alkoholkonsum auf öffentlichen Plätzen zu führen. Es wurde also nach einer Möglichkeit gesucht, diese undankbare Aufgabe an ein Organ mit noch niedrigerem Anforderungsprofil zu delegieren. Im selben Jahr, als der GAK in sein erstes Konkursverfahren schlitterte, ein Team israelischer Archäologen nach 35 Jahren Suche das Grab von Herodes entdeckte und Steven Lynn Beshear in Kentucky Gouverneur wurde, erblickte ebenso die allseits beliebte Grazer Ordnungswache das Licht der Welt. Zufall? Ich denke schon! Nichtsdestotrotz wäre es zu kurz gegriffen, diese schwarzbekappte Dienststellenperle des Magistrats auf das Aufklatschen von deviantem Trinkertum zu reduzieren. Um ihrer Bestimmung gerecht zu werden, die laut Eigendefinition daraus bestand, „für ein geregeltes Miteinander und mehr Sicherheit zu sorgen“, hatte sie nämlich drei weitere brandgefährliche Gruppen im Visier: die Bettlerinnen, die Radfahrerin nen und die Hundehalterinnen!

Das Hinhacken auf die oftmals aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks stammenden Bettlerinnen ergab sich aus der Logik unserer volksparteilichen Menschenfreunde heraus von selbst. Sie passten genauso wenig in das potemkinsche Touristendorf der Konservativen, in dem Armut, Sucht oder Arbeitslosigkeit maximal hinter den Kulissen ersichtlich sein durfte. Wer ohne schlechtem Gewissen ungehemmt durch die Straßen flanieren konnte, gab in der Regel auch die bessere Kundschaft für die lokalen Handelstreibenden ab, und das war die ÖVP ihren Wählerinnen wirklich schuldig. Diese Vorgehensweise wiederum hätte ebenfalls wenige Jahre später durch ein Landegesetz bis zum bitteren Ende legitimiert werden sollen. Dem eines allgemeinen Bettlerverbots. Glücklicherweise stufte zumindest der Verfassungsgerichtshof selbiges als Verstoß gegen die Menschrechtskonvention ein und hob es letztendlich in dieser Form wieder auf. Kommen wir also zum personifizierten Bösen des Mobilitätsgedanken. Dem Schrecken aller ÖMV-Tankstellen, der Geisel aller alten, weißhaarigen Männer mit Krückstock, der Plage aller SUV-Fahrer mit vermindertem Schuldbewusstsein. Kommen wir zu den Radfahrerinnen! 

Queen – Bicycle Race
“So look out for those beauties, oh yeah
On your marks, get set, go
Bicycle race, bicycle race, bicycle race
Bicycle, bicycle, bicycle
I want to ride my bicycle, bicycle, bicycle, bicycle
(I want a) bicycle race”

Ich räume an dieser Stelle ein, bloß zu Unterstellen, dass die Ordnungswache ihr drittes Hauptaugenmerk auf die zahlreich hier herumdüsenden Pedalritterinnen gelegt hatte. Zumindest aber fand meine eigene Konfrontationspremiere mit den dunkelgekleideten Organstrafschergen auf einem stinknormalen Drahtesel statt. Für Grazerinnen gibt es zwei plausible Gründe, um mit ihren Rädern durch die öffentlichen Parks der selbsternannten Murmetropole zu flitzen. Einerseits, um dem alltäglichen Wahnsinn der anticyclistischen Verkehrsinfrastruktur zu entgehen, wo nach wie vor das Recht des stärkeren galt. Anderseits, um bestimmte Ziele des sozialen Austausches im Park selbst anzusteuern, die sich meist irgendwo abseits auf einer schattigen Wiese befanden. Die Krux an der Sache jedoch war, dass die meisten Durchquerungswege sogar bei ausreichender Breite gar nicht befahren werden durften, was allerdings die Masse der Biker geflissentlich ignorierte.  So radelte ich eines sonnigen Nachmittages im Augarten der geschotterten Spur entlang, als plötzlich ein korpulenter Ordnungswächter wie vom Teufel besessen begann, von einer angrenzenden Grünfläche in meine Richtung zu sprinten. Nachdem er sich rechtswinkelig zu meiner angedachten Route in Position gebracht hatte, vollführte er einen lupenrein ausgeführten Dreisprung und hob ab. Wie Boris Becker in seinen besten Zeiten, hechtete er mir mit festsitzender Kappe vor das Vehikel. In weiterer Folge war es meiner ausgezeichneten Reaktion in Verbund mit einem waghalsigen Wendemanöver zu verdanken, dass es zu keinem schwerwiegenden Unfall kam.  „Absteigen, Ordnungswache! Haben sie einen Ausweis?“ schrie mir der möglicherweise Wahnsinnige nach. „Stehen bleiben oder ich rufe die Polizei!“. Die Trittfrequenz erhöhend, flüchtete ich in entgegengesetzte Richtung zur nördlichen Ausfahrt des Parks, nicht jedoch ohne mich zuvor noch einmal umzudrehen und dem Ordnungswächter den Finger zu zeigen. Zumindest für den Moment war das gemütliche verweilen in der innerstädtischen Natur des Augartens erst einmal gestorben.

