Eine offene Wunde

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Mir-Hamid Omrani ◄
Übersetzung aus dem Persischen ins Deutsche: Ajda Omrani
Persische Fassung

Herr Mohajer kam am Behandlungszentrum für Folteropfer an. Der Psychiater wartete schon auf ihn. Er war ein aufgeschlossener Mann mit blauen Augen, einem ruhigen Blick und stets einem Lächeln auf den Lippen, der seinen Patienten das Gefühl gab, sie könnten ihm vertrauen und er würde ihnen Glauben schenken. Der Arzt begrüßte Herrn Mohajer wie immer herzlich.

Die Arztpraxis war sehr klein. Darin befanden sich nur ein kleiner Schreibtisch direkt neben der Eingangstür,  zwei Schaukelstühle und ein Sofa. Einer der Stühle war mit dem Rücken zum Fenster platziert, der andere ihm gegenüber und zwischen ihnen stand noch ein kleiner Tisch. Saß man auf dem Stuhl, der auf das Fenster ausgerichtet war, sah man die Dachspitze des Nachbarhauses und die Weite des Himmels. Herr Mohajer setzte sich wie üblich auf genau diesen Schaukelstuhl, lehnte sich aber nicht an. Er stellte seine Tasche neben sich ab, senkte seinen Kopf und rieb sich nervös die Hände. Der Arzt schaute den Mann an und sagte:

– Lehnen Sie sich ruhig zurück und legen Sie Ihren Kopf ab, damit Ihr Nacken, Ihre Schultern und Ihr Rücken geschont werden.

In der Stimme des Arztes schwangen nichts als Nettigkeit und Mitgefühl mit. Auf der Stelle setzte sich der Mann zurecht. Nun hatte er es bequemer. Beim Blick aus dem Fenster sah er nun noch mehr vom Himmel. Der Arzt, dessen unendliche Ruhe und Gelassenheit ansteckend wirkten, fragte:

– Wie war Ihr Tag?

– Anstrengend.

– Warum?

– Ich habe den ganzen Tag auf der Baustelle gearbeitet.

– Wie war die Woche?

– Voller Albträume und Schmerzen. Ich bin sehr müde und erschöpft.

– Fühlen Sie sich sicher?

– Nein, ich werde von innen förmlich aufgefressen.

– Wie bereits besprochen, müssen Sie sich immer wieder klarmachen, dass Sie nicht mehr im Iran sind. Sie leben jetzt in Deutschland. Hier gibt es keine Folter. Sie können sich sicher fühlen. Denn Sie sind weit weg von denen, die Sie gefoltert haben. Ihre Peiniger können Ihnen kein Haar mehr krümmen. In der vergangenen Woche hatte ich Ihnen erklärt, dass Sie für die Heilung Ihrer Schmerzen und Wunden Zeit für sich nehmen müssen, damit Sie lernen, Ihre Ängste zu erkennen und sie bei der Wurzel zu packen. Ich meinte ja, Sie sollten versuchen, sich einen Ort zu suchen, wo Sie allein sein und in Ruhe sitzen können, um dann die Augen zu schließen und in sich zu gehen. Hat das geklappt?

– Nein, gar nicht. Ich hatte keine Gelegenheit dazu. Die tägliche Arbeit macht mich so müde, dass ich oft sogar in der Bahn einschlafe.

Der Arzt verfiel nun in einen Tonfall, als wollte er einem Kind eine Gutenachtgeschichte erzählen:

– Wegen Ihrer seelischen und körperlichen Schmerzen benötigen Sie dringend einen Ort der Einsamkeit. Sie müssen ein wenig mit sich allein sein. Sie sollten an Dinge denken, die Sie mögen, die Ihnen gute Laune bereiten, es Ihnen leichter machen. Außerdem müssen Sie sich einen Panzer zulegen. Ohne einen Panzer kann man nicht leben und geht zugrunde. Gut, dann lassen Sie uns die wenige Zeit, die uns zur Verfügung steht, nutzen!

Der Hund behielt ihn fest im Blick und weigerte sich standhaft, sich zu setzen. Der Sicherheitsmann fasste die Gleichgültigkeit des Hundes als Beleidigung auf. Seine Gesichtszüge verzerrten sich vor Wut.

