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Marie Luise Lehner ◄
Videostill: YouTube / literatur h aus graz

Eine Freundin arbeitet einen Winter lang im Nachtdienst beim Kältetelefon. Dafür schläft sie in einem Büro, in dem immer wieder ein Telefon klingelt, über das Passanten anrufen können, um zu melden, dass sie Menschen auf der Straße schlafen sehen, bei denen sie Angst haben, sie könnten dort erfrieren. Die Freundin hat eine Liste, nach der sie vorgehen muss, wenn sie so einen Anruf bekommt. Wenn der Mensch auf der Straße ärztliche Hilfe braucht, sagt sie die Öffnungszeiten und die jeweiligen Parkplätze des Minibusses durch, der in Wien die medizinische Versorgung für Obdachlose übernimmt. Nachts und am Wochenende hat der Bus geschlossen. Wenn es eine akute Notsituation gibt, empfiehlt sie den anrufenden Passanten die Rettung zu verständigen und wenn es nur darum geht, einen Schlafplatz zu finden, telefoniert sie nacheinander mit allen Notschlafstellen, die es gibt um herauszufinden, wo noch ein Platz frei ist und gibt die Adresse durch. Es gibt Menschen, von denen sie nach und nach weiß, sagt sie. Wegen denen immer wieder angerufen wird, die aber von dort wo sie schlafen nicht wegwollen. Eine Frau am Schottentor, zum Beispiel, sagt sie. Einmal ruft jemand wegen einer geflüchteten Familie mit zwei kleinen Kindern an. Die Freundin telefoniert mit allen Notschlafstellen der Stadt und es gibt nirgends einen freien Platz. „Ich habe nicht gewusst, was ich denen sagen kann“, sagt sie zu mir. In der Früh fährt sie mit der U-Bahn nachhause.

Das sogenannte „Winterpaket“ ist im Zuge der österreichischen Studentenproteste im Jahr 2009 ins Leben gerufen worden. Angesichts der großen Zahl der nächtigenden Obdach- und Wohnungslosen in den besetzten Hörsälen der Universitäten, wurden von der Stadt Wien Maßnahmen ergriffen, um diese in den Wintermonaten vor dem Erfrieren zu schützen.

Von November bis April gibt es seitdem jährlich Notquartiere, Wärmestuben und Tageszentren. Rund tausendvierhundert Menschen nutzten die Angebote diesen Winter, wodurch die Einrichtungen nahezu voll ausgelastet waren. Sobald die Gefahr des Erfrierens vorbei ist, werden die Menschen ab Mai wieder sich selbst überlassen.

Ein Student, der sich im Seminar vorstellt, sagt, er sei in Berkley aufgewachsen. Er wird gefragt, in welcher Straße er gewohnt habe. Er nennt einen Namen. „Da ist es nicht so schön“, antwortet der Professor. „Warum nicht“, fragt der Student, er habe schöne Kindheitserinnerungen an die Gegend. Der Professor antwortet, weil mittlerweile so viele Leute obdachlos geworden seien und dort auf der Straße leben. Man atme nicht gut, wegen all den Feuern der Leute, die in Zelten unter den Autobahnbrücken wohnen.

Ich stehe auf einer Kundgebung, auf der gefordert wird, dass die Notschlafstellen auch im Sommer geöffnet werden müssen. „Initiative Sommerpaket“ heißt die Aktion. Seit gestern haben die Notschlafstellen geschlossen. Es sprechen Menschen, die in Notschlafstellen arbeiten, in ein Megafon. Es spricht eine obdachlose Frau über versteckte Obdachlosigkeit von Frauen, für die es schwerer sei auf der Straße zu schlafen und die deshalb oft in gewaltgeprägten Abhängigkeitsverhältnissen leben würden. Sie spricht davon, wie sie durch ihre Obdachlosigkeit die Obsorge für ihr Kind verloren hat. Es spricht ein stark verkühlter Mann. Er ist mit einem Einkaufswagen gekommen, der randvoll mit Plastiksäcken beladen ist. Gestern sei die Notschlafstelle geschlossen worden und er habe draußen geschlafen. Es sei eiskalt gewesen. Während der restlichen Kundgebung sitzt er am Rand mit dem Gesicht auf den Knien und lässt den Rotz aus seiner Nase auf den Asphalt tropfen.

