warum buddha schläft

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Saša Ilić ◄
Übersetzt aus dem Serbischen von Marie-Luise Alpermann

Im Reisebüro Atlas fing ich inmitten der Sommersaison an zu arbeiten, und zwar nachdem ich eine ganze Weile arbeitslos gewesen war. Weil die erfahreneren Touristenführer mit weiter entfernten Zielen betraut wurden, bekam ich die inländischen Touren, vor allem Führungen im Open-Top-Bus quer durch Belgrad: Dorćol, Platz der Republik, die Plätze Terazije und Slavija, dann Novi Beograd und Zemun. Mit der Zeit lernte ich, dass sich Rentner aus Slowenien am liebsten in Vračar tummelten, in der Nähe der riesigen Kirche des heiligen Sava, während Rumänen immer an der Erzählung über das Gebäude des ehemaligen Zentralkomitees interessiert waren. Es kamen vor allem Touristen aus den Nachbarländern, seltener aus Mittel- oder Westeuropa. Meine ambitionierte Chefin, Frau Mila Popara, las jedes Mal penibel die Berichte sowie die Fragebögen, die die Touristen aus meinen Gruppen ausfüllten. „Sie machen gute Fortschritte“, sagte sie mir Ende September, nachdem sie mich in ihr pastellorange gestrichenes Büro gerufen hatte, in dem Fotografien der Weltmetropolen an den Wänden hingen. Um den Hals trug sie ein Tuch der gleichen Farbe, auf dem großen schwarzen Tisch stand ihr Laptop mit einem Aufkleber der Reiseagentur. „Ja, ja, Sie verdienen eigentlich mehr Aufmerksamkeit“, fügte sie hinzu und bot mir einen Stuhl an. Ich schaute in Richtung der schwarzen Ledersessel und dann durch die verglaste Flügeltür, die über das Metallgeländer am Balkon den Blick auf die Branko-Brücke und die vor Anker liegenden Schlepper auf der Sava freigab. „Sie haben aber eine schöne Aussicht“, bemerkte ich, nachdem ich es mir ihr gegenüber bequem gemacht hatte. Sie lächelte. Dann stand sie auf und war in zwei Schritten vor der Balkontür. Sie öffnete sie theatralisch und ließ eine frische Brise vom Fluss herein, die uns überströmte. „Ja, die Agentur achtet auf jedes Detail“, sagte sie, wobei sie sich triumphierend auf dem Absatz umdrehte. Hinter der schmalen Brille mit grünem Rand funkelten ihre Augen vor Zufriedenheit. „Wirklich auf alles“, wiederholte sie, „sogar darauf, wo sich unsere Büros befinden.“ „Wie lange arbeiten Sie schon im Atlas?“, fragte ich. „Von Anfang an“, antwortete sie beinahe beleidigt. Dann ging sie zu ihrem Tisch, nahm einen Ordner und setzte sich neben mich. Eine starke Parfümwolke umwehte ihre Bewegungen. Ich zuckte zusammen, weil ich an das Gespräch mit einem Kollegen denken musste, der mir gleich in der ersten Arbeitswoche, während wir im Greenet auf der Slavija zusammen Kaffee tranken, von seiner love affairmit dieser Frau erzählt hatte. Aber sein Glück währte nicht lange. Nach zwei Monaten wollte sie nichts mehr von ihm wissen, die europäischen Touren wurden ihm entzogen und über sein Zuhause brach eine Katastrophe herein. Er hatte keine Wahl, arbeitete doppelt so viel für immer weniger Geld. Er warnte mich damals, ich solle mich ihr nicht zu sehr nähern, ihr Chanel „Mademoiselle“ könne schlimmer als Skorpiongift sein. Ich ertappte mich in Frau Poparas Gegenwart jedoch immer wieder, zwischen Anziehung und Ekel hin- und hergerissen zu sein. „Schauen Sie sich dieses Verträgchen an“, sie lenkte meine Aufmerksamkeit auf die aufgeschlagene Mappe auf ihren Knien: „Das hier ist etwas Besonderes, was ich gerade Ihnen anvertrauen wollte.