die notwendigkeit einer anderen wohnpolitik: wohnungslosigkeit auf vielen ebenen begegnen

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Interview: Adina Camhy; Transkript: Bettina Landl ◄

Heinz Schoibl (freiberuflicher Sozialwissenschaftler, Vorstand der BAWO) im Gespräch über aktuelle Entwicklungen der Wohnpolitik in Graz, schwindenden leistbaren Wohnraum und „Housing First“ als Alternative zur traditionellen Wohnungslosenhilfe.

Grazotopia: Sie haben 2004 und 2017 für die Stadt Graz an Studien zum Thema Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit mitgewirkt. Wie ist die Situation in Graz?
Heinz Schoibl:
Für Graz gilt nach wie vor das große Manko, dass Wohnungslosenhilfe eigentlich nur in der Stadt Graz vorkommt. Man klammert die arbeitsbedingte Binnenwanderung aus und achtet nicht darauf, armutsbedingte Abwanderung zu verhindern. Wir haben festgestellt, dass viele aus den Bezirken kommen, was bedeutet, dass die Stadt eine Fleißaufgabe für die Bezirke übernimmt. Die Situation in Graz ist auch insofern schwierig, weil sich seit dem Wechsel des Wohnressorts zur FPÖ zentrale Prämissen verändert haben. Der Zugang zu Gemeindewohnungen wurde verschärft.

Die Zustände decken sich mit denen in anderen Landeshauptstädten wie Wien oder Innsbruck. Das Besondere ist aber, dass es im Bereich der Wohnungslosenhilfe wenig Fluktuation gibt, dass die Vermittlung in eine eigene Wohnung, das heißt die Ablöse aus der Wohnungslosigkeit, schwer fällt und keine neuen Fälle – Personen, die wohnungslos werden, geworden sind oder zuwandern – aufgenommen werden können, weil die Einrichtungen voll sind. In Graz herrscht zurzeit (Anm.: April 2020) akuter Wohnungsbedarf. Dringliche Versorgungsfälle können nicht berücksichtigt werden. Wartelisten werden geführt, aber keine neuen Plätze geschaffen und auch das Personal nicht aufgestockt. Wohnprojekte wie die Wohnplattform und das „Housing First“-Projekt müssen wohnungslose Menschen abweisen, weil niemand aufgenommen werden kann.

Was hat sich seit der Studie 2017 im Bereich Leistbarkeit des Wohnens verändert?
Als unmittelbare Reaktion auf die Studie wurde vom Wohnressort (Elke Kahr, KPÖ) unter anderem der Kautionsfonds ausgeweitet und andere Maßnahmen zur Priorisierung („Wer wohnungslos ist, kommt schneller in eine Gemeindewohnung.“) vorgenommen. 2017 hat der Ressortwechsel zur FPÖ (Mario Eustacchio) stattgefunden und als eine der ersten Aktionen wurde die Zugangsfrist auf fünf Jahre verlängert und die Wohnversorgung von wohnungslosen Menschen nicht mehr mit Priorität geregelt. Insofern hat sich der Konnex Wohnungslosenhilfe und Wohnpolitik verschlechtert. Was sich sonst getan hat, sind Kleinigkeiten: Es wurde vermehrt Angebot geschaffen für Notreisende und die temporäre Wohnungs- und Obdachlosigkeit von Menschen, die zum Betteln oder aufgrund von Gelegenheitsarbeit nach Graz kommen, wurde verbessert, Housing-First-Angebote wurden modellhaft für Frauen in Wohnungsnot eingerichtet aber nicht im Sinne einer Beendigung von Obdachlosigkeit ausgebaut. Das Modell Housing First verknüpft Wohnversorgung und nachgehende Betreuung und gründet auf der Erkenntnis, dass es einfacher ist, persönliche Probleme (Krankheit, Behinderungen, Schulden etc.) zu bearbeiten, wenn die Wohnsituation gesichert ist. Im Vergleich zu traditioneller Wohnungslosenhilfe liegt die Verbleiberate in den vermittelten Wohnungen bei Housing First über 90%, denn mit dem Einzug in eine Wohnung beginnt im Grunde erst die eigentliche Betreuungsarbeit – freiwillig und in der Regel solange wie nötig.

Wie ist Ihre Einschätzung der allgemeinen Wohnsituation in Graz und wie hat sich diese in den letzten Jahren entwickelt?
Graz ist, was die wohnpolitischen Entwicklungen betrifft, leider keine Ausnahme. Der große Vorteil – ähnlich wie in Wien und Linz – ist der relativ große Bestand an gemeindeeigenen Wohnungen. Von daher funktionieren kommunale Wohnpolitik und Wohnversorgung über Gemeindewohnungen und das Segment der gemeinnützigen Wohnungen relativ gut. „Relativ gut“ im Vergleich zu Bregenz, Innsbruck oder Salzburg, wo es keine nennenswerten Bestände an stadteigenen Wohnungen gibt und diese Möglichkeit – dieses Potenzial – nicht in dem Ausmaß gegeben ist.

