Wort für Tag – jenseits von Platzzuweisung

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Evelyn Schalk ◄

“Wir brauchen keine Hoffnung zu haben, dass es besser wird”, so die Sängerin Anohni. “Über diesen Punkt sind wir längst hinaus. Wir müssen Kräfte des Widerstands und der Selbstbehauptung entwickeln, um in einer immer feindlicher werdenden Welt zu überleben.” 1

Zum einen schien über viele Jahre ein Sich-Einrichten in den Verhältnissen zu beobachten zu sein, zwischen Resignation und Gleichgültigkeit, zwischen mangelnden Kräften und Arrangement, oder einfach doch nur Bequemlichkeit und Ignoranz? Wer nicht selber Ziel von rassistischen Angriffen, Dumpinglöhnen, Frauen*feindlichkeit oder anderer Diskriminierung wurde, clickte die Informationsseiten weg und ersetzte sie durch Kochrezepte und Strandfotos auf Social Media.

Oder hat man Proteste einfach nur medial ausgeblendet, sie immer weniger sichtbar und vor allem nachvollziehbar gemacht, wie auch die Entwicklungen, gegen die sie sich richten? Es ist hinlänglich bekannt, dass die österreichische Medienlandschaft die Kriterien einer “media desert”, also einer medialen Wüste, erfüllt. Das Angebot, sowohl in Print als auch das audiovisuelle und digitale, ist mehr als überschaubar, die Besitzverhältnisse in weitesten Teilen konservativ dominiert und mit wenigen Ausnahmen strikt kommerziell ausgerichtet. Die Gründung des ausreißer im Jahr 2004 war ein Akt des Protests gegen diese Zustände, die sich seither noch zugespitzt haben. Es sollte eine Plattform für marginalisierte Themen und Bevölkerungsgruppen geschaffen werden, die verlässliche Informationen, Hintergrundberichte und -analysen veröffentlicht, die sich positioniert und kritisch erklärt statt propagiert, aber gleichzeitig Literatur und bildende Kunst publiziert, die Sprache, Gesellschaft und Verhältnisse neu denkt und entwirft, all das im öffentlichen Raum, also frei zugänglich und nicht kommerziell orientiert. Waren es 2004 noch die Proteste gegen Schwarzblau II, die medial immer weniger thematisiert wurden, hatte sich der Diskurs 2018, als es zu einer neuerlichen Koalition mit rechtsradikaler Beteiligung kam, bereits viele Ebenen weiter in Richtung Totalität geschraubt, indem diskriminierende, menschenfeindliche Aussagen als zulässige Meinung etabliert wurden. Um diese Mechanismen zu beleuchten und wiederum das absolute Fehlen einer solchen Perspektive in den österreichischen Massenmedien zu konterkarieren, gründeten wir den Blog tatsachen.at, weil es eben nie Normalität ist, sondern immer Normalisierung.

In all dieser Zeit gab es unzählige Proteste, Initiativen, Bewegungen in Graz. Von den Donnerstagsdemos, über die Proteste gegen das Bettelverbot, gegen Working Poor und Einschnitte im Sozial- und Kulturbudget, gegen rechte Veranstaltungen und für eine offene, gleichberechtigte Stadt, es gab eine Reihe von Hausbesetzungen, große feministische Kundgebungen, Demos gegen Abschiebungen und für die Rechte Geflüchteter, große Black Lives Matter Demonstrationen, Klimastreiks und aktuell ist die Letzte Generation öffentlich aktiv gegen den Klimakollaps.

Immer wieder wurde Protest als Artikulation dessen, was nicht zu akzeptieren ist, bezeichnet, während Widerstand bedeutet, diese Artikulation in Handlung umzusetzen. „I am no longer accepting the things I cannot change. I am changing the things I cannot accept“, lautet die berühmte Ansage der Bürgerrechtlerin, Philosophin und Schriftstellerin Angela Davis.

Protest und Widerstand heißt also, auch Entscheidungen im eigenen Leben zu treffen, im eigenen Denken, Reden, Handeln. Den rechtlichen, demokratischen, sozialen und nicht zuletzt öffentlichen Raum gilt es dafür immer wieder aufs Neue zu erkämpfen und zu behaupten.

„Wie ich schon öfter gesagt habe, scheint es mir, als könnte sich die Sprache, eine differenzierende, literarische Sprache, gegen diese bedrohliche, selbstgewisse, von keinem Selbstzweifel angekränkelte Sprache der feschen Technokraten und Rechthaber, die uns jetzt von überall her überschwemmen, nicht mehr durchsetzen. Die Sprache der Literatur wird, wie es die extreme Rechte immer tut, von der brutalen Eindeutigkeit ihrer inzwischen sattsam bekannten Aussprüche, die das gesunde Volksempfinden hinter sich wissen oder zu wissen glauben, sozusagen niedergeknüppelt. Man kann sich nicht mehr mit Worten zwischen die Macht und die Wirklichkeit schieben, da ist kein Platz mehr für die Literatur. Ich habe es jetzt lange genug versucht, aber jetzt, scheint mir, werden die letzten Gatter geschlossen; man spricht davon, Kritik, Literatur ganz besonders frei zu halten von den staatlichen Machtmechanismen und weiß doch gar nicht, womit man es überhaupt zu tun hat. Sie haben es auch gar nicht nötig, sich damit zu beschäftigen. Die Sprache kann aber nicht einfach selbst und von selbst auftreten, sie braucht dafür Platz. Von diesen Leuten will ich mir meinen Platz nicht zuweisen lassen.“ 2

Was Elfriede Jelinek im Jahr 2000 über Literatur festgehalten hat, gilt heute, 23 Jahre später, umso mehr – Wort für Tat.

Diese Ausgabe erscheint in Kooperation mit dem Graz Museum anlässlich der Ausstellung “Protest” … in Graz von 1945 bis heute” und ist in diesem Rahmen ab 4. Oktober 2023 im Graz Museum zu sehen. In den Folgeausgaben erscheinen ebenfalls Beiträge zum Schwerpunktthema “Protest!”, auch diese Ausgaben werden vor Ort in der Ausstellung bis 14. April 2024 sowie an allen üblichen ausreißer-Standorten zu lesen sein.

1 https://www.zeit.de/2023/29/anohni-and-the-johnsons-musikerin-my-back-was-a-bridge-for-you-to-cross/komplettansicht
2 https://www.elfriedejelinek.com/fboykott.html


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