der traum von den pedalen

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Johannes Wally ◄
Fahrräder, wohin man schaut – das Lemur Bike & Bones befindet sich im Innenhof der Griesgasse 24 in Graz.
Foto: Lena Prehal

1.

Ein Albtraum wird dich wecken, dabei fängt alles ganz harmlos an.

Wie?, hat Hannah gerufen und dabei ihre kurzsichtigen Augen aufgerissen: Du kannst nicht Rad fahren?

Nein.

Hat es dir niemand beigebracht, als du klein warst?

Nein.

Du bist froh, dass Hannah nicht wissen wollte, warum es dir niemand beigebracht hat. Du hättest nicht erklären können warum. Aber Hannah hat nicht nachgefragt, sondern dich an der Hand genommen, energisch und fürsorglich, wie es Menschen tun, die wissen, was gut für dich ist, und erklärt: Das müssen wir ändern.

2.

Du bist vielleicht ein Träumer, aber kein Idiot.

Deshalb bezweifelst du auch, dass man unbedingt ein Fahrrad kaufen muss, um das Fahrradfahren zu erlernen. Man könnte sich auch eines ausborgen. Doch Hannah meint, dass man das Radfahren in deinem Alter nur erlernt, wenn man eine Verpflichtung eingeht. Und ein paar hundert Euro sind selbst für eine gut gefüllte Geldbörse eine Verpflichtung, und deine Geldbörse ist nicht sonderlich gut gefüllt.

Jetzt stehst du vor dem Fahrradgeschäft inmitten eines Innenhofs im 5. Grazer Stadtbezirk, links von dir Hannah, rechts von dir der Besitzer des Fahrradgeschäfts. Er stellt vor dir ein Rad ab, das für deine Zwecke viel zu teuer ist. Der Rahmen ist silbergrau und schlank, die Enden des Lenkers geschwungen wie Bugwellen. Könntest du Rad fahren, könntest du mit diesem Rad richtig gut Rad fahren.

Der Besitzer des Fahrradgeschäfts legt dir die Vorzüge des Fahrrads dar: der Rahmen diamantförmig, die Räder scheibengebremst, die Kettenschaltung präzise. Doch du müsstest diese Vorzüge gar nicht kennen. Die Form des Fahrrads hat deine anfänglichen Zweifel bereits zerstreut. Mehr noch, sie hat dich in ihren Bann gezogen. Denn diese Form ist ein geflüstertes Versprechen, verrucht und glamourös wie eine Affäre aus den 1950er-Jahren, vorzugsweise an der Côte d’Azur und mit Brigitte Bardot.

Du musst dieses Rad besitzen.

Ohne viel nachzudenken nimmst du den Lenker des Rads und hebst ein Bein, um aufzusteigen, elegant und lässig, wie du es so oft schon gesehen, aber selbst noch nie getan hast. Doch kaum, dass du das Bein über das Oberrohr geschwungen hast, spürst du ein Stechen in der Leiste, so spitz und so tief, dass du aufschreien könntest. Den Schrei kannst du unterdrücken, doch das Gleichgewicht nicht halten. Du wärst gestürzt, hätte Hannah dich nicht gestützt.

Als du wieder mit beiden Beinen am Boden stehst und das Stechen in der Leiste nachlässt, lachst du, als sei das alles nur ein Versehen. Der Besitzer des Fahrradgeschäfts sieht dich zweifelnd an. Du aber erklärst ihm wortreich und als ob du ihn überzeugen müsstest, dass du das Fahrrad kaufst.

Du wärst ja ein Idiot, wenn du es nicht tätest.

3.

Doch ein paar Tage später sitzt du nicht im Sattel deines zweirädrigen Versprechens, sondern liegst mit gespreizten Beinen auf dem Untersuchungstisch eines emeritierten Professors für Urologie, der dir auf private Rechnung sofort einen Termin gegeben hat.

Gut, dass Sie kommen, sagt er beinahe freundlich.

Tatsächlich ist die Diagnose, die der emeritierte Professor nach Tastbefund und Ultraschall stellt, niederschmetternd. Du bist wehrlos und nimmst es sogar hin, dass der Professor beim Aufnehmen deiner Daten als Beruf „Verkäufer“ angibt, obwohl du „Sales Manager“ gesagt hast.

Als dir nach der Untersuchung die Sprechstundenhilfe eine Laborüberweisung in die Hand drückt, wirft sie einen Blick auf die Diagnose und fragt erstaunt: Fahren Sie so viel Fahrrad?

4.

Hannah hält deine Hand, als du ihr von der Diagnose berichtest. Sie tut es jedoch nicht, wie es Menschen tun, die wissen, was gut für dich ist, sondern unbeholfen und mit feuchten Fingern. Keine Woche später kreist eine Oberärztin die Stelle, an der du operiert werden sollst, mit einem roten Filzstift ein. Ihre Bewegungen sind nicht fürsorglich, sondern energisch und effizient, und als du halb scherzend, halb fürchtend fragst, ob sie auch die richtige Stelle eingekreist hat, sagt sie ohne Anflug von Humor: Ja.

5.

Alles geht sehr schnell.

Du wirst operiert.

