Die tiefen Spuren einer Suche

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Dilan Canbaz ◄

Ich war andauernd auf der Flucht vor dem Elend des Seins, Schrecken des Krieges. Schon früh genug, mit 17, begab ich mich monatelang von Afghanistan in die Türkei. Der Tod lauerte weit und breit, versetzte mich ununterbrochen in Panik. Mit vollem Eifer und eiserner Energie wollte ich dennoch aus diesem bedrohten Zustand und – schneller als alle anderen Geflüchteten – Griechenland und anschließend ein weiteres europäisches Land, in dem ich endlich in Ruhe und Hoffnung leben könnte, erreichen. Ich musste mich an einem Wettbewerb voller Risiken, Überraschungen, Abenteuer und an einer Tat von erschreckender Brutalität beteiligen: Ich wurde mehrmals verhaftet, gefoltert und pausenlos gedemütigt. Jedes Mal dorthin zurück, wo ich begonnen hatte, abgeschoben, und das, weil ich nichts mit dem Krieg zu tun haben und in Frieden leben wollte. Das war mein einziges Verbrechen. Das ständige Hin und Her und die Zwangslage trugen ohne Zweifel dazu bei, mich schnell wie betäubt zu fühlen. Anders ging es leider nicht.

Als ich Griechenland schließlich erreichte, ging mir das Geld aus. Ich hatte nur mehr 100 von 600 Dollar, die ich zu Beginn meiner Flucht besaß. Um jedoch nach Italien zu gelangen, hätte ich 2.000 bis 4.000 Dollar benötigt. Dafür hätte ich – ohne Papiere – jahrelang arbeiten müssen. Ich schlief auf Straßen und in Parks und habe bestimmt täglich einmal versucht, im Hafen von Patras in Griechenland auf einem Frachter nach Italien zu gelangen. Ich wurde also mit 19 zu einem guten Kletterer, zu einem Lebenskünstler, Menschenkenner und letztendlich zu einem Kerl, der für seine Befreiung aus dem Krieg gewiss mehr Festnahmen als jeder andere Junge dieser Welt erlebte und für diese Freiheit oft genug im Gefängnis sitzen musste.

Einmal gelang es mir, mich unter einem Lkw-Auflieger zu verstecken. Ich war klein, inzwischen sehr dünn, passte gerade dort in diesen Zwischenraum auf der Achse hinein. Nie hatte ich, trotz all meiner schrecklichen Erfahrungen, soviel Angst wie in dieser Nacht auf dem Seeweg – in meinen Augen in Richtung Paradies – um mein Leben gehabt. Ich war überzeugt, dass ich das große Wagnis auf mich nehmen musste, um wirklich zu überleben. Es war Ende September, zwölf Uhr mittags, ich hatte zwei Tafeln Schokolade in einer meiner beiden Hosentaschen, die nicht ganz dicht waren, und eine kleine Flasche Wasser in der anderen. Unterwegs hielt ich die Flasche vorsichtshalber fest in den Händen, denn Wasser war mir wichtiger als Essen. In welcher Lebensgefahr ich mich auf diesem Weg nach Europa befand, konnte ich mir nie wieder vollständig ins Bewusstsein zurückrufen. Jede Art der menschlichen Vernunft hätte in dieser Sackgasse mein todesmutiges Vorgehen nur verhindert. Ich hatte seit einer Ewigkeit keine Geduld mehr gehabt und wollte vor dem nächsten harten Winter im Freien dem Leid endlich ein Ende setzen. Ich war das erste Mal in der Tat bereit, dem Tod zu begegnen, ihm im schlimmsten Fall gnadenlos ins Auge zu blicken, aber auf jeden Fall an ihm vorbeizugehen und ihm schließlich die kalte Schulter zu zeigen. Ich wollte mich um jeden Preis retten. Nie war ich dermaßen von Mut getrieben. In diesem Moment sah ich ausschließlich diese einzige Möglichkeit. Zurück konnte ich ohnehin nicht mehr.