“ „Mir?“, fragte ich verblüfft. „Ja, ja, schauen Sie mal … Wir haben hier einen interessanten Auftrag aus Negombo bekommen … Wissen Sie, wo das ist?“ Sie sah mich prüfend über die Brillengläser hinweg an. „Ja, eigentlich, Negombo, hm, nein, nicht wirklich … Ist das in Asien?“ „Sri Lanka“, antwortete sie knapp und nahm eine Kopie des Vertrags und ein paar Prospekte heraus: „Ein Herr aus Sri Lanka hat sich an uns mit einer speziellen Anfrage gewandt, wissen Sie … Er würde gerne einige Orte in der Vojvodina bereisen … Ich würde sagen, das ist wie gemacht für Sie.“ „Ich verstehe nicht“, sagte ich und gab mich interessiert: „Ist das eine Art Solo-Tour?“ „Genau, so ist es“, lächelte mir Frau Popara zu: „Deswegen verlangen wir auch einen hübschen Preis …“ „Ich wusste nicht, dass wir auch solche Arrangements anbieten …“ „Passen Sie auf. Dieser gewisse Herr …“, unterbrach sie mich und warf einen Blick auf das Papier, „Herr Beschek Kan-ta-scha-mi, 56 Jahre alt, hat sich bei uns gemeldet und eine Rundreise durch die Vojvodina angefragt, und wir sind ihm entgegen gekommen …“ „Komisch“, sagte ich, „was sucht ein Tourist aus Sri Lanka in der Vojvodina …“ „Ich bitte Sie“, ermahnte sie mich in vorwurfsvollem Ton. „Wir sind nicht dafür da, uns über die Gründe einer Reise Gedanken zu machen, sondern dafür, touristische Lösungen anzubieten … Also lesen Sie sich den Vertrag und das Briefchen dieses Herrn … Schami durch. Und ach ja, arbeiten Sie mir selbstverständlich einen Zeitplan seines Aufenthaltes bei uns aus.“ „Ah, okay, bis wann muss ich das denn fertig haben?“ Sie nahm ihr Smartphone vom Tisch und fing an, mit ihrem langen, lackierten Fingernagel über den Bildschirm zu wischen. „Also, folgendermaßen … Wenn heute der 28. September ist, dann haben Sie … Sie haben … Fast zwei Tage Zeit. Genau, fast zwei Tage um den Plan zu machen. Herr … Schami landet am Samstag, den 1. Oktober um 13.45 in Surčin. Bis dahin muss alles in Sack und Tüten sein.” „Und wie lange bleibt Herr Schami?“ „Ich glaube sieben Tage, schauen Sie nach …“, sagte sie, nachdem sie an ihren Schreibtisch zurückgekehrt war. Dahinter fühlte sie sich am wohlsten, das war an ihrer Körperhaltung zu sehen. Sie mochte es zu führen. Die Welt um sich herum, ja auch die Menschen, sah sie oft verkleinert. „Also, schicken Sie mir bitte ihr Plänchen bis morgen um 12. Und ja … Informieren Sie sich ein bisschen über Sri Lanka. Wir könnten vielleicht darüber nachdenken, Sommerreisen auf diese Insel anzubieten. Andere machen das schon.“ „Ich werde mein Bestes geben“, lächelte ich gezwungen. „Ich weiß, dass Sie zu Einigem fähig sind“, erwiderte meine Chefin und schaute mir dabei unverwandt in die Augen.

