DruckZeug at night

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Martin Murpott ◄
Foto: Lena Prehal

Man schrieb den 23. Februar des Jahres 2017. Der Mond war bereits im Begriff, seine Bahn über den Grazer Nachthimmel zu ziehen, und wäre die Stadt nicht in ihrer herbstüblichen Dunstglocke gefangen gewesen, hätte man ihn vermutlich sogar sehen können. So jedoch beschränkte sich der Nachthimmel primär darauf, unnachgiebig dunkel zu sein, denn auch die Sonne entzog sich schon seit Stunden ihrer Verantwortung als gern gesehene Lichtquelle. In der Betriebswerkstätte des Vereins DruckZeug im Griesviertel wiederum wurde es erst jetzt so richtig finster. Sie lag im prächtigen Innenhof des ehemaligen Bürgerspitals und war noch am einfachsten über die Annenstraße erreichbar. Ihre Haupträume verteilten sich auf zwei Stockwerke, von denen der untere dem Parterre gleichkam. Anneliese Bösental, talentierte Drucksetzerin und langjähriges Mitglied des besagten Vereins, hatte soeben die Lampen des Erdgeschosses ausgemacht und sich ins Freie begeben. Anneliese war selten die erste die kam, aber oftmals die letzte die ging. So auch an diesem Abend. Eine vermeintlich leere und leblose Werkstätte hinterlassend, sperrte sie mit ihrem leicht angerosteten Buntbartschlüssel die fragil wirkenden hölzernen Balkentüren zu, um danach auf ein Schichtbier ins nahegelegene Café Wolf zu schlendern. Doch während Annelieses Schicht inzwischen beendet war, hätte sie normalerweise für den überwiegenden Teil der braven Arbeiterinnen des Bleiletternen Kaiserreiches gerade erst begonnen. Wer konnte zu diesem Zeitpunkt schon ahnen, dass diese Nacht die weitere Geschichte des gesamten Druckformlandes tiefgreifend verändern würde.

1. Akt – Die Vorgeschichte

Und im Chor die Mütter
Sie schreien es hinaus

Bringt unsere Burschen
Bringt sie nach Haus!“

(Chor der Soldatenmütter)

Seit nun mehr drei Jahren befand sich das Bleiletterne Kaiserreich unter Zar Yikolaus in einem blutigen Krieg mit den Mittelmächtigen Buchstabenländern, die im Westen der Betriebswerkstätte angesiedelt waren. Die Gründe des mörderischen Konfliktes waren ebenso simpel wie primitiv. Sie ließen sich im Wesentlichen als nationalistisch, imperialistisch und Schwanz vergleichend beschreiben. Die Anführer der Mittelmächtigen Buchstabenländer, Kaiser Yarl von Österstab-Dramaturgien und Kaiser Quillhelm von Toitschland, standen dabei dem Bleiletternen Zaren in ihrer fragilen Männlichkeit sowie ihrer ausufernden Egomanie um nichts nach. Viel mehr noch als der Zar waren sie der Meinung, dass alleine ihnen die Rolle der Hegemonialmacht innerhalb der Betriebswerkstätte zustehen sollte, weswegen sie sich nicht nur im Osten mit den Bleiletternen angelegt hatten, sondern ebenso mit der Troisième Lettre République. Diese wiederum lag ihrerseits im Westen der Mittelmächtigen Buchstabenländer und bildete sowohl eine Allianz mit dem Bleilettern Kaiserreich als auch mit Great Letterpresstannien unter der moralischen Führung von Quorge dem Fünften. Was auf den ersten Drucksatz ziemlich absurd und sinnlos erschien, wurde bei näherer Betrachtung ebenfalls nicht besser. Vor allem nicht, wenn man noch zusätzlich die Verwandtschaftsbeziehungen der einzelnen Herrscher unter die Lupe nahm. So waren zumindest der Toitsche Kaiser, der Letterpresstannische König und der Bleiletterne Zar Cousins. Sie pflegten sich noch bis vor wenigen Jahren gegenseitig mit Quilly, Quorgie und Yicky anzureden, bevor ihnen ihre uneingeschränkte Macht zu Kopfe stieg und sie die Betriebswerkstätte ins grausamste Schlachtfeld aller Zeiten verwandelten. Kaiser Yarl von Österstab-Dramaturgien wiederum war ein ganz eigener Fall. Er kam erst vor gut einem Jahr an der Macht, nachdem sein Großonkel und vorherige Kaiser völlig unerwartet im Alter von nur 86 Jahren an einer Lungenentzündung starb. Somit war Yarl nicht nur der jüngste, sondern auch der unerfahrenste der Monarchen, was ihn jedoch nicht daran hinderte, das große gegenseitige Abschlachten bis zum bitteren Ende mit am Laufen zu halten. Außerdem stand er weder mit Quilly, Quorgie noch Yicky in direkter Verwandtschaft, weil er als klassisches Mitglied des Hauses Stabsburg eher auf eine inzestuöse Blutlinie bedacht war. Was alle Reiche bis auf die Troisième Lettre République – denn diese wurde ja bekanntlich von einem demokratisch gewählten Präsidenten geführt – miteinander verband? Ihre Bürger und Bürgerinnen waren einer scrabbleistischen Staatsform und somit den Launen ihrer Herrscher unterworfen!

