Mirjam Bauer (Sozialarbeiterin in der Notschlafstelle/Übergangswohnunterkunft Vinzitel) im Gespräch über Wege aus der Wohnungslosigkeit, Hürden und Diskriminierung am Grazer Wohnungsmarkt und politische Handlungsspielräume.
Grazotopia: Bitte könnten Sie etwas über das Vinzitel erzählen?
Mirjam Bauer: Das Vinzitel ist eine Mischform aus Notschlafstelle und Übergangswohnunterkunft für volljährige inländische Männer und Frauen und ihnen Gleichgestellte. Es ist Teil der Vinzenzgemeinschaft Eggenberg. Die Menschen können – wenn sie aufgenommen sind – auch untertags bei uns sein und bis zu drei Monate bleiben. Für eine Aufnahme ist nicht die Staatsbürgerschaft wichtig, sondern ob jemand über ein Einkommen in Österreich verfügt – z. B. Lohn, Mindestsicherung oder Arbeitslosengeld. Wir sind die einzige Notschlafstelle in Graz, die für Männer und Frauen als auch für Paare offen ist.
Bei uns im Haus gibt es drei fix angestellte Mitarbeiterinnen mit psychosozialer Ausbildung. Ein Großteil unserer Dienste wird auch von ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen abgedeckt.
Deckt das Vinzitel ganz Graz ab oder nur bestimmte Bezirke?
Es gibt keine regionale Einschränkung. Die meisten, die zu uns kommen, sind in Graz oder in umliegenden Gemeinden wohnungslos geworden – wobei auch viele Menschen aus der übrigen Steiermark kommen. Nicht jeder österreichische Bezirk hat eigene Notschlafquartiere. Das heißt, es kommen auch Menschen aus Leibnitz oder Bad Aussee und vereinzelt aus anderen Bundesländern. Menschen kommen nach Graz, weil das Angebot vor Ort oft fehlt und weil größere Städte, zumindest in der Vorstellung, mehr Möglichkeiten und Anonymität bieten.
Wie steht es in Graz um leistbares Wohnen und welche Rolle spielt der Gemeindewohnbau?
Gemeindewohnungen wären eine gute Möglichkeit, um Menschen mit niedrigem Einkommen leistbaren Wohnraum zu bieten. Vor drei Jahren (Anm.: 2017) sind die Richtlinien in Graz geändert worden. Um aktuell Anspruch auf eine Gemeindewohnung zu haben, muss man unter anderem fünf Jahre durchgängig in Graz gemeldet sein. Für einen Großteil jener, mit denen wir arbeiten, ist das als Möglichkeit für leistbaren Wohnraum nicht vorhanden. Zum einen, weil sie vielleicht erst seit kurzem in Graz sind und zum anderen, weil es gerade bei länger andauernder Wohnungslosigkeit eine durchgängige Meldung de facto nicht gibt. Schon bei einer Meldelücke von nur zwei Tagen ist der Anspruch weg.
Da es relativ viel Leerstand bei den Gemeindewohnungen gibt, gab es als Reaktion darauf Mitte März 2020 erneut eine Änderung. Der Zugang für Menschen, die z. B. erst kürzer in Graz gemeldet sind oder Meldelücken haben, wird jedoch nicht wieder geöffnet, sondern es werden die Einkommensgrenzen erhöht, wodurch nun auch Menschen mit höherem Einkommen Anspruch auf Gemeindewohnungen haben. Auch das Punktesystem, das jene priorisiert, die rasch Wohnraum brauchen, wird ausgehebelt. Das sind Entwicklungen, die es den Menschen, mit denen ich arbeite, noch einmal schwieriger machen.
Für Menschen, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind, ist wohnungslos zu sein oft nur ein Problem von vielen bzw. nur ein Symptom. Am Privatwohnungsmarkt ist es für gewisse Personengruppen nicht leicht eine Wohnung zu finden – manche Menschen sind durch Suchterkrankungen, das Leben auf der Straße oder eine psychiatrische Diagnose auffälliger. Selbst bei einem regelmäßigen Einkommen gibt es eine Konkurrenz am Wohnungsmarkt und Vermieter*innen, die sich für andere entscheiden. Da gibt es sicher viel Diskriminierung.