Mein Partner und ich sitzen im Kaffeehaus. Im Urlaub in den Bergen. An allen Tischen wird über Hamsterkäufe und über die ausgebrochene Krankheit gesprochen. Die alten Verwandten sagen, dass sie sich Sorgen machen. Ich weiß noch wenig. Ich sage, wenn es wirklich wie eine Grippe sei, würde ich mich nicht davor fürchten, sie einfach zu bekommen. Später verstehe ich, wie rücksichtslos es war, dass zu den alten Leuten zu sagen.

Wir sitzen im Zug am Weg zurück nach Wien. Ich lese am Handy die Information der Regierung, laut der jetzt keine Veranstaltungen mehr stattfinden sollen. Auf der achtstündigen Zugfahrt läutet mein Handy ununterbrochen. Am anderen Ende sind Menschen, die mich nach und nach darüber informieren, dass ich alle Jobs im nächsten Jahr verliere.

Wir haben in unserer Wohnung einen Küchenboden und Fliesen neu verlegt. Wir haben die Parkettböden in den beiden großen Zimmern abgeschliffen und eingeölt. Wir haben einen Holzofen eingebaut, ein Hochbett für Gäste, eine Vollholzplatte als Anrichte in der Küche. Im Bad und im Klo haben wir die alten, braunen Fliesen weiß überstrichen. Wir haben den Herd ausgetauscht und an einen neuen Platz gestellt. Wir haben den Kühlschrank, die Waschmaschine, das Klo ausgetauscht. Wir haben alle Wände viele Male wieder und wieder gestrichen. Wir haben die Therme und den Rauchfang warten und reparieren lassen. Es wurden Möbel hinein- und herausgetragen. Es haben hier viele Menschen gewohnt. Meine Schwester ist mit zwei Jahren hier eingezogen und mit ihrer Mutter wieder ausgezogen. Jetzt ist sie fast erwachsen. Ich bin immer geblieben. Ich bin immer noch da.

Ich habe hier Leute eingeladen, Leute weggeschickt, mit Leuten gewohnt. Hier wurde Musik gespielt und nur noch selten wird gefeiert, damit haben wir schnell aufgehört. Mehrmals hat die Polizei wegen dem Lärm geläutet. Einmal habe ich von Gästen dreißig Euro in Münzen eingesammelt, weil ich kein Bargeld hatte und einem der Beamten in die offene Hand gelegt. Immer wieder werden politische Sticker von unserem Briefkasten und unsere Namen vom Klingelschild gekratzt. Immer wieder wird hier gekocht, gesprochen und gegessen. Mit Gästen und in der Wohngemeinschaft zu dritt. Ich kenne die Menschen, in den Wohnungen rundherum. Ich sehe seit zehn Jahren die Menschen hinter den Fenstern der Häuser auf der anderen Straßenseite. Ich weiß, wo der Wind wie pfeift, wie die Haustür im Erdgeschoss klingt, kenne die Schritte der Hausbewohnerinnen am Gang. Ich kenne die Geräusche des Viertels.

Im Oktober nach vielen Jahren des Wohnens kommt mit der Post ein Räumungsbescheid. „Beschluss“ steht darin. Der Absender: das Bezirksgericht. Im November muss die Wohnung geräumt sein, steht dort. Die Gebühr, wenn die Wohnung geräumt werden würde, seien zweitausend Euro, steht dort. Die Gebühr für den Anwalt, wenn wir Einspruch erheben würden, seien dreihundertfünfzig Euro, steht dort.

Welcher Anwalt?

Auf meinem täglichen Radweg zur Universität gibt es eine Parkbank, auf der jetzt ein alter Mann und eine alte Frau wohnen. Sie haben viele Taschen und Koffer bei sich. Sie sind von einem Tag auf den anderen aufgetaucht und bleiben. Wenn ich vorbeifahre, schläft meistens einer der beiden. Nach einigen Monaten verschwindet die Frau und nur noch der Mann liegt alleine auf der Bank, oder sitzt mit abgestütztem Kopf da. Dann schließt die Universität, ich fahre mit dem Rad nicht mehr den Weg entlang. Kurz darauf beginnen die Ausgangsbeschränkungen. Es ist nur mehr erlaubt mit einem Grund auf die Straße zu gehen.