Scrabbleistisch bedeutete in diesem Falle nichts anderes als eine streng hierarchisch strukturierte Klassengesellschaft. Die oberste und somit herrschende Klasse war dabei schon immer der sogenannte Quadel. Zum Quadel gehörten all jene, deren Anfangsbuchstabe beim namensgebenden Brettspiel Scrabble einen Wert von sechs oder mehr Punkten erhalten würde. Der Quadel machte, wie am Beispiel des Bleiletternen Kaiserreichs zu sehen war, gerade einmal 8 % der Bevölkerung aus. Er wurde am seltensten gelegt, musste somit am wenigsten arbeiten, besaß aber trotzdem die größten Privilegien. Die nächste und de facto mittlere Klasse war das Pürgertum. Das Pürgertum entsprach in etwa 16 % der Bevölkerung, musste sich schon ein wenig mehr bemühen, genoss aber immer noch bei weitem größere Privilegien und mehr Rechte als die unterste Klasse. Ihre Mitglieder deckten das Spektrum jener Anfangsbuchstaben ab, die beim Scrabble einen Wert von drei bis fünf Punkten erreichten. Zu guter Letzt, oder zumindest gut für den Quadel und das Pürgertum, kam die Erwerbstätigen- bzw. Arbeiterklasse. Sie wiederum stellte mit über 75 % den bei weitem größten und ärmsten, aber dafür am härtest arbeitenden Teil der Bevölkerung. Der Wert ihrer Anfangsbuchstaben betrug dabei gerade mal ein bis maximal zwei Punkte und reichte kaum zum Überleben. Ich denke, dass an dieser Stelle wohl nicht näher erörtert werden muss, welche der drei Klassen seit Jahren den größten Blutzoll auf den Schlachtfeldern der Betriebswerkstätte zu entrichten hatte.

Und während ganze Jahrgänge an Bleiletternen Buchstabensöhnen in der Ferne ihr Leben ließen, oblag es ihren Müttern, Töchtern, Frauen und Schwestern, derweilen die Industrie in der Heimat am Laufen zu halten. Die nächtlichen 6-Stunden-Schichten waren längst keine Ausnahme mehr, sondern Standard geworden. Die Versorgungslage wurde spätestens seit dem ungewöhnlich kalten Winter 2016/2017 immer schlechter und die Kriegsmüdigkeit immer größer. Vor allem in der Hauptstadt Postergrad hatten es die Frauen zunehmend satt, dass sie Aufgrund von Yikolaus gigantischem Egotrip dauernd ihre Söhne, Ehemänner, Brüder und Väter zu Grabe tragen mussten. Dass sie dabei kaum etwas zu fressen oder zu heizen hatten, war der Loyalität gegenüber der Zarenfamilie ebenso wenig zuträglich. Diese wiederum war dafür bekannt, ständig Schwan in Farbskalensauce zu dinieren und selbst die Aborte ihres Palastes auf konstante 25°C erwärmen zu lassen, ohne sich dabei allzu viele Gedanken über die Außenwirkung beim einfachen Buchstabenvolk zu machen. Eine Ignoranz, die sich schon sehr bald als schwerer Fehler herausstellen sollte – vor allem auch, weil Yikolaus abseits seiner dekadenten Lebensführung kaum militärische Erfolge aufweisen konnte.

Schon im Herbst des Vorjahres kam es zu vereinzelten Streiks und Hungerrevolten, die der Zar zuerst noch von in der Stadt stationierten militärischen Einheiten niederschlagen lassen konnte. Genau diese Einheiten begannen sich im Laufe des folgenden Winters jedoch zu fragen, warum sie immer öfters Streiks und Hungerrevolten beenden mussten, an denen vor allem ihre eigenen Mütter, Töchter, Frauen und Schwestern beteiligt waren. Außerdem barg sogar diese Art des Einsatzes kein unwesentliches körperliches Risiko. Laut inoffiziellen Statistiken landete im Jänner 2017 bereits jeder vierte in Postergrad befindliche Soldat deswegen im Lazarett, weil er im Zuge dieser Auseinandersetzungen von einem weiblichen Familienmitglied die Schelle seines Lebens bekam. Es war also nicht nur die stetig zunehmende Unzufriedenheit der für den Zaren kriegswirtschaftlich so wichtigen Arbeiterinnen, die das gärende Fass der Revolution langsam aber sicher füllte, sondern ebenso die steigende Frustration der Soldaten. Angesichts der zunehmend chaotischeren und untragbareren Lage an der Heimatfront war es also nur eine Frage der Zeit, bis es wohl im ganz großen Stile zu krachen beginnen musste. Immer mehr und mehr begann es in diesem noch jungen Jahr an allen Ecken und Enden zu brodeln. Die Schellen, die das bereits erwähnte gärende Fass der Revolution endgültig zum Überlaufen brachten, mussten im Vorfeld der noch folgenden schicksalsträchtigen Nacht des 23. Februars 2017 erst gar nicht mehr verteilt werden.

2. Akt – Die Zuspitzung

„Frau der Arbeit, aufgewacht!
Und erkenne deine Macht!
Alle Pressen stehen still,
Wenn dein starker Arm es will.“

(Frei nach Georg Herwegh)

Die Flächen waren längst da und es waren ihrer viele. Einige davon brannten zwar schon, allerdings hatten ihre Flammen noch nicht auf die anderen übergreifen können. Zahlreiche hungernde und frierende, aber noch nicht wirklich organisierte Einwohnerinnen Postergrads strömten durch die Straßen der Druckplattenstadt. Ihr ganzes nächtliches Dasein bestand darin, abwechselnd in den kriegswichtigen Druckereien zu schuften oder nach Lebensmitteln und Heizmaterialien Ausschau zu halten. Viele vor allem kleinere Betriebe standen bereits auf der Kippe zur Revolte, doch noch fehlte ihnen das Signal einer der großen Manufakturen, einen möglichen Streik mitzutragen. Das am Hafen gelegene Punzenlow-Werk war eine genau solche Betriebsstätte. Es beschäftige über 30 000 Lettern und Klischees, druckte neben den üblichen Propagandaschriften auch das Erotikmagazin Igratmalchik, stellte aber ansonsten vor allem Unmengen an Waffen und Munition für den Krieg gegen Toitschland her. Die Betriebsführung des Punzenlow-Werkes musste wohl als klassisches Konglomerat an Kriegsgewinnlern bezeichnet werden. Sie verdiente sich am Krieg seit nun mehr drei Jahren „Tupoy i yeshche tupeye“, was in etwa der österstabischen Redewendung „Dumm und deppert“ entsprach, ohne dabei sonderlich viel Rücksicht auf die mehrheitlich weibliche Belegschaft zu nehmen. Im Laufe der sogenannten „Einserschicht“ (20:00 – 02:00) wurde dies den Arbeiterinnen unter der Führung von Tatjana Trockij ihrerseits „zu deppert“, und zwar endgültig.