Das mit den Radfahrerinnen musste wohl etwas persönliches gewesen sein, denn die Verletzung der Sicherheit war im Wesentlichen durch die Wächter provoziert, eine Anstandsverletzung hingegen nur mit äußerst lebhafter Fantasie zu konstruieren. Sei es drum, denn der letzten brandgefährlichen Gruppe im Visier der Ordnungswache soll gleichermaßen ihr verdienter Platz in diesem Beitrag eingeräumt werden. Klar kann man darüber diskutieren, ob Hundebesitzerinnen autonom darüber entscheiden sollten, ob sie ihre Köter an der Leine lassen oder nicht. Zumindest schien es aber in vielen wirklichen Großstädten so gut zu funktionieren, dass die Cops sowie deren untergeordneten Handlanger bei weitem öfters ein Auge zudrückten, als hier in Graz. Dreifachbetroffene wie ich (Radfahrer, Öffentlichkeitstrinker, später dann Hundebesitzer) bekamen die Wörter „Anleinen“, „Verboten“ und „Absteigen“ über die Jahre so oft zu hören, dass wir nachts schon davon träumten. Trotz eingeschränktem Sprachschatz waren die Magistratsangestellten endgültig zum lästigen Dauerzustand geworden – immer versucht, den öffentlichen Raum in ein spießbürgerliches Korsett zu zwängen. Wer jetzt annahm, dass aus einer vermehrten Präsenz der Ordnungswache eine verringerte Präsenz der Polizei resultierte, lag damit bedauerlicherweise falsch. Da sich die Bullen nun wieder voll und ganz dem Kampf gegen illegale Drogen widmen konnten, den es vornehmlich in allgemein zugänglichen Parkanlagen auszufechten galt, sah man sie bald öfters als zuvor. Natürlich wäre es ein Irrtum gewesen, davon auszugehen, dass im Zuge der wiederkehrenden Razzien an den bekannten Hotspots die großen Fische an Land gezogen wurden. Viel eher landeten vornehmlich migrantische Kleindealer zappelnd im Netz, die nach ihrer Flucht aus diversen Kriegs- & Krisengebieten oft jahrelang weder Status noch Arbeitserlaubnis erhielten, aber halt trotzdem von irgendwas leben mussten. Die dazugehörigen Kleinkäufer wiederum wurden zwar regelmäßig mitgefilzt und aufgeschrieben, kamen dabei allerdings aufgrund meist lächerlicher Mengen im Regelfall glimpflich davon. 2019 schließlich erklärte man dann in weiterer Folge die betreffenden Gebiete per Verordnung ohnehin zu sogenannten „Schutzzonen“.  Nachdem sich die Drogenkriminalität deswegen teilweise in Hinterhöfe oder Wohnungen verlagert hatte, und die Grazer Polizei selbstbewusst von einer „Stärkung des Sicherheitsgefühls“ schwadronieren durfte, galt die Sache bis auf weiteres für gegessen.