Welche Auswege gibt es in Graz für Menschen, die aufgrund hoher Mietpreise und Diskriminierung keinen Zugang zum privaten Wohnungsmarkt und wegen der restriktiven Richtlinien auch keinen Anspruch auf eine Gemeindewohnung haben?
Es gibt Menschen, für die es fast schon unmöglich ist zu wohnen. Zum einen gibt es Einrichtungen, in denen Menschen länger bleiben können und zum anderen gibt es die sogenannten Beherbergungsbetriebe. Das sind gewissermaßen Dauerpensionszimmer, die für viele Menschen oft eine der wenigen Möglichkeiten sind längerfristig zu wohnen. Das Problem ist, dass hier kein Schutz durch das Mietrecht besteht. Die Beherbergungsgeber entscheiden, wie lange jemand bleiben kann und geben auch Mieterhöhungen und andere Regeln vor. Im Vergleich zu regulären Mietwohnungen sind die Wohnungen günstiger, aber im Verhältnis zu dem, was sie bieten, sind sie oft halsabschneiderisch – teilweise sind diese Substandard mit Kakerlaken, Schimmel und Gemeinschaftsdusche am Gang. Wenn man für ein solches Zimmer dann trotzdem 300 oder 250 Euro bezahlt, dann ist das ein Irrsinn!
Es gibt auch ganz viele andere, informelle Formen der Unterbringung. Viele Menschen kommen z.B. über längere Zeit bei Freund*innen unter.
Die letzte Studie zu Wohnungslosigkeit in Graz wurde 2017 von der BAWO (Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe) durchgeführt, davor gab es speziell zu Graz nur eine Studie aus dem Jahr 2004. Welche Entwicklungen zeichnen sich in Graz aus Ihrer Perspektive ab?
Aus Sicht einer Einrichtung ein Gesamtthema abzuleiten ist schwierig. Wenn es keine Vergleiche über die Jahre oder Jahrzehnte gibt, ist es schwierig abzuleiten, wie sich Wohnen und Wohnungslosigkeit verändert. Die Studien, die Sie angesprochen haben, wurden von Praktiker*innen aus dem Feld der Wohnungslosigkeit (Arbeitskreis Forum Wohnen) gefordert und forciert. Es war klar, dass es aktuelle Zahlen braucht, um zu visualisieren, wie viele Menschen wohnungslos sind und in welchen Situationen sie sich befinden. Es gab dafür viel Zusammenarbeit mit der BAWO und mit Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, um Menschen zu erfassen, die bei einem Angebot andocken. Was man dadurch nicht erfasst, ist verdeckte Wohnungslosigkeit – also Menschen, die nicht bei Einrichtungen andocken, was gerade auch bei Frauen ein Thema ist.
Aus unserer Sicht wäre es interessant, Wohnungslosigkeit regelmäßig zu erheben, um Veränderungen zu sehen. Aber das muss auch jemand finanzieren und in Auftrag geben. Das eine ist es, Zahlen zu erfassen, das andere, sich strategisch Gedanken zu machen – es braucht so eine Art Sozialplanung und ein Bekenntnis von der Stadt Graz, sich dem Thema zu widmen.
Sie haben kurz erwähnt, dass Wohnungslosigkeit bei Frauen öfter verdeckt ist. Können Sie die Gründe dafür noch etwas genauer beschreiben?
Frauenwohnungslosigkeit stellt sich oftmals anders dar, da vielleicht auch andere Wege der Unterkunft gewählt werden. Frauen verbleiben vielleicht öfter in Beziehungen, auch wenn sie Gewalt ausgesetzt sind. Sie bleiben oft in dieser prekären, aber trotzdem wohntechnisch sichereren Situation, bevor sie ein Angebot aufsuchen. Auch fällt es Frauen vielleicht leichter, an persönliche und familiäre Beziehungen anzuknüpfen und dort unterzukommen. Ein Grund, wieso Frauen in Studien weniger erfasst sind, könnte auch sein, dass sie weniger im öffentlichen Raum in Erscheinung treten.
