gentrifizierung am beispiel graz lend

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Rainer Rosegger (Soziologe und Stadtforscher, Initiative Stadtraum Graz) ◄

Über Jahrhunderte war Graz eine „geteilte“ Stadt. Der Bereich zwischen Gries- und Lendplatz lag historisch direkt vor der mit Mauern befestigten bürgerlichen Stadt Graz rund um den Schlossberg. Mit dieser Trennung ging auch eine sozioökonomische Teilung einher: In der sogenannten Murvorstadt am rechten Flussufer lebten ärmere Bevölkerungsschichten, kleine Gaststätten prägten das Gewerbe und Kleinkriminalität wie auch Prostitution waren hier beheimatet. Im 19. Jahrhundert folgte eine Stadterweiterung Richtung Westen mit der Errichtung des Hauptbahnhofs und im 20. Jahrhundert war die Annenstraße als Ost-West Achse die bedeutendste Einkaufsstraße in der Stadt. Mit dem Bedeutungsverlust kleiner Gewerbebetriebe, der rasanten Zunahme des motorisierten Individualverkehrs und dem Aufkommen der Shoppingcenter ging ein Strukturwandel in den Bezirken Lend und Gries einher: Ende des 20. Jahrhunderts mehrten sich die Leerstände zwischen Lend- und Griesplatz. Nachts waren die Straßen – bis auf einige Rotlichtbars – dunkel und die Gegend wurde Scherbenviertel genannt.

Mit dem Beitritt zur Europäischen Union und der Verfügbarkeit neuer städtebaulicher Förderungsprogramme wurde eine Aufwertung des Stadtteils initiiert: Der Lendplatz wurde neu gestaltet, der Bauernmarkt aufgewertet und die Mariahilferstraße verkehrsberuhigt. Im europäischen Kulturhauptstadtjahr 2003 wurden unterschiedliche Orte künstlerisch genutzt und bespielt und es wurde das Kunsthaus nach jahrelanger Diskussion um den „richtigen Standort“ auf der ehemals „schlechten Murseite“ eröffnet. Dadurch entstand eine neue Aufmerksamkeit gegenüber dem Stadtteil und einige Lokale, Bars und Clubs sowie Gemeinschaftsbüros, Vereine und Initiativen siedelten sich an, auch aufgrund der geringeren Mieten und dem vorhandenen Platz. Im Rahmen dieser neuen Aufbruchsstimmung entstand der Lendwirbel als Stadtteilinitiative zur nachhaltigen und inklusiven Nutzung des öffentlichen Raums. Über die folgenden Jahre eröffneten immer mehr kleine Läden und es entstand ein eigener, neuer und kosmopolitisch geprägter Charme in der Stadt.

Damit ging ein Gentrifizierungsprozess einher. Dieser stadtsoziologische Begriff bezeichnet die Veränderung der Bevölkerungsstruktur in einem Stadtteil. So zeigt eine Studie, dass es im Zeitraum zwischen 2006 und 2011 bei einem gleichbleibenden Anteil österreichischer Staatsbürger*innen zu einer annähernden Verdreifachung des Anteils von Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft und einer Halbierung von Menschen mit südosteuropäischer Staatsbürgerschaft gekommen ist. (vgl. Rettensteiner et.al. 2014: 73) Gleichzeitig war Lend der Bezirk in Graz mit den höchsten Preissteigerungen bei Eigentumswohnungen und Geschäftsflächen zwischen 2006 und 2016 (Steiermark Magazin 2016/1: 28). Der Abriss bestehender Bausubstanz und Neubautätigkeit hat vor allem im Norden des Lendplatzes (sowie im Süden des Griesplatzes) in den letzten Jahren stark zugenommen. Diese Entwicklungen führen zu einer sozioökonomischen Segregation, die in Graz jedoch nicht so stark ausgeprägt ist wie in internationalen Metropolen. Dennoch unterstreicht ein Immobilienfachmann im Gespräch: „Eine Verdrängung vom angestammten Publikum (Anm: im Lend) gibt es sicher. Schwach sozial gestellte [sic] werden verdrängt und es kommen Menschen mit einer höheren Bonität.“. (vgl. Rettensteiner et.al. 2014: S. 45) Einer solchen Entmischung der Bevölkerung kann mit sozialem Wohnbau entgegengewirkt werden. Hier sind neue Experimente des Wohnens gefragt. In Graz werden gegenwärtig sehr viele Mikrowohnungen im frei finanzierten Wohnbau realisiert. Diese Wohnformen eignen sich jedoch nur für gewisse Milieus und Haushaltsformen. Hier sollten neue Wohnformen viel stärker auf Clusterwohnen und Teilhabe innerhalb der Nachbarschaften reagieren. (vgl. Rosegger 2016: 23)

Während dem Lock-Down 2020 zeigte sich, dass der Stadtteil rund um den Lendplatz eine gewisse „Krisenfestigkeit“ mit sich bringt. Im Gegensatz zur Innenstadt, die leer gestanden ist, boten hier Restaurants Essen zum Mitnehmen an und auf den Plätzen wurden soziale Kontakte mit physischem Abstand gepflegt. Hierin zeigt sich die Relevanz und Wichtigkeit sozialer Durchmischung und gegebener nachbarschaftlicher Strukturen. Der öffentliche Raum und Wohnbau zählen in Städten zur „kritischen Infrastruktur“.

Das im Mai 2020 bekannt gewordene Vorhaben, über die Sommermonate am Karmeliterplatz und am Lendplatz eine tägliche „Partyzone“ zu installieren, hat jedoch zu einem Protest bei Anrainer*innen, lokalen Gewerbetreibenden und vielen weiteren Menschen und Initiativen geführt. Gerade in Stadtteilen mit einem hohen Entwicklungsdruck muss mehr Sensibilität gegenüber den notwendigen Qualitäten und der Zugänglichkeit zum öffentlichen Raum gewahrt werden. Menschen vor Ort wollen in die Entwicklung des Stadtteils integriert werden und über eine bewusste Stadtteilplanung muss eine soziale und funktionelle Durchmischung gewährleistet sein. Dies unterstreicht die Notwendigkeit nach neuen Formen des Wohnbaus und der Frage des Umgangs mit der Mobilität. Die Corona-Krise hat vielen Menschen vor Augen geführt, was die essentiellen Elemente einer Lebensqualität im städtischen Raum sind: Adäquater und leistbarer Wohnraum, Erholungsräume, Treffpunkte ohne Konsumzwang und lokal verankerte Gastronomie sowie eine gemeinschaftliche Identität auf Stadtteilebene.

  • Rettensteiner, Günther; Hagauer, Anna; Rosegger, Rainer; Hainzl, Joachim: LQI 2013 – Residentielle Segregation. Vertiefende Analyse ausgewählter Teilräume. Stadt Graz / regionalis, SCAN, XENOS, Graz 2014
  • Rosegger, Rainer: DAS LENDVIERTEL: TOP-DOWN UND BOTTOM-UP. In: ISG Magazin 02, 2016, S. 18 – 24