Seit knapp 30 Jahren wird in Graz die Sanierung des Altbestandes forciert. Das heißt, günstiger Kategorie C- und D-Wohnungsbestand wird mehr oder weniger beseitigt: Wohnungen – auch geförderte Wohnungen und Mietkaufwohnungen – fallen aus der Gemeinnützigkeit (Sozialbindung) zunehmend heraus und rutschen in den privaten Wohnungsmarkt. Und da gibt es in Graz wie auch in allen anderen Landeshauptstädten eine sehr, sehr starke Teuerung in den letzten Jahren – in Graz nicht so ausgeprägt wie in Wien, Salzburg oder Innsbruck. Unter anderem, analog zu Linz, weil der Bestand an Gemeindewohnungen noch relativ groß ist. Das heißt, die Situation hat sich verschärft. Die Segmente des privaten Wohnungsmarkts werden größer, denn es wird vor allem in diesen Bereich investiert. Damit wird leistbarer Wohnungsbestand kleiner, wohingegen teurer Wohnungsbestand größer wird. Zudem gibt es die Tendenz, wie in anderen Städten, dass privater Wohnraum nur mehr befristet vermietet wird und alle drei Jahre ein neuer Mietvertrag notwendig ist, mit entsprechenden Teuerungen und den entsprechenden Nebenkosten. Das heißt, wir haben eine Wohnpolitik, die stark in Richtung Eigentum und Schutz des Eigentums geht und weggeht von traditionellen Elementen: Zugang zu Wohnen zu ermöglichen, Leistbarkeit von Wohnen zu erhalten und den Bestand an günstigen Wohnungen zu sichern.

Kann man sich das Wohnen noch leisten, wenn die Mietpreise deutlich schneller steigen als das durchschnittliche Haushaltseinkommen?
In Salzburg und Innsbruck ist die Scherenbewegung noch viel deutlicher ausgeprägt als in Graz. Mit jeder Neuvertragserrichtung ist es im privaten Wohnungsmarkt bei Wohnungen, die nicht in den Vollanwendungsbereich des Mietrechts fallen, mehr oder weniger freigestellt, die Mietkosten zu erhöhen (Stichwort: Befristete Mietverträge) – auch über die Indexsicherung hinaus. Für die Mieter*innen bedeutet die Befristung zudem, dass sie keinen Rechtsanspruch auf Verlängerung haben. Das Mietrechtsgesetz wurde in den letzten 20 Jahren nicht sinnvoll erneuert und immer mehr Wohnungen fallen aus dem Anwendungsbereich des Mietrechts.

Was sind die Instrumente hier entgegenzuwirken und geeignetere Bedingungen zu schaffen, um die Leistbarkeit des Wohnens zu verbessern?
Es ist insofern schwierig, weil die kommunale Verwaltung für den privaten Wohnungsmarkt so gut wie keine Kompetenzen hat. Die Stadt Graz kann so wie Salzburg oder Innsbruck nur an den Bund appellieren, das Mietrechtsgesetz zu ändern, sprich den Vollanwendungsbereich wieder zu erneuern. Kommunale Kompetenzen liegen nur darin, im Bereich der Wohnbauförderung und der Raumordnung Einfluss zu nehmen, ob und in welchem Ausmaß geförderte Wohnungen errichtet werden. Hier kann sich die Stadt dafür einsetzen, dass geförderte Mietwohnungen errichtet werden, denn Eigentumswohnungen fallen innerhalb von 15-20 Jahren aus der Sozialbindung, sprich wandern in den Bereich des privaten Wohnungsmarkts ab. Auch im Bereich Mietkaufwohnungen ist die Sozialbindung befristet. Nach beispielsweise 10 Jahren fallen diese Wohnungen aus der Sozialbindung heraus und können nahtlos in den privaten Wohnungsmarkt wechseln, können auch vermietet werden. Insofern: Die kommunalen Kompetenzen sind beschränkt auf den Bereich der Gemeindewohnungen sowie auf Wohnungen der Gemeinnützigen, auf die sie ein Zuweisungsrecht haben. Hier können Zugänge geschaffen, Vergabekriterien geregelt und nach sozialen Kriterien gestaltet werden.

In der Wohnungslosenhilfe ist die Entwicklung sehr, sehr zögerlich. Hier hätte die Stadt durchaus Möglichkeiten, Prävention von Wohnungslosigkeit zu priorisieren. Hieße: Es darf keine Delogierung geben, ohne dass eine Alternativwohnung bereitgestellt wird. Was in der Regie der Stadt liegt, wäre z. B. das Entlassungsmanagement aus Haft oder Psychiatrie bzw. Kuraufenthalten so zu verbessern, dass es keine Entlassung in die Wohnungslosigkeit gibt. Die Stadt hätte hier die Möglichkeit, die Kooperationsschiene mit dem Entlassungsmanagement aus Psychiatrie und Justiz auszubauen, um sicherzustellen, dass nicht Wohnungslosigkeit geschaffen wird.

