dein herz, mein kopf

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Grafik: taska

wasch.gang
 

Johannes Wally
Wer sich für Cornrows, Dreads & Co interessiert, besucht am besten Mama Lee in ihrem Friseursalon in der Feuerbachgasse 7 in Graz.
Foto: Lena Prehal

Es war die vorletzte Stunde und so interessant wie dieTelenovela, zu der ihre Mutter nachmittags einschlief. Einschlafen aber durfte Elke nicht, also begann sie,ihre Haare mit einem Bleistift aufzuwickeln.In dem YouTube-Video, das ihr Dora in der Pause gezeigt hatte, war die neue Frisur nach wenigen Handgriffen perfekt gesessen. In der Geschichtsstundewardas Aufwickelnder Haare mit einem Bleistift schwieriger. Sie musste sich konzentrieren, um nicht abzurutschen. Daher hörte sie die Frage von Frau Köstinger erst, als diese sie zum zweiten Mal stellte:

Vielleicht wirst du uns etwas darüber erzählen?

Worüber?

Cornrows.

Ohne zu wissen, was das war, nickte Elke und fixierte den Haarknoten. Dass sie es geschafft hatte, ihre Haare hochzuwickeln, verbesserte ihre Laune schlagartig. Ihre gute Laune würde sie sich auch nicht von einem Referat verderben lassen. Irgendetwas würde sie schon auf YouTube finden, sie musste Dora nur noch einmal nach dem Thema fragen. Allerdings war das nicht notwendig. Frau Köstinger hielt ihr eine Klarsichthülle mit einigen Kopien hin und sah sie mahnend an: Nächste Stunde, nicht länger als zehn Minuten.


Zehn Minuten sind eine lange Zeit, wenn man über etwas sprechen muss, über das man nicht sprechen will. Lustlos setzte sich Elke nach dem Mittagessen an ihren Schreibtisch, um an dem Referat zu arbeiten. Gedämpft war das Gemurmel der Telenovela aus dem Wohnzimmer zu hören. Zu gerne wäre Elke in das Wohnzimmer gestürmt, um den Fernseher abzudrehen. Und nur zu gerne hätte sie dabei ihrer Mutter einen vielsagenden, nein einen strafenden Blick zugeworfen. Doch ihre Mutter hätte ihren vielsagenden, nein strafenden Blick einfach mit einem vorwurfsvollen Blick pariert, eine Hand auf das Blutdruckgerät und die andere auf die Brust gelegt und dabei tonlos gehaucht: ‚Mein Herz, mein Herz.‘ Nein, gegen das Leiden der Mutter gab es kein Argument, und so versuchte Elke, die Abfolge von Gemurmel und dramatischen Schwelltönen zu ignorieren und sich auf die Kopien zu konzentrieren.

Als Cornrows – so stand es auf Seite eins der Kopien von Frau Köstinger – wurde eine Flechtfrisur afrikanischen Ursprungs bezeichnet. Die Frisur war alt – mehrere tausend Jahre alt – und obwohl man Flechtfrisuren auch in anderen Gegenden fand, galten Cornrows als zentraler Bestandteil afrikanischer Kulturen. Sie waren weit mehr als eine traditionelle Haartracht. Sie waren – das war auf Seite zwei der Kopien von Frau Köstinger zu lesen – ein Identitätssymbol, ein politischer Akt, ein geheimer Code. Angeblich hatten ihn Sklaven auf südamerikanischen Plantagen verwendet, um Botschaften an ihren Herren vorbeizuschleusen. Versammlungsplätze, Fluchtzeitpunkte, sogar Fluchtrouten hätten Wissende von Form und Dicke der Zöpfe ablesen können. 

Das war faszinierend.

Elke zog den Bleistift aus dem Haarknoten und kreiste den Satz, den sie gerade gelesen hatte, mehrmals ein.

Haare als Irritation.

Haare als Rebellion.

Das war nachvollziehbar. Noch beim Mittagessen hatte ihre Mutter gemahnt: Du hast so viele schöne Haarnadeln und Spangen, warum nimmst du einen Bleistift? Und dann die Drohung als Vorschlag formuliert: Wenn dir deine langen Haare lästig sind, können wir sie auch gerne abschneiden. 