Mein dunkelster Tag als blinder Passagier begann am nächsten Tag in Italien. Auf dieser Fahrt war ich gewiss unter Schock und stark unterkühlt. Ich hatte schon am Hafen von Venedig keine Kraft mehr, wollte eigentlich bei der ersten günstigen Gelegenheit schnell aussteigen. Der Lkw-Fahrer fuhr aber rasch weiter. Dieses Los musste auch ich tragen. Nach stundenlanger Fahrt in irgendeine Richtung Europas, in der ich zwischen Leben und Tod schwankte, notgedrungen im Dämmerzustand jedoch nichts verspürte, hielt der Fahrer endlich einmal an. Es war dunkel, ich erwachte, plötzlich überfielen mich unerträgliche Schmerzen, ich stieg sofort irgendwie aus, konnte wegen meiner versteiften Gelenke jedoch gar nicht loslaufen. Schleichend gelangte ich in das Gebüsch am Straßenrand und kam zwangsläufig nach einiger Zeit leidlich zu mir. In meinem verwirrten Zustand konnte ich nicht denken, fühlen oder sprechen und hatte keine Ahnung, wo ich war. Ich hörte Stimmen, es sauste noch heftig in meinen Ohren, aber ich konnte zwischen den Sprachen nicht wirklich unterscheiden. Ich sprach nur meine Muttersprache, konnte ein bisschen Griechisch und ein paar Sätze Englisch. Plötzlich war ich nicht einmal meiner Sprache Dari mächtig. Als ich nach zwei Tagen im Krankenhaus zu Bewusstsein kam, erfuhr ich, dass ich in Österreich war, unweit einer großen Stadt. Nach diesem Wettlauf zwischen Leben und Tod, all den Unmenschlichkeiten, Aufregungen, Hoffnungen und Verlangen, landete ich am Ende meiner langen Reise in Graz, erneut bei null, eigentlich bei nichts. Ich war nur am Leben. Mein Körper konnte sich trotzdem nie wieder von dem tödlichen Schreck erholen.

Graz war wunderschön, idyllisch. In dieser Stadt war alles geregelt, ordentlich und gerade, wie eine Linie. Die Straßen, die Häuser, die Parks, die Spielplätze und die Bäume waren auch gerade. Mir kamen sogar das Verhalten und die Gedanken der Menschen ebenso gerade vor, wie ihr Gang im Freien und ihre Haltung bei langen Schlangen. Es war schon gewöhnungsbedürftig.

Hier hatten manche Einheimische (vielleicht auch deswegen) große Angst davor, dass ein Ausländer wie ich ihnen diese gewohnte Ruhe und Idylle nehmen würde. Ich war doch kein Zauberer, verfügte nicht über solche Kräfte. Der Gedanke daran, ehrlich gesagt, machte mich anfangs meistens lustlos, oft apathisch. Der Fakt beruhigte mich, dass verängstigte Menschen, die blind großes Misstrauen gegen die ganze Menschheit hegten, auch hier wie überall in der Welt existierten. Nichts erfüllte diese Menschen trotz Wohlstand und Reichtum mit tiefer Zufriedenheit, sie beschwerten daher unermüdlich das Leben der Mitmenschen.

Trübsinnig fragte ich mich stets, ob die Harmonie zwischen Menschen jemals existierte. Meine Großmutter träumte ebenfalls ihr ganzes Leben von Freiheit und Frieden. Sie hörte nicht auf zu beten, hoffte jeden Tag, dass es einmal wieder so werden würde wie vor dem ersten Krieg. Sie schwärmte immer wieder davon und meinte stets: „Wir hatten nicht immer viel zu essen, aber genug zum Leben, wir liebten unsere Heimat und unsere Tradition, auch wenn diese nicht immer gerecht zu uns waren. Wir hatten trotzdem Frieden. Dann kamen die schweren Waffen, mit ihnen tauchte auch der Krieg auf. Niemand wollte zuvor freiwillig seine Heimat verlassen. Ich würde es auch jetzt nicht tun.“ Dies waren ihre letzten Worte. Ich habe sie nicht verstanden. Außer ihr spürte anscheinend niemand, wie zufrieden die Menschen tatsächlich vor dem Krieg waren.

Mit 22 wartete – oder hoffte – ich immer noch auf den positiven Bescheid meines Asylverfahrens. Die letzten Jahre des Wartens haben am Ende meine Wildheit gemildert. Ich war jetzt fein und zahm geworden, hatte jedoch weiterhin keine Wahl, frei wie ein Mensch zu leben. Zurück in die Heimat wollte ich auf gar keinen Fall, meine abenteuerliche Zeit war längst vorbei. Ich wartete also brav und tat möglichst alles, was die Menschen in dieser Stadt „verehrten“.