Male – Polizei
„Polizei, Polizei
Unbestechlich und gerecht
Polizei, Polizei
Mißbraucht niemals ihre Macht
Ich und du, wir können machen
Was wir (was wir was wir was wir) wollen
Ich und du, wir können machen
Was wir (was wir was wir was wir) wollen“

Abseits der diversen Parks oder des Erzherzog Johann-Brunnens behielten auch einige quasiöffentliche Räume ihren ewigen Platz in meinem ernüchternden Herzen. Einen davon kann oder besser gesagt darf ich euch nicht vorenthalten: Das „alte“ Jugendkulturzentrum Explosiv beim Volkshaus der KPÖ in der Lagergasse 98a im Grazer Griesviertel! Manche von den hier zahlreich erschienen Zuschauerinnen werden sich jetzt völlig zu Recht fragen: Warum eigentlich quasiöffentlich? Tja, wie der Name schon vermuten lässt, war das alte „Explo“ primär ein Veranstaltungsort für ebenso großartige wie zahlungspflichtige Konzerte. Abgesehen davon also, dass die meisten Bands für wenigstens ein bisschen Gage zu spielen pflegten, stand es für die Mehrheit der Grazer Musikfreunde offen. Gesegnet mit einem zum Abhängen geeigneten Vorhof, entwickelten sich außerhalb der heiligen Erdgeschosshalle ebenfalls regelmäßige Zusammenkünfte. Nicht an den Besitz einer Eintrittskarte geknüpft, waren diese zwar meist friedlich, jedoch oftmals relativ laut. Dass diese Zusammenkünfte normalerweise recht gewaltfrei von statten gingen, mag vielleicht damit verbunden sein, dass die Cops dort eher zurückhaltend agierten. Manchmal kam es trotzdem vor, dass die frommen Gesetzeshüter in einem Anfall von Übermut flüchtige Terroristen, Fahrraddiebe oder Gott weiß wen ihm Publikum vermuteten. Wenn das geschah, rückte man dafür wenig deeskalierend mit der gesamten Kavallerie aus, um notfalls unter Einsatz von Schild, Helm und Gummiwurst die Interessen der Justiz zu wahren. Ein stetiger Tropfen des Lärmes höhlte den Geduldsstein der spaßbefreiten Anrainerschaft, was letztlich dazu führte, dass das Explosiv von einer coolen Gegend in das seelenlose Gewerbegebiet des Hauptbahnhofes umgesiedelt wurde. Die wenigen Veranstaltungen, die der unglücklich gewählten Location nach wie vor einen Hauch des ursprünglichen Charmes verleihen konnten, wie beispielsweise die kongenialen DJ-Settings mit Romeo Ried und mir, verkamen vom monatlichen Standard zur monatlichen Mangelware.

All das ist lange her. Frustriert von den gesellschaftspolitischen Zuständen der Stadt, beschloss ich durch das Schreiben von zwanzigminütigen Lesebeiträgen ohne abschließende Conclusio reich zu werden. Dies ermöglichte mir einen standesgemäßen Rückzug ins Private, fernab jeglicher Last des öffentlichen Lebens oder was man hierzulande dafür zu halten schien. Inzwischen sitze ich lieber im Westflügel meines am Ruckerlberg gelegenen Herrenhauses, trinke Dom Pérignon aus goldumrandeten Kristallgläsern und höre Mozart. Manchmal genehmige ich mir eine Cohiba Behike dazu oder lasse mir von meinem nordwalisischen Butler eine vierstündige Fußmassage gönnen. Auftritte dieser Art lege ich mehr aus Langeweile denn aus ökonomischer Notwendigkeit hin, wobei das üppige Honorar der Ausreißerinnen keinesfalls zu verachten ist. Hätte ich meinem Chauffeur nicht versprochen, dass er pünktlich um 21:00 Dienstschluss machen darf, wäre ich für dieses Event möglicherweise auf das eine oder andere Interview geblieben, hätte Autogramme gegeben und mich für Erinnerungsfotos zur Verfügung gestellt. Vielleicht war ja früher wirklich alles besser, denn was durchleben wir für furchtbare Zeiten, wenn nicht einmal mehr die amtierende Stadtregierung als Feindbild dienen kann… 

Normahl – Bandiera Rossa
“Avanti popolo, alla riscossa
Bandiera rossa, bandiera rossa
Avanti popolo, alla riscossa
Bandiera rossa trionfera
Bandiera rossa trionfera
Bandiera rossa trionfera
Bandiera rossa trionfera
Evviva socialismo e liberta“