Ob der Leiter der Werkslade IV in dieser Nacht tatsächlich die Wörter „Wenn ihr keine Kohle habt, dann heizt doch mit alten Igratmalchik-Ausgaben eure Öfen ein“ sprach, kann nachträglich nicht mehr eindeutig nachgewiesen werden. Definitiv historisch belegt ist jedoch, dass es Tatjana Trockijs mächtiger gusseiserner Schraubenschlüssel war, der den Leiter postwendend am Kopfe traf. In tiefer Bewusstlosigkeit versunken, musste er von seinem Stellvertreter aus der Halle evakuiert werden, und bekam so weder Trockijs flammenden Appell zu einem Streik noch den darauffolgenden Jubel der Belegschaft mit. „Denn wer wenn nicht wir, zieht den geringsten Nutzen aus einem Krieg, der nur dazu dient, patriarchale Gewaltherrschaften aufrechtzuerhalten? Eine patriarchale Gewaltherrschaft, deren oberste Priorität nicht das Wohl der breiten Masse ist, sondern bloß ihre eigene Gewinnsucht. Eine Minderheit an autoritären Kapitalisten, für die der Tod von Millionen Soldaten maximal eine weitere Statistik auf ihren Wirtschaftsplänen bedeutet. Sie könnten unseren Lohn verdoppeln, ja sogar verdreifachen, und trotzdem wären wir bloß die Geringsten unter den Geringen. Solange wir das Druckstück mitdrucken, solange wir nicht dem System an sich den Kampf erklären, solange werden wir auch weiterhin nur Sklavinnen bleiben. Holen wir unsere Jungs nach Hause und beenden den Krieg! Stürzen wir den Zaren und vergesellschaften die Fabriken! Solidarität ist unsere Stärke und die Niederlegung der Arbeit wird unsere Waffe sein! Streik, Streik, Streik!“

Inzwischen hatte auch der Leiter der Werkslade IV sein Bewusstsein wiedererlangt. Sein Stellvertreter hatte ihn ins Bürogebäude der Betriebsführung verfrachtet, das sich immer stärker mit anderen von Werkzeugen getroffenen Werksladenleitern füllte. Der Aufstand und der damit verbundene Streik hatte währenddessen das ganze Werksgelände ergriffen. Tausende von Arbeiterinnen sammelten sich bereits draußen im Freien am Großen Vorplatz, der den riesigen Industriekomplex vom demonstrativ abgegrenzt stehenden Bürogebäude trennte. Sowohl Betriebsführung als auch Werksladenleiter hatten derweil begriffen, dass der Zug für billige Zugeständnisse wohl abgefahren sei. Der Ofen für leere Versprechungen und gespielten Beschwichtigungen war aus. Nun ging es um ihren Status. Es ging um ihre Privilegien und mit ein bisschen Pech sogar um ihr Leben. Schließlich war es Firmenchef Pavlov Punzenlow selbst, der den Hörer in die Hand nahm, um bei der Postergrader Marsfalz–Kaserne militärische Unterstützung anzufordern. Das Werk befand sich nun seit 128 Jahren im Besitz der namensgebenden Erbdynastie, und Pavlov hatte nicht vor, es plötzlich diesem Pöbel zu überlassen. 

Der diensthabende Kommandant, der den Anruf entgegennahm, ließ sofort einen 500 Buchstaben starken Trupp unter der Führung von Major Sergej Satzspiegel mobilisieren. Die von schweren Schellen gezeichneten Gesichter vieler Soldaten bezeugten deren Erfahrung an der Niederschlagung unbewaffneter Aufstände. Nur äußerst widerwillig begann sich die Einheit in Bewegung zu setzen. Die Kriegsmüdigkeit an der Heimatfront hatte sich nicht nur unter den Zivilistinnen längst breit gemacht. Die benzinbetriebenen Truppentransporter des Typs Sputnik VI waren schon vor Monaten außer Dienst gestellt worden, weil der Treibstoff in den tatsächlichen Kampfabschnitten benötigt wurde. Zu Fuß schied nach längerer Diskussion und aufgrund des unbeständigen Wetters völlig aus. Als sie schließlich aufgeteilt auf zwei gekaperte Straßenbahnen das Punzenlow-Werk erreichten, blieb ihnen erst einmal die Spucke weg. Abertausende hatten sich am Vorplatz und an den Zufahrtstoren des Werkes versammelt. Mit erhobenen Fäusten forderten sie vor dem Bürogebäude der Betriebsführung lautstark die Abdankung des Zaren sowie die Übereignung der Fabrik. In einer langgezogenen Zweierkette ließ Major Satzspiegel seine Soldaten Position beziehen und die Waffen erheben. Keine 20 Meter trennte sie von der in Aufruhr befindlichen Belegschaft. Sich der drohenden Gefahr bewusst, hatten die Arbeiterinnen ihre Sprechchöre unterbrochen und sich Satzspiegels Männern zugewandt. Es herrschte Totenstille, doch plötzlich drängelte sich eine Frau mittleren Alters nach vorne und ging bis auf wenige Meter auf die Soldaten zu. „Sergej, bist du das? Willst du etwa auf deine Tante schießen lassen? Ich hau dir eine runter, dass dir 14 Tage der Schädel wackelt!“ Eine zweite Frau gesellte sich dazu. „Und was ist mit dir, Nikolaj? So viele Gewehre kannst du gar nicht entsichern, dass ich dich nicht an deiner Signatur oder deinen Ohren nach Hause ziehen würde …“ Noch viele weitere Frauen folgten, und so konnten die einstmals loyalen Angehörigen der Kaiserlichen Armee relativ bald davon überzeugt werden, dass es wohl an der Zeit war, die Seiten zu wechseln. Anstatt das Gelände zu räumen und auf Familienmitglieder zu feuern, erstürmten Teile der Einheit das Bürogebäude der Betriebsleitung, das nur von einer Handvoll spärlich bewaffneter Wachleute verteidigt wurde. Nachdem Betriebsführung und Werksladenleiter festgesetzt waren, ernannte man es zum Hauptquartier der sich im Formieren begriffenen Bewegung. Sie sollte den Namen Mir i Solidarnost tragen, was auf toitsch so viel wie „Friede und Solidarität“ bedeutete, und die Historie des Bleiletternen Kaiserreichs auf völlig andere Bahnen bringen. Doch noch war es nicht soweit. Selbst ein beginnender Flächenbrand brauchte seine Zeit, um sich zu einem weiträumigen Inferno auszuweiten.

