Gerhard Ruiss ◄
Seit 16 Jahren unterbricht der ausreißer Leerstellen an Wänden, den Werbe- und Programmankündigungsfluss und stellt manchmal auch selbst Lesewände auf. Zu 100 Ausgaben hat er es als das Kleingedruckte auf Innen- und Außenwänden bisher gebracht, für das es auf Außenmauern, Innenwänden, Werbe- und Ankündigungsflächen üblicherweise keinen Platz gibt und vor denen sonst niemand Halt machen würde. Der ausreißer dreht die Verhältnisse um, er ist die Unterbrecherzeitung zwischen Werbungen und Programmankündigungen. Als Ausreißer aus dem eigenen Konzept kann man ihn zusätzlich dazu in einer Faltblattausgabe lesen, online abrufen oder in einem der Kultur- und Sozialzentren, in denen er in der Faltblattausgabe aufliegt, kostenlos beziehen.
Angesichts der überwältigenden Übermacht kommerzieller Werbungen in Stadtbildern können sich seine rund 20 Standorte, an denen er als Wandzeitung in Graz und punktuell anderen kleineren steirischen Städten zu finden ist und seine Auflage von 1500 Exemplaren nur bescheiden ausnehmen, sie sind aber dennoch der einzige Lesebeitrag in einer auf Werbebotschaften, Überschriften und Programminformationen an Plakatwänden und in Schaukästen ausgerichteten Welt. Da sich der ausreißer außerdem in der Verbreitung seiner Plakatausgabe auf den Raum und neuralgische Punkte seines Erscheinungsortes konzentriert, macht ihn das erheblich größer, als es die Zahl seiner Aushangorte und die Höhe seiner Auflage vermuten lassen.
Der ausreißer lebt vom, im und für den öffentlichen Raum, er ist eine städtische Erscheinung und es ist vorgesehen, dass er für alle, die ihn haben wollen, keine Kostenhürde darstellt. Da der ausreißer trotzdem Geld zum Leben braucht, kann man ihn, wenn man nicht jeden Euro umdrehen muss, mit einem extrem kostengünstigen Abonnement unterstützen. Das sind die heute nicht wesentlich anderen Existenzvoraussetzungen für den ausreißer, als bei seiner Gründung vor 16 Jahren. Er überlebt mit Solidaritätsabonnements, öffentlichen Förderungen und dem größtenteils einkommenslosen Mitwirken aller am Zustandekommen der Zeitung Beschäftigten.
Den ausreißer kann man immer wörtlich nehmen, bei seinem Zeitschriftentitel ebenso wie von seiner „Medien Macht Menschen“ lautenden erstmaligen Themenstellung in seiner Auftaktausgabe an, er ist der Messwert, der aus den anderen gemessenen Werten ausbricht, von vornherein und bei jedem weiteren Thema einer folgenden Ausgabe von neuem. Er ist eine Stadtzeitung, die sich weder an Stadtgrenzen, Landesgrenzen oder Staatsgrenzen hält, sondern ausschließlich an die Themen, die er sich selbst und anderen vorgibt. Er ist ein letztes Aufflammen aus Alternativmedienzeiten und ein Zukunftsmedium mit Mehrversionscharakter seiner Ausgaben in multipler Verbreitungsform. Der ausreißer besetzt den Platz der früheren Kundmachungen, er dient aber weder zu offiziellen Verlautbarungen noch zur Verbreitung von Werbebotschaften, er benutzt deren Flächen, um sie werbe- und politisch einflussfrei zu halten, da er für sich selbst Werbungen und politische Einflussnahmen ausschließt. Er ist die konsumfreie Zone, von der alle reden, für die es aber nirgendwo Raum zur Entfaltung gibt. Und er ist ein Beitrag zur politischen Unabhängigkeit, die ständig alle im Mund führen, aber höchst selten garantieren können.
Dem Beispiel des ausreißers ist in seinen 16 Bestandsjahren in ganz Österreich keine zweite Zeitschrift gefolgt. Umso wichtiger ist seine Rolle als Medienprototyp, der nicht nur seinen Platz innerhalb des Mediensektors sucht und einnimmt, sondern ebenso die Auseinandersetzung um die mediale Nutzung des öffentliches Raums anhand seiner eigenen publizistischen Existenz führt.
In diesen 16 Jahren hat die Kommerzialisierung des öffentliches Raums genauso zugenommen wie sich der politische Umgang mit Medien gravierend geändert hat, einerseits durch verstärktes Einwirken auf die politisch unabhängige Medienlandschaft mit großem Personaleinsatz von Regierungspressediensten, andererseits durch vermehrte Selbstinszenierungen, zu denen auch die zu Presskonferenzen eingeladenen Medienvertreter/innen als Teil der Auftritte in den eigenen Kanälen gehören. Um die Medien trotz zunehmender Gängelung bei Laune zu halten, werden ihnen, als Homestories der Politik, „Hintergrundgespräche“ und „Exklusivgeschichten“ angeboten und sie mit einem Vielfachen über den Medienförderungen liegenden Ausgaben für Regierungsinserate zur Unterstützung der Regierungsarbeit motiviert.
