Evelyn Schalk ◄
Menschen kommen nach Wochen, Monaten auf der Flucht hungrig und frierend in Spielfeld über die slowenisch-österreichische Grenze an, werden in ungeheizte Zelte gewiesen und eines der reichsten Länder der Welt enthält ihnen die grundlegendste Versorgung vor. Diese leistet dann vor allem die Zivilgesellschaft, Menschen solidarisieren sich, helfen mit Nahrung, Kleidung, Hygieneartikeln, Informationen und vielem mehr. 2015, 2022. Muster und damit Bilder scheinen sich zu wiederholen – und sind doch ganz andere. Noch nie waren Fluchtrouten so tödlich wie heute, noch nie waren die Zäune und Mauern in und um Europa länger, höher und fataler und noch nie wurden seit Ende des Zweiten Weltkriegs grundlegende internationale Abkommen und Rechte wie die Genfer Konvention und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte so offensiv in Frage gestellt und untergraben. Die Forderung „Zimmer statt Zelte“, die auch heuer noch in Spielfeld – und überall sonst – Gültigkeit hat, ist somit eminent politisch.
Der ausreißer rückt seit 2015 die Situation in Spielfeld, wo an der Grenze Zeltlager für Geflüchtete errichtet und nicht mehr abgebaut wurden, immer wieder ins Zentrum, in den Blick, holt die Geschehnisse und mit ihnen die Menschen vom Rand ins Innere. Wir waren 2015 als eine der ganz wenigen Medien langfristig vor Ort. ich erinnere mich an einen der ersten Tage, an dem tausende Menschen frierend in der Kälte saßen, hinter dem Eingangsbereich außer zwei deutschen Lokaljournalisten keine*n einzige*n Kolleg*in getroffen zu haben, von morgens bis nachts. Das hat sich zwischenzeitlich geändert. Ich erinnere mich an Gespräche mit Ankommenden, an Schmerzen und Erleichterung, an Angst und Hoffnung, an tiefste Traumata erzählt zwischen kleinen Feuern und fehlenden Decken, an Verletzungen, sichtbare oder nicht einmal erahnbare. An Erschöpfung und Not, aber auch an gemeinsames Lachen, an Umarmungen, an Helfende, die alles gaben und nach wie vor geben. An Freundschaften, die bis heute geblieben und gewachsen sind. Trotz oder gerade wegen der Entwicklungen, die in diesen Jahren in Gang gesetzt wurden: die Veränderung einer Gesellschaft, die sich immer mehr über Abschottung statt über Solidarität definiert.
Gewalt gegen Schutzsuchende an den europäischen Grenzen wird mittlerweile normalisiert, was vor wenigen Jahren nur in Reden der extremen Rechten zu hören war, gilt heute nahezu als common sense im öffentlichen Diskurs. Hetze wird als Meinung legitimiert. Gleichzeitig verschwinden fundierte Informationen, tiefgehende Recherchen, Bilder, Fluchtgeschichten und damit Menschen aus den großen Medien und der Öffentlichkeit.
Aus all diesen Gründen ist uns diese Ausstellung so wichtig. Die Fotos von Alexander Danner und David Kranzelbinder in „Spielfeld Mensch“ beruhen auf langfristiger Präsenz, Begegnungen auf Augenhöhe und zeigen sensible, eindrückliche Bildsprachen. Ihre Fotos, die Menschen und ihre Geschichten, aber auch die Zäune, die Gewalt, das Leid werden mit der Ausstellung von der Grenze, vom Rand ins unmittelbare Zentrum geholt. Unübersehbar. Spielfeld goes Rathaus. Und an jeden ausreißer-Standort mitten in die Stadt. Wider die Ignoranz.