3. Akt – Der Vormorgen

„Ich suchte die Liebe
Doch fand Revolution
Mit gebrochenem Herzen
Einem Kampfe dem Thron!“

(Schlager- und Politbardin Ruslana Rebrov)

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde auch in der restlichen Stadt, dass eine von der Armee gestützte Belegschaft das Kommando im Punzenlow-Werk übernommen hatte. Immer mehr und mehr Postegrader Betriebe kamen zum Erliegen, Arbeiterinnenkomitees wurden gegründet, Schellen wurden angedroht und der Generalstreik wurde propagiert. Auf den gemeinsamen Namen Mir i Solidarnost konnte man sich für linke Verhältnisse erstaunlich schnell und ohne die Abhaltung mehrerer dutzend Plenen einigen. Selbst die Farben der emporkommenden Bewegung wurden ohne weitere interne Streitigkeiten recht zügig fixiert. Ein Rot der Farbnummer RAL 3000 sollte einerseits Sozialismus und andererseits die ökonomische Misswirtschaft des Zarenreichs symbolisieren; ein Schwarz der Farbnummer RAL 9005 sollte für Anarchismus sowie die Druckfarbe der breiten Masse stehen. Noch in derselben Nacht kam es auf dem Näpfchen-Prospekt, einer der bekanntesten Buchstabenladen des gesamten Landes, zur bis dato größten antimonarchistischen Demonstration in den statistischen Aufzeichnungen des Bleiletternen Kaiserreichs. Unklar und zu diesem Zeitpunkt noch absolut nicht absehbar, war das weitere Verhalten der Armee und vor allem das der allseits unbeliebten Postergrader Stadtpolizei. Dass die Armee nicht auf die eigenen Leute schießen würde, hatte sie zwar schon während den Betriebsbesetzungen in der Vormitternacht signalisiert, doch war fraglich, ob sie auch bereit waren, die Demonstrantinnen gegen die aufrückenden Bullen zu schützen. Um es vorwegzunehmen: Ja, sie waren es!

Die Ausrichtung der aufkeimenden Bewegung konzipierte man von vornherein als eine friedliche, doch so etwas ging natürlich nur solange gut, solange auch die Gegenseite ihr Konfliktpotenzial in Zaum halten konnte. Die vom Buchstabenproletariat gleichermaßen verhasste wie gefürchtete Polizei magazinierte an diesem Tag alles auf, was sie zu bieten hatte. Im Gegensatz zur Armee war sie es jedoch gewohnt, primär auf Gegner einzudreschen oder notfalls zu schießen, die man als technisch unterlegen bezeichnen konnte. Sollte eine solche Konstellation nicht gegeben sein, sah man sich sekundär darauf bedacht, zumindest in dreifacher numerischer Überlegenheit zu agieren. Für den Fall, dass sich aufgrund fehlender Korpsstärke auch diese numerische Überlegenheit nicht herstellen ließe, kam wahlweise Direktive Pobegoder DirektiveKamuflyazhzu tragen. Erstere bedeute nichts anderes, als die Beine in die Hand zu nehmen und sich auf die Flucht zu begeben. Letztere sah vor, die Uniformjacke verkehrt herum anzuziehen, um sich so als Zivilist tarnen zu können. Groben Schätzungen zu Folge befanden sich zusätzlich zu den zigtausenden Demonstrierenden noch mehr als 3000 bewaffnete Soldaten mit auf dem Näpfchen-Prospekt, die den Protestzug zum Schutze flankierten. Bis auf wenige mutige Ausnahmen, wie etwa dem heldenhaft verprügelten Fähnrich Maxim Märtyrskowski, beschlossen die eingesetzten Beamten angesichts der Umstände, dass für sie wohl beide Direktiven wirksam wurden. Rennend und mit umgedrehten Westen zogen sie sich zumindest für diese Schicht in ihre Dienststellen zurück. Die Bevölkerung Postergrads hätte in dieser Nacht die ultimative Chance gehabt, es den Polizisten mit Zwiebelfisch um Zwiebelfisch heimzuzahlen. Zu oft wurde man schikaniert, gedemütigt oder ohne gesetzliche Grundlage beim angeblichen Falschparken abgezogen. Dank dem orangen Innenfutter ihrer Uniformjacken hätte die Exekutive bei ihrem Rückzug ein leicht zu identifizierendes Ziel abgegeben, doch man ließ sie gewähren. Nicht die Gewalt durfte heute nach Ansicht der Anführerinnen rund um Tatjana Trockij im Vordergrund stehen. Die Forderungen nach einem Abdanken des Zaren, einer sofortigen Beendigung des Krieges sowie der Herausgabe aller verfügbaren Lebensmittel mussten es tun!