Alle Informationen der Regierung, darüber inwiefern die neuen Richtlinien zu den Ausgangsbeschränkungen auszuführen seien, richten sich an Kleinfamilien. Zwei zusammenlebende Eltern mit Kindern. Wie sich verzweigter funktionierende Familien mit unterschiedlichen Eltern und unterschiedlichen Kindern verhalten, wird nicht gesagt. Auch uns wird nicht gesagt, wie wir uns verhalten sollen. Mein Partner hat so viele Mitbewohnerinnen, dass man sie an zwei Händen nicht abzählen kann. Ich lebe mit zwei Menschen in einer Wohnung, die vielleicht bald geräumt wird. Die Mitbewohnerinnen haben Beziehungen und enge Freundschaften. Wer wen noch sehen darf, ist nicht klar. In den ersten Wochen treffen die Mitbewohnerinnen und ich Menschen nur draußen und mit mindestens einem Meter Abstand. Ich war noch nie so allein. Ich sehe kaum jemanden. Meine Mitbewohnerin umarmt ihren Partner einen Monat lang nicht, trifft ihn einmal in der Woche, um mit ihm Fahrrad zu fahren.

Alle Menschen, die Häuser am Land haben, oder es sich irgendwie leisten können, verlassen die Stadt.

Ein Freund verbringt einige Wochen in der geräumigen Wohnung und auf der Dachterrasse eines Artztes, den er über eine Datingapp kennengelernt hat. Es ist nicht das Gleiche in einer kleinen Wohnung ohne Licht, oder in einer großen Wohnung mit Terrasse eingesperrt zu sein.

Auf der Straße sehe ich verzweifelte Mütter, die ihre Kinder anschreien. Es heißt, die häusliche Gewalt werde jetzt steigen. Im Radio wird die Frauennotrufnummer durchgesagt.

Ich habe keine Arbeit. Ich frage mich, wofür ich schreibe. Ich zweifle am Nutzen von allen meinen Tätigkeiten. Alle Dinge, auf die ich mich vorbereitet hatte, auf die ich hingearbeitet habe, werden abgesagt.

Ich entscheide mich, gegen meinen Hausbesitzer vor Gericht zu gehen und erhebe Einspruch gegen den Räumungsbescheid. Alle Menschen in Beratungsstellen, die ich um Hilfe frage, sagen, dass sie sehr davon abraten, vom kostenlosen Pflichtverteidiger, auf den ich Anspruch hätte, Gebrauch zu machen. Die würden sich nicht mit der rechtlichen Lage auskennen. Ich bezahle eine Anwältin, damit sie mich gegen meinen Hausbesitzer vertritt. Die Gerichtstermine mit dem Hausbesitzer, der mich räumen möchte, weil er gerne das dreifache der Miete, die ich aktuell bezahle, verlangen würde, das sagt er mit so offen am Telefon, werden immer wieder verschoben. Während der Pandemie haben die Gerichte geschlossen.

Viele Schilder rund um Parks weisen darauf hin, dass man sich dort nicht mehr aufhalten darf. Spielplätze sind mit rotweißroten Absperrbändern eingehüllt. In Wien wird das „Winterpaket“ um drei Monate bis in den August verlängert. Dadurch stehen mehr Schlafplätze als üblich in den warmen Monaten zur Verfügung. In einigen Quartieren wurde auch auf Tagesbetrieb umgestellt, sodass Klienten den Ort in der Früh nicht mehr verlassen müssen. Ich lese in der Zeitung, dass viele Obdachlose jetzt vor den Tagesquartieren in Schlangen darauf warten würden, hereingelassen zu werden. Sie bekommen Probleme mit der Polizei, wenn sie sich draußen aufhalten. Es ist nur erlaubt auf der Straße zu sein, um einzukaufen oder sich die Beine zu vertreten. Obdachlose können oft nicht beweisen, dass sie das eine oder das andere tun. Aufgrund von Platzmangel stecken sich die Wartenden und die Menschen in den Quartieren gegenseitig mit dem Virus an.

In dem für zweitausendachthundert Personen konzipierten Lager Moria in Griechenland leben im März 2020 zwanzigtausend Menschen. Es ist Europas größtes Flüchtlingslager. In dem Lager herrschen wegen der Überfüllung seit Jahren menschenunwürdige Zustände.