Welche Maßnahmen sind vonseiten des Landes möglich, um Mieter*innen zu unterstützen?
Die klassische Methode (vgl. Wien oder Salzburg) ist die Vertragsraumordnung: (1) Vergabe von Baurechten auf Grundstücke temporär limitieren. (2) Keine Vergabe oder Zuweisung auf „immerwährend“, sondern befristet auf beispielsweise 100 Jahre. (3) Baurecht an die Bedingung koppeln, einen bestimmten Anteil des Grundes für geförderte Mietwohnungen zu widmen und (4) Grundsatzentscheidung: Fördere ich Mietwohnungen oder gefördertes Eigentum? Das obliegt grundsätzlich den Ländern und Gemeinden. (Dieses Instrument spielt Wien zz. offensiv.) Es gibt viele Möglichkeiten, Wohnen leistbar zu machen – zumindest im Segment des öffentlich geförderten Wohnungsmarkts. Und bei einem entsprechenden Anteil von geförderten oder preisgebundenen Wohnungen am Gesamtwohnungsbestand gibt es, was die Preisgestaltung betrifft, auch für den privaten Wohnungsmarkt einen dämpfenden Nebeneffekt. Die Änderung des Gemeinnützigkeitsgesetzes und die Verpflichtung Mietkaufmodelle aufzulegen, geht in die entgegengesetzte Richtung.

Wie sieht die Rolle des Bundes aus? (Stichwort: Recht auf Wohnen)
Das ist eine Frage der Verfassung und nicht des Mietrechtsgesetzes. Seit Jahren gibt es bloß den Versuch, eine Reform anzustoßen. Das liegt auch an der äußerst mächtigen Lobby der Haus- und Wohnungsbesitzer*innen. Diese sitzt in Kommissionen und verhindert eine mieter*innenfreundliche Reform des Mietrechts. Da bräuchte es eine politische Entscheidung, aber die Justizminister*innen der letzten Jahrzehnte haben es verabsäumt, da etwas weiterzubringen. Der Bund hat in den vergangenen Jahren viel in den Bereichen gemacht, Agenden zu verländern – das heißt, den Bundesländern Kompetenzen zuzuschreiben – in der Raumordnung, der Wohnbauförderung; und hat sich mehr und mehr aus der wohnpolitischen Verantwortung herausgenommen, bis auf Miet- und Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz, die nach wie vor in der Bundeskompetenz liegen, aber kaum novelliert wurden – und wenn dann tendenziell mieterfeindlich .

Österreich hat sich ja den „Lapsus“ erlaubt, zwar die Europäische Sozialcharta (ESC) zu ratifizieren, hat dabei aber dezidiert die Paragrafen 30 und 31 ausgeklammert. Das heißt, in Österreich gilt kein Recht auf Schutz vor Armut, Ausgrenzung und Wohnungslosigkeit – das von Europa normiert bzw. vorgeschlagen wäre. Und es gibt gemäß §31 daher auch kein Recht auf Wohnen. Das Mietrechtsgesetz selber braucht dringend eine Reform, weil nur mehr knapp 20% des Wohnungsbestands in den Vollanwendungsbereich des Mietrechts fallen und knapp 80% jenseits des Mietrechts liegen. Jährlich fallen mehr Wohnungen aus dem Anwendungsbereich des Mietrechts als neu errichtet werden.

Was sind, die Stadt Graz betreffend, die wichtigsten einzufordernden politischen Maßnahmen?
Vordringlich die Rücknahme und radikale Veränderung der Vergabekriterien für gefördertes Wohnen und Gemeindewohnungen: (1) Weg mit der Fünfjahresfrist und her mit einer Priorisierung der Verhinderung von Wohnungslosigkeit; (2) Strikte Einführung der Vertragsraumordnung: Keine Neuausweisung von Bauland ohne die Bindung an die Errichtung von geförderten Wohnungen (Mietwohnungen); (3) Keine geförderten Eigentumswohnungen mehr errichten, die Priorität soll eindeutig auf dem Mietwohnungsbestand liegen; (4) Neuregelung der Vergabekriterien und des Prozederes der Vergabe (Bsp. Vorarlberg: Wartefrist 0/1 Tag, keine örtliche Bindung an die Vergabe von Gemeindewohnungen, soziale Kriterien werden prioritär durchgezogen – wenn es soziale Kriterien für einen Wohnbedarf gibt, werden diese Haushalte bevorzugt. Vorarlberg hat außerdem modellhaft die Kooperation von Wohnungslosenhilfe und Wohnungswirtschaft eingeführt und der Wohnungslosenhilfe Kompetenzen bei der Vergabe von geförderten Wohnungen eingeräumt.)

Was für Graz ganz elementar notwendig wäre, ist (5) endlich eine kommunale Wohnungslosenhilfeplanung in die Wege zu leiten und umzusetzen. Es sollte endlich mit einer planmäßigen Entwicklung angefangen werden! Konzepte und strategische Überlegungen fehlen. (6) Auch Graz bräuchte eine „Housing First“-Strategie (vgl. Wien) als neues Instrument der Wohnungslosenhilfe.