„Was die Hauptstädter können, können wir schon lange“. Dieses Motto war den provinzbehafteten Einwohnerinnen des Bleiletternen Kaiserreichs genauso wenig fremd, wie den provinzbehafteten Einwohnerinnen der allermeisten anderen fiktiven oder realen Staaten. Am Vormorgen der Revolution hatten solcherlei lokalpatriotische Anwandlungen ausnahmsweise mal einen durchaus positiven Nebeneffekt, denn so gut wie alle Industriestädte des Landes zogen mit. Von Moskopier über Wortograd bis nach Tonwertsibirsk und zurück begannen in den darauffolgenden Nächten die schwarz-roten Fahnen zu wehen. Spätestens jetzt hätten sogar bei den ignorantesten und weltfremdesten Herrschern unter Gottes Industrielampe sämtliche Alarmglocken zu schrillen beginnen müssen. Nicht jedoch bei Zar Yikolaus. Was ihn betraf, konnte man maximal von einer leicht beunruhigten Türklingel sprechen. Als Yikolaus am Abend des 21. Februars während seines Dinners die allnächtlich erscheinende Blocksatz-Gazette zu lesen bekam, genehmigte er sich erst einmal noch eine weitere Portion Schwan in Farbskalensauce. Erst danach beschloss er seinen Innenminister zu sich zurufen, um mit ihm über die schweren Plünderungen in Postergrad zu sprechen, die Seite 1 bis 15 der Gazette dominierten. Im Kaiserreich kam man nicht dadurch zu höheren Ministerehren, indem man seinem obersten Chef mit schonungsloser Offenheit und harten Fakten begegnete. Viel mehr waren Anbiederungen, sozial erwünschte Lageberichte sowie ein großer Topf mit „Ums Maul schmier“-Honig gefragt. Palexander Prospektopow unterschied sich diesbezüglich kaum von seinen Vorgängern. Aus bürgerlichem Hause stammend, konnte man ihn als eine Art Urform der vor allem in sozialistischen Sowjetstaaten bekanntgewordenen Apparatschiks bezeichnen. Die soziale Stellung eines Innenministers innerhalb des zaristischen Systems stand in direktem Zusammenhang mit seiner ausgeübten Funktion. So war es auch nicht verwunderlich, dass Prospektopow eine eher beschönigende und verharmlosende Darstellung der aktuellen Geschehnisse präsentierte. Genauer gesagt tischte er dem Zaren mit der Aussage „in Postergrad wäre alles unter Kontrolle“ eine fette Lüge auf. Yikolaus wiederum hatte sich schon seit Jahren angewöhnt, weitgehend auf genaueres Nachfragen zu verzichten. Das Meeting dauerte in Summe genau jene halbe Stunde, die das Küchenpersonal benötigte, um die kaiserliche Nachspeise fertig zu backen. Zwei Teller seiner geliebten Pagina-Blinys mit Ölstein-Füllung später kontaktierte Yikolaus seinen persönlichen Sekretär, um für die kommende Woche einen Frontbesuch zu planen. Nichts gefiel dem Herrscher mehr, als der absolut aufrichtige Jubel seiner Soldaten, wenn er vor ihnen in Gardeuniform gekleidet vom baldigst zu erwartenden Sieg schwadronierte. Dass dieser Jubel seit mindestens 2 Jahren eher der zunehmenden Präsenz der Offsetrana, also der kaiserlichen Geheimpolizei geschuldet war, wusste Yikolaus geflissentlich zu ignorieren.

4. Akt – Der Ausbruch

„Und weil ein E kein X ist
Bringt es keine Punkte ein
Darum muss unsre Befreiung
Werk der Arbeiterinnen sein“

(Bedrana Brecht – Einheitsletterlied)

Warum die Nacht von 23. auf 24. März 2017 als eigentlicher Beginn der Bleiletternen Revolution gilt, hat mehrere Gründe. Einer davon ist, dass sich ein konkretes Datum einfach besser anhört, als „irgendwann zwischen dem Bleilettern-Orthodoxem Weihnachtsfest und dem Fest des Frühlings und der Ätzgravur“. Wenn also Eingangs erwähnt wurde, dass ausgerechnet diese eine Nacht die weitere Geschichte des gesamten Druckformlandes tiefgreifend verändern würde, spiegelte das natürlich nur die halbe Wahrheit wieder. Die anderen Gründe lassen sich wohl am besten mit der schon am späteren Abend weiträumig stattgefundenen Konstituierung von Arbeiterrinnenräten sowie dem weiteren Verhalten des Zaren erklären. Während erstere bereits die Basis für das spätere politische System bildete, hatte letzterer endgültig damit begonnen, sich seine eigene Fischlade zu zimmern. Genaugenommen könnte man den 23. März auch als Pica-Point of no Return betrachten, also als jenen Zeitpunkt, an dem die Revolution de facto unumkehrbar wurde.