Im Gebetston fuhr er fort:

– So nun schließen Sie Ihre Augen, strecken Sie Ihre Beine aus, packen Sie Ihre Hände auf die Armstützen, lehnen Sie sich bequem zurück und legen Sie Ihren Kopf ab! Stellen Sie sich vor, Sie wären an Ihrem Lieblingsort! Richten Sie Ihre gesamte Aufmerksamkeit zunächst einmal auf Ihren Nacken, Ihre Schultern, Schulterblätter und den Rücken! Ich weiß, diese Stellen tun noch immer weh und brauchen Erholung, weil sie mit den Händen an der Decke aufgehängt wurden. Müdigkeit und Schmerzen müssen Ihren Körper verlassen. Lassen Sie sich auf die Welle der Ruhe ein! Nehmen Sie sie mit zu Ihren schmerzenden und müden Gliedern und lenken Sie sie darauf! Gestatten Sie, dass sich die Ruhe auch einen Weg zu anderen Bereichen Ihres Körpers bahnt: zum Bauch, Herzen, zur Leber, zu den Nieren und zum Hals! Leiten Sie sie weiter zu Ihren Füßen. Ihre wunden Füße, die ausgepeitscht wurden, verletzt und blutig sind. Machen Sie Ihre Füße mit dem Gefühl der Ruhe und des Wohlbefindens vertraut! Diese Ruhe sollte sich am besten im gesamten Körper ausbreiten und alle Stellen erfassen, die müde sind, hart arbeiten, sich quälen und Ihnen dienen. Geben Sie die Ruhe an Ihre Hände weiter, an denen Sie aufgehängt wurden, und an Ihr Gesicht, das Faustschläge erlitten hat. An Körperteile, auf denen Zigaretten ausgedrückt wurden. Führen Sie sie nun zu Partien, die respektlos behandelt wurden und sich nach Ruhe sehnen.

Die Worte des Arztes hatten sich in eine samtig-weiche Hand verwandelt, die die Seele des Mannes streichelte.

– Reichen Sie die Ruhe weiter an Ihr Gehirn und lassen Sie sie Kraft Ihrer Gedanken entfliegen! Raus aus Ihrem Körper und dem Zimmer. Überführen Sie sie in die Unendlichkeit!

In einem rhythmischen und emotionalen Ton sagte er schließlich:

– Kehren Sie so langsam wieder ins Hier und Jetzt zurück! Und wie geht es Ihnen?

Nach der Therapiesitzung Schrittes das Zentrum und machte sich auf den Weg zum Bahnhof. In der Bahn suchte er sich einen Sitzplatz und verlor sich in Gedanken. Seine Sichtweite betrug nur wenige Meter, aber er erweckte den Eindruck, als könne er einen unendlich weit entfernten Punkt wahrnehmen. Es schien, als würde er mit zusammengekniffenen Augen den Horizont betrachten, der mal hell und vertraut wirkte und dann wieder eingenebelt und fremd. So saß Herr Mohajer da, völlig in sich selbst versunken, bis er durch den dünnen, wehenden Schleier, der sich über seine Augen gelegt hatte, zwei Sicherheitsleute mit einem großen Schäferhund einsteigen sah, die zum Schutz vor neofaschistischen Übergriffen im Einsatz waren.

Die beiden Männer waren kräftig und groß gewachsen. Sie trugen eine dunkelblaue Uniform, rote Mützen und Stiefel und machten einen sportlichen, flinken und kämpferischen Eindruck. Kühnheit und Selbstbewusstsein spiegelten sich in ihren geschmeidigen Bewegungen und in ihren durchdringenden Augen wider. Von oben warfen sie einen flüchtigen Blick auf die wenigen Fahrgäste in den Sitzreihen. Der Sicherheitsmann, der die Leine in der Hand hielt, kam zu sich, als mit einem Mal an ihr gezogen wurde. Er bemerkte den eigenwilligen und stolzen Blick des Hundes, der teils aus Gewohnheit teils aus Pflicht die Fahrgäste musterte, so wie es zuvor sein Leinenführer getan hatte. Als ob er signalisieren wollte, dass er zu allem bereit wäre. Es war unschwer zu erkennen, dass der Teil seiner Kühnheit und seines Selbstbewusstseins dem Hund zu verdanken hatte. Die Fähigkeiten des Tieres trugen zur Erweiterung seiner eigenen Fähigkeiten bei, was er jedoch niemals vor den Fahrgästen zugegeben hätte. Der Sicherheitsmann konnte diese kleine Eigenmächtigkeit am Ausdruck des Hundes nicht ertragen und rief:

– Sitz!