Mit welchen Problemen werden die Menschen, mit denen Sie arbeiten, am Grazer Wohnungsmarkt konfrontiert?
Die größte Hürde, wenn es um Wohnraum geht, sind die monatlichen Kosten und die Einstiegskosten – also Kautionen oder Provisionen. Mittlerweile gibt es vom Land Steiermark den Kautionsfonds. Man kriegt dadurch relativ schnell ein zinsloses, zweckgewidmetes Darlehen, das man über mehrere Jahre zurückzahlt. Das ist eine große Hilfe. Eine Provision zu finanzieren ist hingegen sehr schwierig für Menschen, die aus der Notschlafstelle kommen, oftmals Mindestsicherung beziehen und auf null Erspartes zurückgreifen können.
Wenn ich so schaue, was Erstbezugswohnungen kosten, sind wir da weit weg vom leistbaren Wohnen. Es ist relativ schwierig eine kleine Garçonnière um 500 Euro zu finanzieren, wenn die Mindestsicherung für eine alleinstehende Personen aktuell bei 917 Euro liegt. In Graz wird massiv gebaut, aber die Frage ist: Welche dieser Wohnungen ist für die Zielgruppe, mit der ich arbeite, relevant oder leistbar?
Was wären die wichtigsten politischen Schalthebel?
Ich glaube, dass bei den Gemeindewohnungen einiges überdacht werden muss. Gemeindewohnungen müssen ein Mittel der Sozialpolitik sein. Ich kann mir vorstellen, dass sich die Stadt mehr dazu bekennen könnte, Wohnraum zu schaffen und auch mehr regulierend einzugreifen. Die Nachfrage nach Wohnraum ist groß und wenn man das nicht steuert, gibt es Verlierer*innen.
Sehr viele Handlungsspielräume liegen nicht bei der Stadt. Was sollte Ihrer Meinung nach auf Landes- oder Bundesebene geändert werden?
Wohnen ist ein Menschenrecht und ich würde das als ganz starkes Bekenntnis sehen, wenn die Republik sich dazu bekennt und es in der Verfassung verankert. Auch die Stadt Graz als Menschenrechtsstadt könnte sich dazu bekennen. Das wäre ein großes Signal. Wenn ein Recht auf Wohnen in der Verfassung verankert ist, hat man auch ganz andere Möglichkeiten es einzufordern.
Mietobergrenzen oder Provisionen sind, glaube ich, auch etwas, dass den Bund betrifft. Aber es gibt auch Handlungsspielräume der Länder. Es könnten auf vielen Ebenen Möglichkeiten geschaffen werden, aber ich denke mir, vieles muss von der Politik auch gesehen werden. Es ist auch eine Frage des Wollens und der Haltung.
Zum Abschluss habe ich noch eine Frage zur aktuellen Situation: Was muss getan werden, damit es durch die Corona-Krise nicht zu mehr Wohnungslosigkeit kommt?
Für mich wurde umso mehr deutlich, dass Wohnungen für Menschen sinnvoller sind als Einrichtungen für Menschen – also in Richtung „Housing First“. Es wäre der sinnvollere Weg, sehr rasch Wohnraum und ein freiwilliges Unterstützungsangebot zur Verfügung zu stellen. Das wäre besser als große Einrichtungen für viele Menschen zu betreiben, in denen ein Schutz und Privatsphäre nicht gegeben ist.
Ein anderer Punkt ist, dass sich der Staat dazu bekennen sollte, verstärkt präventiv zu arbeiten. Es war schon vorher wichtig, Wohnraum, Beratungs-, Betreuungs- sowie Präventivangebote zur Verfügung zu stellen. Ich glaube, dass es in der aktuellen Situation noch stärker sichtbar wird – da zeigt sich die Wichtigkeit.nterview und Transkript: Adina Camhy)