Der Vorteil, wenn man in einer Druckerei arbeitete, ergab sich in Zeiten des politischen Umschwungs vor allem daraus, dass man sein Manifest sowie dazugehörige konkrete Handlungsanweisungen selbst produzieren konnte. „So muss Selbstbestimmung, Selbstorganisation und Solidarität die oberste Prämisse der weiblich gelesenen Belegschaft sein. Auch hier sollen Männer mitgedacht werden, um der Bewegung spätere Jammerei grammatikalischer Natur zu ersparen!“ Natalja Isbnowa, gleichermaßen oberste Schriftsetzerin des Punzenlow-Werks als auch engste Vertraute von Tatjana Trockij, wählte ihre Worte weise. „Nur wenn wir mittel- bis langfristig den Staat und seine kapitalistische Todesindustrie überwinden, werden wir uns endgültig aus der Lohnsklaverei befreien können. Jede Bewohnerin der Direktdemokratischen Sozialistischen Republik Bleiletter, kurz D.S.R.P, muss gleichberechtigt an den ökonomischen Druckergebnissen beteiligt werden.“ Der nächste Absatz gestaltete sich besonders knifflig, da er dem einfachen Verständnis der geplanten Arbeitserbringung dienen sollte. „So gelte in Bezug auf das Leistungsprinzip der einfache GrundsatzJede nach ihren Fähigkeiten, jede nach ihren Bedürfnissen!“ Dass eine solch radikale Änderung des etablierten gesellschaftlichen Systems nur Schrittweise vonstattengehen konnte, erschien allerdings unumgänglich. „Darum wählt als organisatorische Notwendigkeit Arbeiterinnenräte und bezieht die anwesenden Soldaten mit ein. Nicht als Feinde wollen wir sie betrachten, sondern als wichtige Mitstreiter einer mehrheitsfähigen revolutionären Umstrukturierung. Haben wir die Soldaten auf unsere Seite gezogen, kann die Polizei scheißen gehen.“ Natalja nahm die Lettern des letzten Gliedsatzes wieder heraus und formulierte ihn neu. Im Sinne der namensstiftenden Werte „Friede und Solidarität“ erschien vernünftig, den Bullen erst einmal die Hand zu reichen. Tatjana Trockij lächelte zufrieden, als sie die aus freiem Willen vorgenommene Entschärfung der Rhetorik beobachtete. Nur wer ihre „Strategie der Deeskalation“ auch sprachlich verinnerlichte, würde im weiteren Verlauf der Revolution danach handeln können.

Während die Aufständischen es von Postergrad aus schafften, innerhalb weniger Stunden fast die gesamte streikende Arbeiterinnenschaft des Landes auf einen gemeinsamen ideologischen Kurs zu bringen, entglitt Innenminister Prospektopow die Situation zunehmend. Erst nach mehreren Makulatur-Schnäpsen hatte er sich ausreichend Mut angetrunken, um den Zaren bei seinem obligatorischen Mitternachtssnack zu stören, und ihm das ganze Ausmaß der sich anbahnenden antimonarchistischen Katastrophe zu schildern. Es gab in Retusche geschmorrtes Wildschwein mit Presseurbeeren, und der Zar wurde dermaßen wütend, dass er sich fast an einer Fettschwarte verschluckt hätte. „Uns reichet es nun endgültig! Viel zu lange habe ich darauf vertraut, dass andere ihre Arbeit zu unserer vollsten Zufriedenheit erledigen würden.“  Yikolaus versuchte seit längerem, von sich im Pluralis Majestatis zu sprechen, allerdings war er dabei äußerst inkonsequent. „Am liebsten würden wir euch an Ort und Stelle einschmelzen lassen, aber ich wüsste nicht, an wen ich mich sonst wenden muss.“ Der Innenminister war inzwischen um mehr als nur seine Karriere besorgt, denn dass der Zar sein Essen unterbrach, kam nur äußerst, äußerst selten vor. „Also, du Fehldruck von einem Staatsbeamten! Was schlägst du uns vor? Und keine Ausflüchte oder Schwindeleien mehr, wenn du nicht in einer Kellerlade der Offsetrana verschwinden willst.“ Prospektopows hätte seinen obersten Chef an dieser Stelle zu Verhandlungen, Zugeständnissen oder sogar einem würdigen Abgang animieren können. Dass ihm als Lösungsansatz primär Liquidation, Gewalt und Auflösung der Drupa einfiel, trug erst recht nicht zu einer möglichen Amtsrettung bei.

Es war nicht so, dass für den Großteil der Bleiletternen Arbeiterinnen Selbstorganisation oder die Bildung von Rätinnen völlige Fremdwörter waren. Im Gegenteil! Schon 2005 sammelte man erste Erfahrungen in puncto Aufstand und Autonomie. Damals wie heute gaben ein stattfindender Krieg sowie der autoritäre Führungsstil des Zaren Anlass für die Revolte. Seinerzeit ließ die Staatsmacht das Feuer des Sozialen Kampfes zuerst mit brutaler Polizeigewalt ersticken, um es danach durch falsche Versprechungen am erneuten Aufflammen zu hindern. Beides hatte man Yikolaus nie verziehen, weswegen es diesmal gar nicht erst zur Disposition stand, etwas anderes als seine Abdankung zu fordern. Aufbauend auf den gesammelten Erfahrungen sowie den inzwischen vorhandenen Strukturen, leistete man dem Aufruf aus Postergrad anstandslos Folge.  Die rasche Bereitschaft der breiten Masse, sich in dieser Nacht unter der schwarz-roten Fahne der Mir i Solidarnost zu vereinigen, kam dem Startschuss einer allumfassenden Revolution gleich. Die Uhren der Monarchie waren abgelaufen, ihr Schicksal besiegelt, ihre Atlasfarben am Versiegen.