Anfang Mai 2020 haben sechshunderttausend Menschen in Österreich aufgrund der Krankheit ihre Arbeit verloren. Es wird vor einem großen Anstieg der Obdachlosigkeit gewarnt. Laut Zahlen aus dem Jahr 2018 sind zweiundzwanzigtausend Menschen als wohnungs- oder obdachlos erfasst. Ich lese in der Zeitung, es gäbe die ersten Räumungsklagen und Gerichtstermine aufgrund ausstehender Mieten während der Ausgangsbeschränkungen.

Im Haus meines Freundes zieht eine Familie ein. Sie fragen, ob sie für ein oder zwei Monate unterkommen können. Sie kennen das Haus von früher und ziehen in zwei leerstehende Zimmer. Es sind ein Mann, eine Frau, zwei junge Burschen, die noch in Schule gehen und ein sehr schüchternes vierjähriges Kind.

Eine Freundin ruft mich am Abend an und erzählt von einem Mann, den sie gerade am Heimweg getroffen hat. Sie habe ihm eine halbe Monatsmiete für das billige Zimmer gegeben, aus dem er gerade hinausgeworfen wurde. Er habe sie eigentlich nur nach einer Decke gefragt, sich sehr geschämt das Geld anzunehmen und mehrmals beteuert, er wolle ihr das Geld zurückgeben. Er habe mit seiner Freundin und ihrem kleinem Kind schon seit einer Nacht im Stadtpark geschlafen.

Abends um sechs Uhr spielt der Radiosender „Radio Wien“ die Austropopnummer „I am from Austria“ von Rainhard Fendrich. Ein Lied, dass ich öfter auf Demonstrationen der rechtsextremen Identitären Bewegung gehört habe als woanders, wo es möglicherweise gespielt werden könnte: in einer Skihütte, auf einem Eislaufplatz oder einem Christkindlmarkt. Alle Polizeiautos spielen kurz darauf jeden Abend das Lied aus dem Radio über ihre Lautsprecher. Sie fahren durch Fußgängerzonen und in Gemeindebauhöfe. Die Leute aus den vielen Stockwerken klatschen und winken.

Es gibt Drohnen, die eng an den Hausfassaden vorbeifliegen. Ein Freund erzählt, eine sei während dem WG-Plenum vor seinem Fenster stehen geblieben und habe hineingeschaut. Er und sein Kollege schauen zurück. Jemand mutmaßt, dass das eine Polizeidrohne sein könnte, das halten die meisten für eine paranoide Theorie und alle lachen darüber. Zwei Tage später höre ich im öffentlich-rechtlichen Radio den Innenminister sagen, die Drohnen würden zur Verkehrsbeobachtung und zum Ausfindigmachen von Menschenansammlungen auf der Straße verwendet.

Anfang September 2020 ereignet sich ein Großbrand im Lager in Moira, der das Lager und die Habe der dort lebenden Menschen fast vollständig zerstört. Durch den Brand sind dreizehntausend Menschen obdachlos geworden. In den österreichischen Medien wird darüber diskutiert, ob man hundert unbegleitete Kinder in Österreich aufnehmen soll oder nicht. Der Bundeskanzler und seine Partei lehnen das ab. Sie können sich dagegen durchsetzen.

Aktivistinnen bringen vor vielen leerstehenden Häusern in Wien Schriftzüge an, die angeben, für wie viele Menschen dieser Ort jeweils Platz bieten würde. Sie wollen darauf hinweisen, dass alleine in Wien Platz für alle dreizehntausend Menschen aus dem Lager in Moria sei. Kurz darauf wird ein Haus in der Hetzgasse besetzt. „Hier ist Platz für hundert“ steht auf dem Straßenpflaster vor dem Haus. Es gebe zu wenig Platz für obdachlose Menschen und Menschen auf der Flucht, heißt es in einer Presseaussendung des Kollektivs. Durch Spekulation mit Leerstand wie dem leerstehenden und seit Jahren verfallenden Haus in der Hetzgasse werde leistbarer Wohnraum vernichtet. Einen Tag später wird das Haus geräumt.