Ich freue mich daher ganz besonders, dass eine solche Präsenz möglich geworden ist oder vielmehr möglich gemacht wurde. Daher geht ein großes Danke raus an alle Beteiligten und unsere Kooperationspartner*innen. Allen voran an die Fotogalerie im Rathaus, die ihre Räumlichkeiten geöffnet und für die Gerhard Gross von der Kulturvermittlung Steiermark die Ausstellung „Spielfeld Mensch. An der Grenze. 2015 – 2023“ kuratiert hat. Vielen Dank an das Pavelhaus bei Bad Radkersburg für die Übersetzung aller in der Ausstellung und in dieser Ausgabe präsenten Texte ins Slowenische und Englische (diese sind gesammelt auf https://ausreisser.mur.at zu finden). Das Pavelhaus setzt sich seit 2015 immer wieder mit der Situation in Spielfeld auseinander, gibt Themen und Menschen Raum, engagiert sich gegen Grenzen in Köpfen und Landschaften. Dank aber auch an Bürgermeisterin Elke Kahr, Kulturstadtrat Günter Riegler und alle Verantwortlichen für deren Zustimmung zur und Präsenz bei der Eröffnung der Ausstellung im Gemeinderatssitzungssaal. Genau da gehören diese Thematik, aber auch Reflexion und menschenwürdige Diskussionen hin.
Deshalb sollen jene Stimmen im Rahmen dieser Eröffnung zu hören sein, die hier selten oder überhaupt erstmals zu Wort kommen. Mit der Juristin Petra Leschanz ist eine der profundesten Expert*innen, aber auch aktiven Helfer*innen vor Ort präsent. Yasna Ebrahimi wiederum, in Afghanistan geboren, im Iran aufgewachsen, lebt seit 2015 mit ihrer Familie in Österreich, arbeitet als Sexual-, Sozial- und Berufspädagogin bei der Caritas, liest einen Auszug aus ihrer Fluchtgeschichte, die als Buch erscheinen soll. „Wir gehen in ein Zimmer. Polizisten sagen uns, dass wir uns ausziehen müssen. Ich schaue zu meiner Mutter und meiner Schwester und warte auf ihre Reaktion. Ich frage sie, wieso sagen die, dass wir uns ausziehen müssen? Was haben wir denn getan?“
Bei all den Debatten über die vermeintlich große Zahl von Geflüchteten, die in Europa ankommen, werden konsequent jene ausgeblendet, unsichtbar- und -hörbar gemacht, die es trotz größter Mühen nie über die zahlreichen Grenzen in ein sicheres, menschenwürdiges Leben schaffen. Die vielen Millionen Menschen, die tagtäglich Krieg, Unterdrückung und totalitären Regimen ausgesetzt sind und die Folgen ertragen müssen. Daher haben wir die afghanische Autorin Habiba Karimian ‚Nargis Niromand‘ gebeten, jene Gedichte, die wir in unserer Ausgabe „About war“ zu Jahresbeginn publiziert haben, als Tonaufnahme einzusprechen. Sie musste nach Fluchtversuchen über Pakistan und Iran wieder nach Afghanistan zurückkehren. Was das für sie als Frau und Autorin unter den Taliban bedeutet, davon erzählen ihre Texte, und die sollten gelesen und gehört werden. Ihr Schreiben ist alles, was ihr geblieben ist. Ihre Gedichte sind aber nicht zuletzt ein Mahnmal an den Westen, der dieses Land immer mehr ignoriert und die Grenzen für Fliehende nahezu oder gänzlich unüberwindbar macht.
Die Ausstellung „Spielfeld Mensch“ fängt Geschichte und Geschichten ein, und ja, Momente und Ewigkeiten. Alexander Danner, David Kranzelbinder – großes Danke für eure Präsenz, immer wieder, euer Hinschauen und Handeln vor und hinter der Kamera!
In diesem Sinne: Kommt hin, schaut hin, seid da. Im Rathaus, in der Stadt, in Spielfeld, an der Grenze.
Ausstellung
Spielfeld Mensch.
An der Grenze 2015 – 2023
Fotos von Alexander Danner und David Kranzelbinder
Fotogalerie im Grazer Rathaus
Eine Ausstellung anlässlich des Internationalen Tages der Menschenrechte
14. Dezember 2023 bis 19. Januar 2024
Mo. bis Fr. 8 – 18 Uhr, feiertags geschlossen
Eintritt barriere/frei
Rathaus Graz
2. Stock
Hauptplatz 1
A-8010 Graz
ausreisser.mur.at
kulturvermittlung.org
pavelhaus.at