Währenddessen begann dem Zaren, der zum ersten mal seit über 20 Jahren sogar auf seine Nachspeise verzichtet hatte, der Trommelscanner so richtig auf Grundeis zu gehen. Eine Hiobsbotschaft nach der anderen erreichte ihn und seinen eiligst eingerichteten Krisenstab unter der Führung von Jurij Jabalow, dem Stadtkommandanten der Postergrader Polizei. Jabalow hatte gerade erst selbst mit ein paar weiteren Offizieren in den Zarenplast flüchten müssen, weil seine Stammkaserne bereits einer internen Meuterei zum Opfer gefallen war. Vor allem niedrigere Dienstränge waren es, die es ihren soldatischen Brüdern gleichtaten, und Land ein Land aus den Dienst quittierten. Sie sahen ebenfalls nicht mehr ein, für eine verlorene Sache im schlimmsten Falle sogar ihr Leben zu lassen. Im Wesentlichen verhielten sich ohnehin nur mehr ranghöhere Militärs, vielleicht ein Drittel der Exekutive, persönliche Wachleute des Zaren sowie die gefürchtete Geheimpolizei loyal. Letztere war primär damit beschäftig zu verhindern, dass die Geschehnisse im Landesinneren an die Front durchsickerten. Sowohl Yikolaus als auch sein Krisenstab wussten nur allzu genau, dass sie in diesem Falle geliefert wären. Seinen geplanten Truppenbesuch konnte sich der Zar wohl aufdrucken, trotzdem ließ er um Punkt 04:00 sein mobiles Küchenpersonal in Bereitschaft versetzen. Als eine Stunde später immer noch keine Reaktion aus der Drupa vernommen wurde, deren Auflösung er per telegrafischem Dekret angeordnet hatte, bestellte er seine ursprünglich aus Österstab-Dramaturgien stammende Chefreiseköchin ein. Sich auf eine Flucht zu begeben, ohne dabei mit kulinarischen Köstlichkeiten versorgt zu werden, schied für Yikolaus völlig aus. Die Drupa, also das direkt vom Volk gewählte, aber relativ machtlose Unterhaus des Bleiletternen Zarenreiches, konnte auch gar nicht mehr reagieren. Einerseits, weil eine Kammer per se kaum als handelnde Person zu betrachten war, anderseits weil ihre Mitglieder bereits völlig besoffen in der Kantine herumkugelten und Revolutionslieder sangen. Jahrelang waren sie vom Zaren als pseudodemokratischer Anstrich seiner autoritären Herrschaft missbraucht worden. Und immer, wenn die Bevölkerung wieder einmal Unruhe stiftete, kam der verfressene selbstherrliche Sack auf die Idee, die Drupa aus irgendwelchen nicht nachvollziehbaren Gründen aufzulösen. Angeblich, weil man das als autoritärer Herrscher halt so machen würde. Doch dieses Mal hatten sie beschlossen, dass der Zar sie entschieden an ihrem akzidenten Arsch lecken könne. 25 Kilometer weiter südlich der Drupa stand Sanja Vena, Chefin des mobilen Küchenpersonals, mit Tränen in den Augen in ihrer geliebten Palastküche. Es war kurz nach fünf Uhr morgens und soeben hatte sie den Befehl bekommen, massenweise Signetpasteten, Steindrucksuppe sowie Schwan in Farbskalensauce einzurexen. Sanja wusste, dass eine Rückkehr an diesen so monumentalen Ort wohl nie mehr passieren würde.

Für Annelies war es am Vorabend später geworden, als ursprünglich geplant. Zwar konnte man das Zusammensitzen im Cafe Wolf nicht wirklich als Gelage bezeichnen, aber einige Getränke mussten es ja dann offensichtlich doch gewesen sein. Zumindest legten die leicht pochenden Kopfschmerzen direkt hinter ihren Schläfen diese Vermutung nahe.  Doch wer kennt es nicht. Man trifft zufällig ein paar Freunde, irgendeiner beginnt damit eine Runde zu schmeißen, die anderen ziehen aus falschem Stolz nach. Es war ein Teufelskreislauf. Und diesen Wirrwarr, den sie heute Nacht geträumt hatte. Annelies musste kurz überlegen. Diese anthropomorphisierten Lettern in Arbeitsmontur, die schwarz-rote Fahnen geschwenkt und irgendwelchen anderen Lettern in Uniformen watschen verteilt haben. Wohnhäuser und Paläste, die wie aufgestellte Schrankladen mit eingebauten Fenstern aussahen. Es war absurd. Trotzdem befand sie sich auch an diesem späten Vormittag des 24. Februars 2017 auf dem Weg ins DruckZeug. Sie hatte so einer angesagten Grazer Garage-Band versprochen, deren psychedelische Vorstellung eines Tourplakates zu verwirklichen und war gestern nicht mehr damit fertig geworden. Als sie die Druckerei erreichte, befanden sich bereits zwei ihrer Vereinskollegen, Karl und Gutenberg, vor Ort. Gutenberg hieß eigentlich Stefan, aber weil er ständig mit Karl zusammen abhing, hatte man ihm diesen ach so lustigen Spitznamen gegeben. Stefan hasste ihn. Karl und Gutenberg bemerkten Anneliese zuerst gar nicht, als sie den unteren Hauptraum betrat. Beide knieten am Boden und waren wie besessen damit beschäftigt, kleinere rote und schwarze Farbsprenkel wegzuschrubben, die sich über das gesamte Erdgeschoss verteilten. „Morgen! Was habt ihr denn aufgeführt? Eine Runde HC Strache Gedenkpaintball gespielt?“ Anneliese war sich nicht sicher, ob ihre Witzelei gut ankam, denn Karl und Gutenberg wirkten ziemlich verärgert. „Du hast Nerven, dass du nach der Sauerei die du gestern hinterlassen hast, mit so einem Spruch anfährst.“ Es war Karl, der das eher schon geschriene Wort ergriffen hatte. „Keine Ahnung was du hier getrieben hast, aber zumindest die Farbe hättest du entfernen können. Seit drei Stunden machen wir nix anderes, als die Druckerpressen zu putzen. Und was soll überhaupt der Unfug mit den ganzen Lettern im oberen Raum?“ Langsam beschloss auch Annelieses Stimme, ihrem Ton etwas mehr Aggression zu verleihen. „Alter, habt ihr zulange am Lackentferner geschnüffelt oder so? Ihr wisst ganz genau, dass ich die Werkstätte noch jedes Mal picobello sauber verlassen habe, also was soll der Quatsch?“ Gutenberg kuppelte den streiterischen Gang aus und legte den diplomatischen ein. „Wenn du es nicht warst, keine Ahnung, vielleicht wurde ja eingebrochen. Komm mit nach oben, wir müssen dir was zeigen!“