Eine Freundin, die seit Jahren im Winter in der Notschlafstelle arbeitet, ist zusammen mit Kolleginnen mit einem Anstellungsverbot belegt worden. Mehrere Mitarbeiterinnen wurden wegen politischer Aktivitäten und Engagement für die „Initiative Sommerpaket“ und mehr Sicherheit in der Corona-Pandemie nicht wiedereingestellt. Anfang September erfährt sie zusammen mit anderen regelmäßig saisonal angestellten Mitarbeiterinnen, dass sie ab der kommenden Saison keine Anstellung mehr erhalten werden. Sie alle waren im Rahmen des „Winterpaketes“ für das Rote Kreuz als Betreuerinnen tätig. Sie sind jetzt arbeitslos. Es kommt der Winter und mit dem Winter neue Ausgangssperren.

Ich erhalte Briefe vom Gericht und ich bekomme in unterschiedlichen Zeitabständen Rechnungen der Anwältin. Es wird nicht klar, wann was wie viel kosten wird. Wie viel die ganze Verhandlung kosten wird. Wann diese Verhandlung ein Ende haben wird. Die Briefe vom Gericht haben viele Seiten und enthalten unverständliche Wörter. Das Gesetzbuch zu Mietrecht ist unglaublich dick und sehr schwer zu verstehen. Ich lerne: Das Gesetz ist für normale Menschen beinahe unverständlich und es ist nicht für alle gleich.

In Kulturinstitutionen in Oberösterreich wird eine Zeit lang jeden Tag angerufen und gefragt, ob die Kulturarbeiterinnen nicht doch ins Callcenter der Corona Hotline 1450 wechseln können. Es hätten sich dort die Leute in den Großraumbüros gegenseitig angesteckt. Mittlerweile säßen Bundesheersoldaten provisorisch auf zugigen Treppen, aber sie täten sich schwer mit dem Sprechen am Telefon.

Eine Freundin, die ihr Kind gebären wird, weiß nicht, ob man sie zwingen wird, dabei eine Maske zu tragen. Viele Frauen müssen, nachdem meine Freundin ihr Kind ohne Maske bekommen hat, 10, 20, 30 Stunden während ihrer Geburten im Spital Masken tragen. Gebärende Frauen haben keine Lobby.

Die Modeketten sperren wieder auf. Es dürfen mehrere Leute das gleiche T Shirt probieren, alle Arten von Kulturveranstaltungen und somit die Brotberufe sämtlicher Menschen in meinem Umfeld sind abgesagt. Große Mengen von Müttern müssen es neben ihren Berufen hinkriegen, ihre Kinder mit dem Stoff, den die Schule vorgibt, zu unterrichten. Eine Freundin wird schwanger.

Mein Vater kann die alte Dame im Spital nicht mehr besuchen. Nach zwei Monaten hat sie mental extrem angebaut. Er sagt, er habe sie am Telefon sprechen gehört, sie erinnere sich mittlerweile an kaum etwas.

Ein Bekannter, der in einer Einrichtung für Behinderte arbeitet, erzählt, dass sie in der Arbeit gezwungen werden zu arbeiten, während sie positiv auf die Krankheit getestet sind. Die Betreuer betreten in Weltraumanzügen die Einrichtung. Bereiten das Essen zu. Waschen die Wäsche. Während die Betreuten ohne Masken Essen, Schlafen, sich anpinkeln, gewickelt werden müssen. Der Bekannte erzählt, wie sich nach und nach alle anstecken. Er wird in eine Teilquarantäne gesteckt. Jeden Morgen holt ihn ein Shuttlebus von zuhause ab, fährt ihn in die Arbeit. Er darf nicht einkaufen, das Haus nicht verlassen, keine Freunde treffen. Die Betreuten in der Einrichtung werden nicht geschützt. Auch sie haben keine Lobby. Er darf Leute, die keine Maske tragen, wickeln, sie umziehen, ihnen eine sehr gefährliche Krankheit weitergeben und von ihnen eine Krankheit bekommen.

In jeder Familie scheint es einen Onkel zu geben, der nicht daran glaubt, dass es die Krankheit wirklich gibt. Sämtliche Leute scheinen den Bezug zur Realität völlig zu verlieren. Am Tag nach der Nacht, in der ich viele Stunden mit verschiedenen Leuten in einer Bar der Wiener Innenstadt eingesperrt gewesen bin, in der Polizeihubschrauber gekreist sind, Türen verschlossen wurden, in der Medienbilder von Erschießungen im Fernsehen gezeigt wurden, das Internet voll von Nahaufnahmen eines Täters und der zusammensackenden Opfer ist, findet mein Onkel, der auch an die Existenz der Krankheit nicht glaubt, es habe keinen Anschlag in der Wiener Innenstadt gegeben.

