das verschwinden der ziegen aus der weidelandschaft

with Keine Kommentare
Kai Pohl ◄

1


Am Anfang von Religion und Philosophie steht das Entsetzen: Wie ist ein solcher Wahnsinn möglich? Er rast auf der Straße, er liegt im Dreck, vergräbt sich in der Einsamkeit, blitzt auf in unserem letzten Augenblick: Viertakter plärren, Fontänen gleißen, die Sieger zeigen uns ihren Arsch. Sie rauben die Magie; so ist es im Traum, die Praxis sieht anders aus. Im Traum sind die Toten wach. Der Traum ist das Wachen des Schlafes, das Ich eine Erfindung und die Händler, die Erben der Kinderlosen, sind darauf aus, alle unentgeltlichen Verbindungen zu kappen. Nur jene, die nichts tun, handeln realistisch. Jeder Wartende hat einen Hut auf, den die Krähen vollscheißen. Die Gegenwart bleibt niemandem erspart.

2

Das waren noch Zeiten, als der Brezelbäcker den Teig krumm bog. Die heutige Gesellschaft ist eine alles penetrierende soziale Fabrik, eine tickende Todesmaschine. Es geht abwärts! Masken runter! Für die Mehrheit gibt es keine Freiheit ohne Gleichheit. Weisheit ist heutzutage die Fähigkeit, über seine Gefühle, Gedanken und Gesten zu verfügen. Die Soldaten der Ökonomie sind aus Liebe verrückt geworden. Einige schlafen mit gefüllten Geldbörsen ein und wachen mit bankrotten Illusionen auf.

3

Heute Nacht ist der Himmel voller Sterne. Industrie und Arbeitslager werden aus dem Boden gestampft mit einem Überschuß an krimineller Energie. Die Gegenwart ist im Grunde nur eine Affäre im spezifischen Elend und voraussichtlich jetzt schon wieder vorbei, und zwar ohne sichtbare Ergebnisse. Die Tiere sind die wahren Befreier, vergießen auch den letzten Blutstropfen für das Vaterland, als ob mal wieder frischer Frieden wäre: „Schlagt aus! Fallt ein! In die Keller, Spelunken!“ – Die Hunde im Regen sind es müde geworden, hinter den Tatsachen herzurennen, auf Grund zu laufen im Abgang der Städte, wenn der heillose Wind einfährt, die Berge faltet, die Seen kocht. Wer gegen das Gesetz des Universums kämpft, stirbt nach dem Gesetz des Universums. „Der einzige Ausweg für einen Künstler heute ist der Untergrund, wo sich zur richtigen Gesinnung schunkeln lässt.“ Und so kommt die Zeit, in der Groß und Klein beginnt, Barrikaden zu errichten, zu patrouillieren und sich bis an die Zähne zu bewaffnen. Das Phantom des Proletariats, schwer verwundet, blutet aus offenen Körperhöhlen. Das Vergessen ist lang, blank das Entsetzen. Und alte Feinde verkaufen die Welt.

4

Das Vergessen ist lang, blank das Entsetzen: Wo sollen die Kinder spielen? (Auf der Straße spielen können sie nicht, weil es keine Straße mehr gibt; nur noch Ruinen und Trampelpfade.) Die Suppenlina, das Knochengirl löscht die Not des Geistes mit Sozialfürsorge, mit Nachrichten aus Parallelwelten. Ja ja, und wie ein Freund schon sagte: „Ich kann auch Gedichte, aber wir bauen Raketen.“ Der Fleck am Küchenfenster, der auch Die kalte Angst vor einem Wandel des Systems genannt wird, läßt seinen Schatten auf die schmalen Arme der Frau fallen. Eine Stunde täglich genügt, um für jedes Abenteuer klar zu sein. „Aber das ist kein Schatten“, seufzen die Geister der Erschlagenen, „sondern dunkles Licht“, stöhnen die Gepeinigten, „wieviel Droge braucht man, um eine Utopie aufrechtzuerhalten“.

5

Die eine Hälfte leidet, die andere Hälfte sieht sich das Elend im Fernsehen an. „Sorry, aber Norden ist hier, wenn das Metzer Eck da ist.“ Der Westen kann ja auch im Osten liegen oder umgekehrt, verbunden mit einer sehr gegenwärtigen Form der Hybris, immer mehr haben zu wollen, und am Ende ist dann nichts mehr da. Die Leute nehmen zur Kenntnis, daß sie von Banken enteignet und von Geheimdiensten überwacht werden, und niemand interessiert es. Dostojewski hätte sich das nicht gefallen lassen. Aber Dostojewski ist tot und Mandela ist auch tot, das Mittelmeer steht in Flammen, der Wind entflaggt die geilen Unterteile und Lügen sind die Pest der Atemluft. Nur die offizielle Kultur fürchtet sich vor der Panik, während sie ins Mündungsfeuer der untergehenden Sonne blickt.

6

Die Stadt sieht aus, als wäre sie in braunem Dreckwasser gekocht. Experiment und Exzess. Ameisen in Marmeladengläsern. Beim Schießen hat einer sich eine Muskelzerrung zugezogen. Das Dynamit entflammt einen Leviathan, den niemand zu löschen vermag. Unbesiegbare Termiten verschanzen sich in Erdlöchern voll Pfeilgift und Batteriesäure, EU-Strategen entsenden Patienten, die einen das Warten lehren, das Röcheln und Stammeln der Knechte für den Weltfrieden. „Vor dem Abstechen muß ein Schwein in Trance fallen“, mahnt ein Veterinär aus Hannover. Die Sonne aus dem Osten feiert verrosten, die Cola in der Südstadt ist zu süß, viel zu süß, und der Dichter lauscht dem betrunkenen Streit auf der Straße voller Totenlichter.

7

Willkommen im Pißpott! Entert die Kultur! Genießt sie! Verschwendet sie! Gebraucht sie nach eigenem Ermessen!
RE-VOL-TE ist ein schneidender Laut. Das Summen des Textes ist ein Sprechen ins Leere, das Bewußtsein fliegt in der Dämmerung aus.

8

„Im Übrigen meine ich, Karthago ist zu zerstören.“


Remix mit Auszügen aus Texten in Abwärts!(1) Nr. 1-6 von Claudia Basrawi und Mario Mentrup, Alida Bremer, Alexander Brener und Barbara Schurz, Marcel Duchamp, Elke Erb, Verschwörung der Feuerzellen, Ronald Galenza, Blerina Rogova Gaxha, Annett Gröschner, Bora Hegyes, Katja Horn, Arben Idrizi, Jörg Michael Koerbl, Ronald Lippok, Mark Mallon, Robert Mießner, Heiner Müller und Einar Schleef, Zoran Naric, Guillaume Paoli, Bert Papenfuß, Jannis Poptrandov, Karl Rauschenbach, Helko Reschitzki, Jürgen Schneider, Kristin Schulz, Georg Seidel, Emil Szittya, Su Tiqqun.


(1) Die Zeitschrift Abwärts! erscheint seit 2014 im BasisDruck Verlag, Berlin.