Mein Leben war dabei ebenfalls schlicht geregelt: Ich wohnte in einem Asylheim, in einem kleinen Zimmer, stand täglich zwischen 7 und 8 Uhr auf. Nach dem Frühstück ging ich zum Deutschkurs, nachher traf ich meistens meine Freunde aus der Heimat. Obwohl ich inzwischen gut Deutsch sprechen konnte, hatte es sich noch nicht ergeben, dass ich Freundschaften mit Österreichern aufbauen konnte. In meinem Heim, Kurs und im Asylamt waren nur Ausländer. Nach dem Abendessen telefonierte ich mit meiner Familie, und abends zwischen 22 und 23 Uhr ging ich wieder schlafen. Ich hielt mich sehr selten in einem Lokal auf, finanziell war das überhaupt nicht möglich. Das war aber kein Weltuntergang. Manchmal wünschte ich mir eine Freundin, aber in meinem jetzigen Zustand konnte ich einer Frau nichts bieten. Ich war froh, wenn ich mich selbst erhalten konnte. Bis jetzt hatte ich nur einmal Sex mit einer älteren Dame gehabt. Sie war viel zu alt für mich, trotzdem war ich überaus dankbar dafür. Ich half zwei Mal in der Woche einem alten Mann, Herrn Rahmani aus dem Iran. Für ihn kaufte ich ein, kochte und putzte seine Wohnung. Ich bekam 5 Euro pro Stunde, 40 Euro pro Woche. Wenn er sehr krank war, kam ich sogar auf 60 Euro. Das war gegen die Richtlinie. Die Hälfte des Geldes schickte ich meiner Familie und der Rest landete in meiner noch undichten Tasche. Ich lebte sparsam, sehr bescheiden. Ich musste immer sehr stark sein. Dieser Weg war kein leichter, er war sehr hart für mich. Ein paar Jugendliche konnten der heftigen Zerreißprobe nicht standhalten. Sie waren zu zart für diesen ständigen Nervenkrieg, verloren am Ende ihren Verstand. Sie wurden sofort zu ‘besonders gefährlichen Asylanten’ abgestempelt.

Als ich mit 24 den positiven Asylbescheid erhielt, war ich durch mein häufiges Kochen für Herrn Rahmani ein guter Koch geworden, kannte mich deshalb auch in den Lebensmittelgeschäften sehr gut aus und wusste, wo ich gute und trotzdem billige Angebote finden konnte. Außerdem blieb ich trotz der Ungewissheit und des Verzweifelns der letzten Jahre psychisch halbwegs stabil. Dank all dem wurde ich nach der Ausbildung ein guter Altenpfleger. Ich war nun auch überaus gehorsam geworden, mein Verhalten war ebenso sehr geradlinig geworden. Das gehörte natürlich zu dieser Tugend, die allgemein gültig und für alle solidarisch zu sein schien. Ich war zweifellos integriert, sonst hätte ich gewiss keine Papiere verdient. Manche Gönner erwarteten trotzdem noch mehr. Ich wollte aber auch hier leben. Diese Stadt war nicht nur wunderschön, in ihr hatte man anscheinend alles im Griff.

Nach vielen weiteren Jahren schaffte ich es endlich, österreichischer Staatsbürger zu werden. Ich hörte dennoch nie auf, ein Ausländer zu sein. Gegen dieses Gefühl konnte ich offenbar nicht viel tun. Ob ich wollte oder nicht, ob ich hier erwünscht war oder nicht, ich musste dableiben. In meinem Land gab es noch in jeder Ecke Waffen und Krieg, deshalb war es keine Wahl mehr für mich; für eine neue Heimat und eine erneute Flucht reichte meine Kraft aber nicht mehr aus.

Ich verstand schließlich meine Großmutter, warum manche Menschen, so wie sie, nie ihre Heimat verließen – leider viel zu spät. Es ging bestimmt nicht nur um die Heimat, sondern um viel mehr: Ein Flüchtling bleibt bis in alle Ewigkeit ein Flüchtling. Die einheimischen Augen sehen auch nach Jahrzehnten nur den Flüchtling.

Mein Schicksal ist eigentlich nicht so schlecht. Ich muss ohnehin dieses Leben einmal zu Ende leben. Das Ganze macht wahrscheinlich erst dann einen Sinn. Wo aber ist er, dieser menschliche Friede, von dem man weit und breit träumt und den man nirgends bekommt?

Ich glaube, die Welt ist hierfür zu schweigsam. Anscheinend bewegt sie sich mit ihrem Verhalten und ihren Gedanken nur auf einer geraden Linie, auf der sie auch ihre Fähigkeiten zur Einsicht und Wahrnehmung verloren hat. Meine Suche findet also nie ein Ende. Ich bleibe gern der ewige Flüchtling.