Elke kratzte sich mit dem Bleistift. Warum war ihre Mutter immer so gereizt? Und warum glaubte sie, dass man Elke mit Haareabschneiden drohen konnte? Unverständnis und Zorn wuchsen, genauso wie Gemurmel und Schwelltöne aus dem Wohnzimmer – offenbar war die Telenovela bei einem Wendepunkt angelangt. So wie Elke am Ende ihrer Geduld. Sie sprang auf, um ins Wohnzimmer zu stürmen, da klingelte eine Whatsapp-Nachricht. Elke hielt in der Bewegung inne und griff nach ihrem Telefon. Auf dem Bildschirm sah sie Doras Nachricht knapp und eine Entscheidung verlangend: Kommst du jetzt mit?


Der Kopf war der Mutter auf die Brust gesunken und sie schnarchte leise. Hilflos sah sie aus, wie jemand, dem man die vom Schweiß gekräuselten Haare aus der Stirn streichen wollte. Elke wollte den Fernsehapparat abdrehen und das Wohnzimmer wieder verlassen, da hob die Mutter den Kopf. Verwirrt sah sie ihre Tochter an, das Gesicht vom Schlaf noch konturlos. Dann lächelte sie: Was gibt es?

Ich möchte mitgehen.

Wo?

Auf die Demonstration.

Verständnislos zog ihre Mutter die Augenbrauen zusammen. Dann erinnerte sie sich und nickte wissend, nur um das Nicken gleich in ein Kopfschütteln übergehen zu lassen: Nein.

Warum nicht?

Wir haben doch schon darüber gesprochen.

Ich finde es aber wichtig. Rassismus geht uns alle etwas an. Außerdem gehen alle meine Freundinnen mit.

Deren Mütter sind auch nicht herzkrank. Ich gehöre zur Risikogruppe.

Ich weiß: Dein Herz, dein Herz.

Hasserfüllt sah Elke ihre Mutter an. Diese griff nach dem Blutdruckgerät. Elke hörte das Surren der Blutdruckmanschette, dann das Pfeifen, mit dem der Druck entwich und dann die Stille, kurz bevor die Anzeige bei einem Wert hielt. Wortlos drehte die Mutter die Anzeige so, dass Elke sie sehen konnte: 164/112.

Dagegen gab es kein Argument.


Macht das Herz nicht mit, muss man eben den Kopf benützen.

Elke klopfte, bevor sie eintrat. Auf der Facebookseite des Afroshops hatte sie gesehen, was sie haben wollte und dieses Foto zeigte sie der Frau, die gerade dabei war, eine Perücke über einen Mannequin-Kopf zu stülpen.

Hast du Zeit?

Elke nickte, und so führte sie die Frau zu einem Sessel im hinteren Teil des Geschäfts. Es dauerte, bis ihre Haare zu schmalen, an ihrem Kopf anliegenden Zöpfen geflochten waren und mehrmals musste Elke sich zusammennehmen, um nicht laut aufzuschreien. Es fühlte sich an, als würde ein kleines Tier an ihrer Kopfhaut nagen. Aber dann war die Arbeit getan, und ein prüfender Blick in den Spiegel zeigte eine neue Elke, eine Elke, deren Zöpfe eine Botschaft vermittelten, als hätte man ihr auf den Kopf geschrieben, nicht mit Bleistift, sondern mit Filzstift. Die Botschaft war unmissverständlich.

Super, sagte Elke.

Super.


Das Referat zu halten machte Spaß.

Elke redete länger als zehn Minuten, wippte dabei weder vor noch zurück und beantwortete auch die Frage, die eine Mitschülerin stellte. Als sie an Dora vorbeiging, zog diese anerkennend die Mundwinkel nach unten und hielt den Daumen nach oben. Elke saß bereits wieder auf ihrem Platz, da sah Frau Köstinger noch einmal von ihrem Notizbuch auf: Eine Frage hätte ich noch: Wie hat deine Mutter auf deine neue Frisur reagiert?

Doch Elke schien sie nicht gehört zu haben. Den Kopf geneigt, sodass man die Kopfhaut zwischen den Zopfreihen sehen konnte, kramte sie in ihrem Rucksack, als suche sie etwas, das mitzubringen schon längst nicht mehr notwendig sein sollte.