Meine Mutter sitzt mit meiner jüngsten Schwester im Volksschulalter vor dem Laptop, über den sie miteinander Homeschooling machen sollen und tanzt den Tanz mit, den die Lehrerin auf dem Bildschirm tanzt. Das Kind tanzt nicht mit. Die Mutter, die eigentlich einen Berg Arbeit zu erledigen hätte, fühlt sich unwohl. Die ältere Tochter sagt, „komm mach mit“. Die ältere Tochter macht den Tanz mit. Das Volksschulkind beobachtet die beiden befremdet.

Die schwangere Freundin bezahlt eine Hebamme, die sie sich nicht leisten kann, weil gesagt wird, wenn sie ihr Kind im Spital gebäre, werde sie dabei alleine sein müssen.

Ich bin viele Tage, viele Stunden alleine in meinem Zimmer. Die Arbeit und die sozialen Kontakte sind alle am Telefon, am Computer. Alles vermischt sich. Ich kann Freundinnen nicht schreiben, nicht hören, ohne alle Emails, die zu beantworten sind, zu beantworten. Ich arbeite währen dem ersten Kaffee in der Früh schon am Rechner und sitze bis spät in die Nacht daran. Ich weiß nicht mehr genau wann ich was tue, oder wie viel es mittlerweile geworden ist. Es ist schwer, die Muße zum Schreiben zu finden. Ständig klingeln irgendwelche Benachrichtigungen. Die sozialen Medien scheinen ein Schutz vor der kompletten Vereinsamung und gleichzeitig eine Quelle von unglaublichem Stress zu werden. Ich lösche alle Apps von meinem Handy und finde mich in einer großen seltsamen Stille wieder.

Ich sitze in einer Wohnung mit zwei Kulturarbeiterinnen und wir sprechen darüber, ob wir die großen Summen, Überbrückungsförderung ausgeben können, es ist sei ja nicht klar, wie lange das noch so weitergehe. Man hat uns noch nie so viel Geld auf die offene Hand bezahlt. Wir fragen uns, woher das ganze Geld komme. Wir sprechen über die Arbeiterinnen, die jetzt keine Arbeit haben, aber auch keine Überbrückungshilfen. Wir sprechen darüber, wann man unsere Berufe als unwichtig kategorisieren wird, wann wir wieder arbeiten können werden. Wie lange wir mit der Überbrückungsförderung auskommen können sollen.

Die Freundin, die ihr Kind versucht zuhause zu bekommen, muss nach zwölf Stunden mit Presswehen in einem Krankenwagen ins Spital gebracht werden. Es darf niemand mitkommen. Während sie alleine im Spital ist, wird ein Notkaiserschnitt gemacht. Ihr Partner darf sie und ihren neugeborenen Sohn in den folgenden fünf Tagen, die sie verheilen soll, jeden Tag eine Stunde lang besuchen.

Die Freundin, die ihre Wohnung verliert, hat sich ein Programm geschrieben, dass sie informiert, wann eine Wohnung in einer Genossenschaft frei wird.

In regelmäßigen Abständen demonstrieren Nazis an Samstagen in der Wiener Innenstadt mit Reichsflaggen. Sie tragen keine Masken und versuchen Leute in U-Bahnen dazu zu überreden, ihre Masken abzusetzen. Am Tag der Abriegelung von Tirol, aufgrund der von dort kommenden mutierten Krankheitsvariante, fährt ein Bus voll Tirolern auf die Demo in Wien. Sie laufen ohne Masken und mit Mistgabeln durch die Stadt. Die Polizei hat den Bus durchgewunken und schreitet nicht ein. Die Tagesinzidenz steigt immer weiter an. Die Intensivstationen sind stark gefüllt, es heißt, bald wird es keine Betten mehr für die steigende Zahl der Erkrankten geben. Für die Polizei wird von den Demonstranten geklatscht. Die Repression für die Gegendemonstrantinnen ist stark. Als die Demonstrationen verboten werden, meldet Österreichs rechteste Partei diese als Parteikundgebungen an.

Ich gewinne die Gerichtsverhandlung gegen meinen Hausbesitzer, während die Obdachlosigkeit steigt.

Ich kann von keiner utopischen Zukunft berichten. Ich kann nur die Ereignisse protokollieren.