Du wirst mit fünf anderen Patienten in ein Zimmer gelegt.

Du wirst mit Chemikalien vollgepumpt.

Du bittest Hannah, dass sie dir ein Foto von deinem silbergrauen Fahrrad bringt, das nach wie vor im Fahrradgeschäft inmitten eines Innenhofs im 5. Grazer Stadtbezirk auf seine Abholung wartet. Du willst das Foto, gefasst in einen schwarzen Holzrahmen, auf dein Nachtkästchen stellen. Du willst nichts Digitales. Du willst etwas zum Anfassen, etwas, das nicht mit einer gedankenlosen Handbewegung weggewischt werden kann.

Digital sind jedoch deine Recherchen. Auf dem Touchscreen deines Mobiltelefons liest du von einem Radsportler, der nach überstandener Krankheit noch sieben Mal die Tour de France gewonnen hat.

Dieses Wissen ist ermutigend. Es spricht nichts dagegen, dass du – sobald du wieder gesund bist – das Fahrradfahren erlernst und mit einem geflüsterten Versprechen dorthin fährst, wo du hinwillst und von dort weg, wo du nicht sein willst.

Nichts spricht dagegen. Denn langsam, sehr langsam, geht es dir wieder besser.  

Dann aber hast du diesen Traum:  

Inmitten eines Innenhofs im 5. Grazer Stadtbezirk stehst du vor deinem Fahrrad, das so verlockend ist wie ein geflüstertes Versprechen, und du schwingst dich in den Sattel, um in die Pedale zu treten, sodass du losfahren kannst dorthin, wo du hinwillst, und von dort weg, wo du nicht sein willst, doch, als du in die Pedale treten willst, trittst du nicht in die Pedale, sondern ins Leere, denn deinem Fahrrad, diesem silbergrauen Versprechen von Côte d’Azur und Brigitte Bardot, fehlen die Pedale, dort, wo die Pedale sein sollten, ist einfach nichts, nichts ist dort, und du kannst die Balance nicht halten und du fällst und fällst und fällst.

Jedes Mal.

6.

Die Abteilungspsychologin hat keine Schwierigkeiten diesen Traum zu deuten: Die fehlenden Pedale – nach allem, was Sie durchgemacht haben … das liegt ja wohl auf der Hand.

Hannah findet ihre Erklärung einleuchtend.

Du nicht.

Du beschließt, ab sofort mit der Abteilungspsychologin nicht mehr zu sprechen. Allerdings schüttelst du ihr die Hand, als die Sitzung vorbei ist, so wie du auch den Stationsschwestern und der Oberärztin am Tag deiner Entlastung die Hand schüttelst. Das verlangt die Höflichkeit, außerdem haben sie sich gut um dich gekümmert. Dass sie Träume nicht interpretieren, geschweige denn weginterpretieren können, willst du ihnen nicht anlasten. Das ist nicht Teil ihrer job description. Sie haben nie gelernt, mit außerfleischlichen Tatsachen zu rechnen, obwohl sie das eigentlich schon in ihrer Famulatur hätten erlernen sollen.

7.

Langsam, sehr langsam geht es dir besser.

An das Erlernen des Radfahrens ist natürlich nicht zu denken. Jeder Schritt vor die Haustür ist nicht nur kräftezehrend, sondern auch gefährlich. Ein paar Jahre bevor das üblich wird, gehst du nur mit Gesichtsmaske spazieren und vermutest in jedem Passanten eine Bedrohung.

Doch du wirst nicht krank. Du wirst immer stärker, immer gesünder.

Wenn da nicht der Traum wäre.

8.

Schließlich reicht es dir. Obwohl Hannah dir abrät, machst du dich auf den Weg und widerwillig macht sich Hannah mit dir auf den Weg. Fürsorglich nimmst du sie an der Hand.

Du weißt, was gut für dich ist.

Es dauert, bis ihr beim Fahrradgeschäft in einem Innenhof des 5. Grazer Stadtbezirks angekommen seid. Zielstrebig betrittst du das Geschäft, an dessen Ziegelwänden Rahmen und Reifen hängen und auf dessen Boden Fahrrad neben Fahrrad steht. Du grüßt und verlangst nach deinem Fahrrad. Der Besitzer des Fahrradgeschäfts nickt und schiebt das Fahrrad vom hinteren Teil der Werkstatt in den Innenhof, wo er es vor dir abstellt. Im sanften Spätsommerlicht kannst du dein silbergraues Fahrrad, dieses geflüsterte Versprechen von Côte d’Azur und Brigitte Bardot bewundern.

Es hat Pedale, hauchst du dankbar.

Und dann tust du, was du schon seit Monaten tun willst.

Stütze mich, sagst du zu Hannah und hebst das Bein und schwingst dich in den Sattel. Dein Fuß findet den Widerstand des Pedals und weil Hannah dich stützt, tut das auch dein zweiter Fuß. Es hat Pedale, wiederholst du. Und obwohl du weißt, dass das keine gute Idee ist, weil du weder dorthin fahren kannst, wo du hinwillst, noch von dort weg, wo du nicht sein willst, trittst du in die Pedale und rufst Hannah, die hinter dir steht und dich stützt, zu: Lass los, Hannah.

Lass los.