Der Hund bewegte sich kein Stück. Der Sicherheitsmann wiederholte seine Aufforderung, aber diesmal lauter:

– Sitz!

Sein lautstarker, durchdringender Ton, der brutal klang, zog Herr Mohajers Aufmerksamkeit auf sich. Der Sicherheitsmann holte etwas aus seiner Hosentasche hervor und steckte es dem Hund ins Maul. Der Hund spuckte es auf der Stelle aus. Er schaute den Sicherheitsmann weiterhin gleichgültig an und rührte sich kein bisschen. Der Sicherheitsmann, der die Reaktion des Hundes nicht erwartet hatte, wiederholte nach einem Blickwechsel mit seinem Kollegen den Befehl, aber auf ernsthafte Weise, während er gleichzeitig seine zur Faust geballte Hand vor den Augen des Hundes hin und her bewegte. Der Hund behielt ihn fest im Blick und weigerte sich standhaft, sich zu setzen. Der Sicherheitsmann fasste die Gleichgültigkeit des Hundes als Beleidigung auf. Seine Gesichtszüge verzerrten sich vor Wut. Er verpasste dem Hund mehrere Schläge in die Seite und befahl ihm erneut, sich niederzulassen. Die Schläge waren für Herr Mohajers Empfinden so heftig, dass sie ihn bis ins Mark erschütterten. Sein Inneres füllte sich mit Schmerz und Verletztheit.

Der leidende Hund warf einen gekränkten und zugleich kämpferischen Blick zum Sicherheitsmann und machte seinen Hals lang, woraufhin dieser zorniger und ungeduldiger wurde. Der Sicherheitsmann winkte mehrmals mit seinen Händen vor den lodernden Augen des Hundes, schlug ein paar Mal leicht auf dessen Wangen ein und probierte, ihm einen Maulkorb anzulegen. Dem Hund gelang es jedoch, sich mithilfe seiner Vorderbeine zu befreien und wartete mutig auf die Reaktion des Sicherheitsmannes, der rot anlief und mehr und mehr die Fassung verlor. Danach folgte ein weiterer Versuch des Sicherheitsmannes, dem Hund den Maulkorb aufzusetzen. Dabei wiederholte er seinen Befehl und verpasste dem Hund Faustschläge in die Seite und auf den Hintern. Der Hund, dessen Augen einen merkwürdigen Ausdruck angenommen hatten, schnaubte angstvoll, sodass sich seine Muskeln versteiften. Er zog den Maulkorb wieder ab und stellte sich überheblich auf alle Viere. Unterdessen fühlte sich Herr Mohajer so, als würde er mit dem Sicherheitsmann seine Kräfte messen müssen.

Der Sicherheitsmann, der kurz davor war, zu explodieren, stülpte dem Hund mit zitternden Händen ein drittes Mal den Maulkorb über. Noch bevor der Hund reagieren konnte, verkürzte er die Leine und zerrte ihn in eine Ecke. Von Gelassenheit war keine Spur mehr. Der Sicherheitsmann war nur noch von Wut erfüllt. Er hob den Hund am Halsband hoch und drückte ihn mit seinem eigenen Körpergewicht in die Ecke. Schon bald zeigte sich das Erstickungsgefühl im Gesicht des Hundes. Seine Muskeln spannten sich an. Die Augen weiteten sich und ragten hervor. Seine Vorderbeine hingen zitternd in der Luft und seine Brust bebte. Beim Anblick der Szene erschauderte Herr Mohajer. Er zitterte am ganzen Körper und war verängstigt. Seine innere Unruhe offenbarte sich in seinem Gesicht. Er hatte seine Schultern angehoben und seine Hände vor der Brust verschränkt. Es war, als wollte er seinen Kopf und Nacken schützen.

Der Sicherheitsmann hielt den Hund für einen Moment fest. Dann ließ er das Halsband langsam los. Beim Erreichen des Bodens nahm der Hund den Maulkorb wieder ab und holte tief Luft, was eher einem gedämpften, schmerzhaften Heulen ähnelte. Bevor er zu sich und zu Atem kommen konnte, zog ihn der Sicherheitsmann erneut mit Gewalt am Halsband hoch. Denn der Hund hatte seinen Ungehorsam noch nicht aufgegeben und musste bestraft werden. Nun eilte der andere Sicherheitsmann seinem Kollegen zu Hilfe und schlug mit den Fäusten in die Seiten und den Bauch des Hundes.

