die ablehnung

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Barbara Rieger ◄

der Welt, wie sie ist, voller Chaos, Ungerechtigkeiten, Dinge, die wir nicht kontrollieren können. Die Überfülle. Der Dreck. Dinge, die kein Mensch braucht. Dinge, die Menschen wichtig nehmen, obwohl sie gar nicht wichtig sind. Obwohl nichts wichtig ist. Die Ablehnung des eigenen Körpers, des weiblichen Körpers, eines fülligen Körpers vor allem. Die Ablehnung des Lebens also oder zumindet: Der Wunsch, das Leben zu kontrollieren, etwas in diesem Leben kontrollieren zu können, in einem Leben, in dem nichts kontrollierbar ist, bzw. die Kontrolle von anderen auf uns ausgeübt wird. Nicht kontrollierbar, was auf uns einströmt, die Nachrichten, die Bilder, die Aussagen von Eltern, Lehrern, Mitschülern, die Informationen und fake news. Kontrollierbar nur die Nahrungsaufnahme. Ausgeliefert wie ein Baby. Den Mund schließen. Nichts hineinlassen. So wenig wie möglich. Nur bestimmte Dinge. Nahrungsmittel sind schlecht, weil an ihnen Kinderarbeit, ein Co2-Abdruck, das ganze kapitalistische System hängt. Weil Fett drinnen steckt. Und Zucker. Kohlenhydrate. Weil Fett am Körper gar nicht geht. Der Körper ein Strich sein muss, ein Hologramm. Oder der Körper nur an bestimmten Stellen etwas ansetzen darf. Muskeln am besten. Am Po zum Beispiel. Wenn gerade ein großer Po in ist. Ein durchtrainierter großer Po. Die Übungen, die dazu führen, dass der Po dem aktuellen Ideal entspricht. Dass alle Stellen des Körpers einem Ideal entsprechen, das niemals erreichbar ist. Dass wir dazu immer noch mehr noch weniger noch gezielter regulieren müssen, was wir aufnehmen. Nur bestimmte Dinge. Nur besonders wertvolle. Nahrhafte. Nur biologische. Nur vegan. Nur diese Diät diese Diät diese Diät. Und dann plötzlich dieser Hunger. Auf das andere. Auf das Fett, den Zucker, auf Kohlenhydrate, auf Mengen, die nicht erlaubt sind, auf zwei Brote zum Beispiel. Und dann die Krise, weil wir zwei Brote gegessen haben. Zwei Brote zu viel. Und dann der Vorsatz, nie wieder zwei Brote zu essen, wenn wir gar keine zwei Brote essen dürfen. Überhaupt nie wieder Brot zu essen. Und dann wieder dieser Hunger. Und dann drei Brote. Drei Brote mit Butter und Honig zum Beispiel. Und dann Hungern. Hunger. Essen. Schlechtes Gewissen. Scham. Selbsthass. Der Blick in den Spiegel, jedes Brot sichtbar am Körper. Die Waage. Jedes Gramm ein Schlag ins Gesicht. Und dann wieder Hungern. Hunger. Essen. Und dann endlich eine Lösung: Kotzen. Und nach dem Kotzen noch mehr Hunger. Noch mehr essen. Noch mehr kotzen. Dreißig Brote zum Beispiel. Die Erleichterung, wenn wir die Kontrolle aufgeben. Ein Moment der Ruhe, ein High, die Übelkeit, tausend Momente der Qual. Die Schmerzen im Körper, die Blähungen, der Gestank, das schlechte Gewissen, der Selbsthass, der Wunsch ein Messer zu nehmen und mit dem Messer in den eigenen Bauch zu stoßen, alles zu zerstören, die Erleichterung, wenn alles wieder rauskommt, alles alles alles und dann wieder der Hunger, die nächste Runde und irgendwann die Erschöpfung, die Leere. Heimlich. Die Eltern sollen nichts mitbekommen, die Eltern dürfen nichts davon wissen, die Eltern wollen alles wissen, kontrollieren, aber sie wissen nichts, sie wissen nicht, wie es sich anfühlt, dieses Leben, sie haben sich daran gewöhnt, sie wissen nicht, wie es sich anfühlt, das Zuviel, das Zuwenig, der Druck vor dem Fressen, die Leere danach, sie wissen nicht wie viel wir essen können, sie wollen nicht wissen, warum. Sie wollen, dass wir normal essen, dass wir uns unter Kontrolle haben, aber nicht zu viel Kontrolle, zu viel Kontrolle auch wieder nicht, sie wollen, dass wir normal sind, dass wir funktionieren, dass wir uns anpassen, uns gesund ernähren, das Richtige essen, die richtige Menge, nicht zu viel und nicht zu wenig, das, was sie gekocht haben für uns, das, was sie uns anbieten, aufessen sollen wir und danke sagen für alles, was sie für uns tun, sie haben es ja auch nicht leicht, sie haben es wirklich nicht leicht, sie sind immer für uns da, sie wollen nur das beste für uns, wir schulden ihnen unser Leben, dieses verfickte Leben, sie sind an allem schuld, wir hassen sie und dafür sollten wir uns schämen! Sie und davor ihre Eltern und die Eltern davor haben die Welt zu dem gemacht, was sie ist und dafür sollten sie sich schämen. Sie sollen uns in Ruhe lassen. Sie sollen uns sagen, dass sie uns lieben, genauso wie wir sind. Dass es ihnen leid tut. Alles. Dass sie an uns glauben. Dass sie uns nicht aufgeben. Dass sie immer für uns da sind, aber nichts von uns wollen. Dass sie zu einer selbstlosen Liebe fähig sind. Oder nicht. Sie sollen selbst in Therapie gehen. Sich mit ihrer eigenen Scheiße auseinandersetzen. Mit ihren Beziehungen zueinander. Mit ihrer Beziehung zu sich selbst. Zu ihrem Körper. Sie sollen unseren Körper in Ruhe lassen. Unser Körper ist völlig in Ordnung, so wie er ist. Klein. Groß. Dick. Dünn. Mit großem oder kleinem Po. Schmalen oder breiten Hüften, langen oder kurzen Beinen. Fest oder füllig. Wir brauchen kein Schlagwort wie Body Positivity dazu, wir brauchen auch keine Body Neutrality, wir sind unser Körper, wir spüren unseren Körper, wir spüren uns, wir spüren den Hunger, wir spüren die Sättigung, wir spüren, dass wir leben, dass wir das Leben nicht kontrollieren können, uns nicht kontrollieren können, unsere Gefühle, die Angst und die Wut, die Einsamkeit, die Überforderung, die Gier, den Mangel, wir gestehen uns ein, dass das alles zu uns gehört. Dass es Menschen gibt, denen wir vertrauen können. Einer Therapeutin zum Beispiel. Einer Freundin. Dass es Menschen gibt, die verstehen können. Dass es Menschen gibt, die lieben können. Uns zum Beispiel. Uns selbst zum Beispiel. So wie wir sind.