Annelies staunte nicht schlecht, als sie das zweite Stockwerk erreichten. So gut wie alle Buchstabenladen mit ihren verschiedenen Schrifttypen sowie Größen waren herausgezogen worden. Die Zwischenfächer, die der alphabetischen Trennung der Lettern dienten, hatte man teils zerbrochen, teils einfach umgekippt. Praktisch alle Buchstaben lagen in ihren jeweiligen Laden bunt gemischt auf einem Haufen und wirkten, als hätten sie eine gemeinsame Party gefeiert. Alle bis auf J, Q, X, Y und Z. Diese befanden sich isoliert von den anderen in ihren Ecken und sahen aus, als wäre auf sie geschossen worden. Bei ihrem Anblick musste Anneliese schlucken. „Leute, das hört sich vielleicht verrückt an, aber ich sollte euch von meinem Traum letzte Nacht erzählen …“

Glossar von A bis Z

AkzidentDruck- oder Satzarbeit von geringem Umfang
AtlasfarbenDruckfarben mit metallisch glänzender Oberfläche
ÄtzgravurEine Art von Edeldruckverfahren
Bedrana Brecht – EinheitsletterliedIn Anlehnung an Bertolt Brechts „Einheitsfrontlied“
Bleiletterne KaiserreichIn Anlehnung ans Russische Kaiserreich
DrupaIn Anlehnung an die russische Duma
FischladeEine Art Friedhof für ausrangierte oder „falsche“ Buchstaben
Great LetterpresstannienIn Anlehnung an Groß Britannien
IgratmalchikIn Anlehnung an den Playboy (russ. „Spieljunge“)
Jurij JabalowIn Anlehnung an Polizeigeneral Sergei Semjonowitsch Chabalow
Kaiser QuillhelmIn Anlehnung an Kaiser Wilhelm II.; Q = 10 Punkte beim Scrabble
Kaiser YarlIn Anlehnung an Kaiser Karl I. (Deutsches Reich); Yarl = Nordischer Adelstitel;  Y = 10 Punkte beim Scrabble
KamuflyazhRuss: „Tarnung“
KlischeesAllgemeine Bezeichnung für sämtliche Arten von Hochdruckplatte
LetternDrucktypen bzw. Druckbuchstaben
Makulaturnicht einwandfrei bedrucktes (Test-)Papier
Marsfalz–KaserneMarsfeld (Petrograder Gedenkstätte) + Falz (durch Falzen entstandene Knickkante im Papier)
Mir i SolidarnostRuss: Frieden & Solidarität; in Anlehnung an die polnische Solidarność
Mittelmächtigen BuchstabenländerIn Anlehnung an die Mittelmächte
MoskopierMoskau + Kopie
Näpfchen-ProspektNäpfchen = Vertiefungen im farbfüllenden Tiefdruckzylinder; In Anlehnung an die Newski-Allee (-Prospekt)
Natalja IsbnowaISBN + Natalja Sedowa (Revolutionärin & zweite Ehefrau Trotzkis)
OffsetranaOffsetdruck (Indirektes Flachdruckverfahren) + Ochrana (Geheimpolizei im russ. Zarenreich)
ÖlsteinWird vom Lithografen zum Schärfen von Klingen & Werkzeugen verwendet
Österstab-DramaturgienDrama = dramatische Struktur eines Dramas; in Anlehnung an Österreich-Ungarn
PaginaSeitenzahl eines Buches
Palexander ProspektopowIn Anlehnung Nikolai Putilow ; Gründer der Putilow-Werke
Pavlov PunzenlowPunzen = Nichtdruckende Innenflächen des Buchstabenbildes; in Anlehnung an Innenminister Alexander Dmitrijewitsch Protopopow
Pica-PointDie amerikanische Maßeinheit für die Schriftgröße in Inch
PobegRuss: „Die Flucht“
PostergradPoster (Dekorativer Druck) + Petrograd
PresseurGegendruckzylinder im Rollentiefdruck
Punzenlow-WerkIn Anlehnung an das Petrograder Putilow-Werk
PürgertumBürgertum; P = 4 Punkte beim Scrabble
QuadelAdel;  Q = 10 Punkte beim Scrabble
Quorge dem FünftenIn Anlehnung an King George V. (Groß Britannien); Q = 10 Punkte beim Scrabble
RAL 3000Farbcode Feuerrot
RAL 9005Farbcode Tiefschwarz
Ruslana RebrovIn Anlehnung an den deutschen Schlagerstar „Ivan Rebroff“ (Hans Rudolf Rippert)
Sanja VenaIn Anlehnung an Sarah Wiener
scrabbleistischeNach den Buchstabenwerten bei Scrabble gereiht
SignaturKerbe zum Erkennen der Vorderseite von Bleibuchstaben
SignetGrafisch gestaltetes Personen-, Firmen- oder Warenzeichen
StabsburgIn Anlehnung an das Geschlecht der Habsburger
SteindrucksuppeFlachdruckverfahren, bei dem von einem Lithografiestein gedruckt wird
Tatjana TrockijIn Anlehnung an Leo Trotzki
ToitschlandIn Anlehnung ans Deutsches Kaiserreich 
TonwertsibirskTonwert (Bezeichnung für den Grau- oder Farbwert innerhalb eines Bildmotivs oder Farbspektrums) + Novosibirsk
Troisième Lettre RépubliqueIn Anlehnung an die Dritte Französische Republik („Troisième République française“)
TrommelscannerDient zum Abtasten von Durchsichts- und Aufsichtsvorlagen und wurde in der Druckvorstufe eingesetzt
WortogradWort + Wolgograd
Zar YikolausIn Anlehnung an Zar Nikolaus II. (Russisches Kaiserreich); Y = 10 Punkte beim Scrabble
ZwiebelfischEin einzelner Buchstabe, der in einer anderen Schriftart oder -Schnitt als der restliche Text gesetzt wurde