Die Parteizeitung ist tot, es lebe die parteipolitische Einflussnahme und es leben die eigenen sozialen Netzwerkangebote. Seit einigen Jahren kann auf Grund der letzten ORF-Reformen genauso keine Rede mehr davon sein, dass bei entsprechender Machtkonzentration in der Regierung der ORF parteipolitisch neutral bleibt. Und die Unabhängigkeit im Netz und in sozialen Netzwerken ist beim Druck auf jede der einen oder der anderen Community nicht entsprechende Vorstellung und Äußerung sowieso nur ein Traum.
Es kann daher keine einzige unabhängige, nicht parteipolitisch festgelegte und nicht den sozialen Medien ausgelieferte Stimme zu viel geben. Medien, auf die uneingeschränkt zutrifft, dass sie die Summe der Meinungen ihrer Redakteur/inn/en und Autor/inn/en sind und die ihr Auskommen ohne bezahlte Werbungen und Sponsoren mit Abonnementfinanzierungen und öffentlichen Förderungen finden, existieren nahezu ausschließlich im Bereich der Periodika. Jedes größere Medium arbeitet fast zwangsläufig mit Werbefinanzierungen und/oder finanzkräftigen Eigentümerschaften.
Unabhängigen Medien geht es so wie dem Buch oder der Lyrik, nur weil sie immer wieder totgesagt werden, sind sie nicht schon tot. Die meisten Medien haben in den letzten Jahren zwar alles getan, um sich mit parallelen kostenlosen, aktuelleren eigenen Konkurrenzangeboten aus dem Feld zu schlagen, sie haben inzwischen aber auch gelernt, dass es besser ist, sich mit ihren jeweiligen anderen Ausgaben zu ergänzen, statt sich zu kannibalisieren. Jetzt haben sie wieder die sozialen Netzwerke bzw. die sozialen Medien allein zum Gegner, denn so schrill wie die sozialen Medien kann nicht einmal der schlimmste Boulevard der Gratisblätter werden. Eine ihnen am ehesten ähnliche aufputschende Wirkung kommt deren Push-Nachrichten zu, die dafür sorgen, dass alles schon da ist, bevor es noch eintritt oder zutrifft.
Es sind Medien wie der ausreißer, die dafür sorgen, dass es andere Medienperspektiven und Medienstrategien gibt, als sich von einem Rettungsring zum anderen weiterzuhanteln, obwohl oder vielleicht gerade weil ihre finanzielle Ausgangssituation von vornherein keine materiellen Gewinnüberlegungen zulässt und möglicherweise nicht einmal die Aussicht auf einigermaßen angemessene Bezahlung der zu ihrer Erstellung notwendigen Arbeit besteht. Ihre Hersteller/innen erbringen nicht nur gemeinnützige Leistungen, die allen zugutekommen, sie versuchen sogar noch, woanders Geld zu verdienen, damit sie sich die un- bis schlechtbezahlte Tätigkeit für ihre Medien und deren Kosten leisten können.
Wandzeitungen außerhalb von Gebäuden sind von vornherein Ausnahmeerscheinungen, es gibt sie, abgesehen von politischen Proklamationen oder Aufrufen oder Zeitungsseiten in Schaukästen, eigentlich nicht. Es gibt sie vor allem nicht als periodisch erscheinendes, lesbares Medium ohne jeden agitatorischen Charakter oder den Verweis auf etwas anderes, Eigentlicheres. Der ausreißer hat von vornherein das Verhältnis zwischen Medien, Macht und Menschen zu seinem Thema gemacht und so verhält er sich auch, als Beitrag dazu. Sein ganz klarer Ansatz ist: Jede Wand kann ein Medienträger sein.
Auf den einen Wänden finden sich Programmankündigungen, auf den meisten Werbebotschaften und dazwischen lässt sich der ausreißer finden, als einzige Fläche, auf der das Gezeigte selbst das Angebot ist. Sich in eine Wand vertiefen zu können, ist deshalb möglich, weil es den ausreißer gibt. Das ist das ebenso Bestechende wie Überzeugende an ihm, dass er an der Verkleinerung des Lesbaren auf Wänden arbeitet und sie nicht als immer noch größere Fläche für immer weiter größere, grellere Bebilderungen und Beschriftungen nützt.
Der ausreißer übertrumpft nicht, er will den Fluss der kurzen Aufmerksamkeitsspannen unterbrechen, aus dem man nie mehr mit sich mitnimmt als kurze zugespitzte Signale. Und, aber das konnten seine Betreiberinnen, Evelyn Schalk und Ulrike Freitag, bei der Gründung des ausreißers nicht wissen: Der ausreißer ist genauso der dringend benötigte Entschleuniger im allgemein zugänglichen öffentlichen Raum, in dem zunehmend mediale Hysterisierung und Getriebenheit von einem Pflicht- und Freizeitprogramm zum nächsten das Tempo bestimmen.