Anschließend tauschte er mit einem bedeutungsvollen Lächeln im Gesicht Blicke mit seinem Kollegen aus. Der Hund bewegt sich nicht mehr. Sein verwirrter Blick war auf einen weit entfernten Ort in seinem Inneren gerichtet, während Herr Mohajer fassungslos den Hund anschaute.

Der ungleiche Kampf ging zu Ende: Der Hund war nicht mehr derselbe wie einige Minuten zuvor. Das Maul war geöffnet und seine Lippen und Zunge zitterten heftig. Die Augen wollten herausspringen. Im Weiß der Augen wurden immer mehr Blutgefäße sichtbar. Der Hund klopfte mit seinen Pfoten gegen die Hinterwand der Sitzreihe. Im Blick des beinahe erstickten Hundes offenbarten sich plötzlich Schwäche, Verzweiflung und Flehen. Jegliche Anzeichen von Kampf oder Widerstand waren verflogen.

Herr Mohajers Stirn war feucht vom Schweiß. Seine Hände waren unwillkürlich zu seiner Kehle hochgewandert und hielten sie umschlossen. Bevor der Sicherheitsmann ihn wieder dazu aufforderte, sich zu setzen, rutschten die Vorderpfoten des Hundes kraftlos nach vorne und er lag bäuchlings auf dem Boden der Bahn. Voller Verzweiflung packte er seinen Kopf auf die Vorderbeine. Er atmete schnell und heftig. Seine Zunge hing aus dem Maul heraus. Sein mächtiger Brustkorb pumpte hektisch Sauerstoff in die Lungenflügel. Es dauerte einige Minuten, bis sich die Atmung des Hundes wieder normalisierte. Es lag jetzt eine krankhafte Langsamkeit in seinen Bewegungen.

Herr Mohajers Augen wurden immer feuchter und er sah sehr verwirrt aus. Plötzlich beobachtete er ungläubig, wie in den Augen des Hundes Tränen aufstiegen und sanft über sein Gesicht flossen. Der Hund weinte lautlos. Nun wurden Herr Mohajers Wangen noch feuchter und sein Körper zitterte. Der Sicherheitsmann, der den Hund in die Knie gezwungen hatte, schien von dem Stolz und der Freude am Sieg berauscht zu sein. Dann zog er ein Leckerchen aus der Tasche und steckte es in das Maul des Hundes als Belohnung für seinen Gehorsam. Der Hund spuckte es jedoch aus. Der Sicherheitsmann ignorierte die Reaktion des Hundes, legte ihm stattdessen ruhig und gelassen den Maulkorb an und streichelte über seinen Kopf als Zeichen der Versöhnung. Anschließend tauschte er mit einem bedeutungsvollen Lächeln im Gesicht Blicke mit seinem Kollegen aus. Der Hund bewegt sich nicht mehr. Sein verwirrter Blick war auf einen weit entfernten Ort in seinem Inneren gerichtet, während Herr Mohajer fassungslos den Hund anschaute.

Der Kampf hatte mehrere Stationen gedauert. Herr Mohajer hielt es nicht mehr aus. Vor seinen Augen drehte sich alles. Er stand auf, torkelte wie ein Betrunkener und stieg an der nächsten Haltestelle aus. Er ging wie ein Schlafwandler. Der Boden unter seinen Füßen wurde weich. Wegen des Schwindelgefühls und der Übelkeit schien er bei jedem Schritt beinahe zu Boden zu fallen. Auf dem Bahnsteig setzte er sich auf die erst beste Bank neben einen Obdachlosen. Er schloss die Augen. Tränen liefen ihm über die Wangen. Es dauerte nicht lange, bis er die Augen wieder öffnete. Jemand hatte ihn wiederholt angestupst. Der obdachlose alte Mann streckte ihm eine halbvolle Weinflasche entgegen. Er lächelte, schüttelte die Weinflasche einladend, hob sie an seine Lippen und nahm einen tiefen Schluck. Dann reichte er sie an Herrn Mohajer weiter:

– Prost! Nimm schon! Trink! Danach geht’s dir besser! Das ist ein Wundermittel!

April 1992