Tags darauf verbrachte ich den ganzen Vormittag damit, mir einen Reiseplan durch die Vojvodina auszudenken. Von Belgrad aus ist das gar kein leichtes Unterfangen, weil die Informationen im Internet dürftig sind und man schwer an Bücher kommt. Ich ging in die Stadtbibliothek und bestellte drei Bücher. Mit dem Fahrrad durch die Vojvodina, Architektur der Vojvodina und eine dicke Monographie der Landschaften und Menschen der Vojvodina. Ich wartete ungefähr eine Stunde und blätterte durch die Zeitungen, die neben dem Katalog lagen, bis sie mir am Schalter mitteilten, dass man die bestellten Bücher nur im Lesesaal einen Stock höher benutzen dürfe. Ich schaute auf die Uhr und zuckte mit den Schultern; kurz darauf saß ich an einem Platz im geräumigen Lesesaal und vertiefte mich in die Bücher. Ich sah mir Fotografien von Sonnenuntergängen über Kanälen an, Kinder, die in einem langen Futtertrog planschten, um sie herum irgendeine Einöde der Vojvodina, vereinsamte Bäume auf Bauernhöfen. Ich fragte mich, was hier interessant sein könnte für einen Touristen aus Sri Lanka. Vielleicht die Städte, der Nationalpark Fruška Gora oder die Klöster. Ja, Klöster kommen bei Touristen immer gut an. Aber was war eigentlich mein zukünftiger Gast: Buddhist oder … Gab es auch Christen auf Sri Lanka? Da wurde mir klar, dass ich auch Handbücher über dieses entfernte Land brauchte. So vergingen Stunden, in denen ich es nicht schaffte, etwas Gescheites zu Papier zu bringen. Aus dem freundlichen Brief des Herrn Kantaschami konnte ich nur herauslesen, dass er an der Vojvodina interessiert war. Also beschloss ich, meinen Plan um drei Anhaltspunkte herum zu stricken: Novi Sad, die Fruška Gora und die Donau. Das hatte ich übrigens im Angebot einer Konkurrenzfirma gefunden, die die Vojvodina schon lange im Programm hatte, ebenso wie Sri Lanka. Das Motto ihres Angebots lautete „Sri Lanka – Land der lächelnden Menschen“. Am selben Nachmittag machte ich einen vorläufigen Zeitplan mit knappen Erläuterungen, der auch die Ankunft des Gastes, den Transfer zum Hotel sowie Mahlzeiten und Abreise umfasste. Dabei hoffte ich, dass der Herr kein Vegetarier war, denn das würde mir die Arbeit noch zusätzlich erschweren. Ich müsste sonst bei jedem einzelnen Restaurant anrufen und mit dem Küchenchef über deren Menü reden. Wohin würde uns das nur führen, überlegte ich, während ich mein Dokument an Frau Popara schickte. Ich wartete einen Moment, weil ich wusste, dass sie immer ziemlich schnell antwortete. So auch dieses Mal. Es kam eine Mail mit Smiley und Küsschen unter der Nachricht, in der sie mich informierte, dass sie sich bald mit Kommentaren zurückmelden würde. Ich wartete fast eine Stunde, dann kam endlich ein Dokument mit vielen Korrekturen und Detailfragen. Es verstehe sich von selbst, dass ich auch einen vegetarischen Speiseplan vorbereiten müsse. Eine Weile saß ich völlig entmutigt vor dem Computer, aber dann merkte ich mit einem Blick auf die Uhr, dass mir nicht mehr viel Zeit blieb, und machte mich an die Arbeit.

Während ich die Anmerkungen von Frau Popara durchging, wurde mir klar, dass Herr Kantaschami nicht bemerken durfte, dass die Vojvodina, im Unterschied zu seinem Land, nicht gerade eine Welt der lächelnden Menschen war. Er sollte lieber nicht die Schwere des Smogs in Pančevo und Umgebung fühlen. Eigentlich sollte er nicht einmal die Klöster der Fruška Gora in vollem Glanz zu sehen bekommen, denn dann könnte er sich denken, was für einen großen Unterschied es doch zwischen dem Lebensstandard in den Wohngebieten und dem in den Klostergemeinden gab. Sie wies mich mit Nachdruck auf diese Probleme hin und versuchte mich dabei zum was-weiß-ich-wievielten Mal zu überzeugen, dass unser Job nicht nur Unterhaltung der Touristen sei, sondern ein „ständiges Branding unseres Landes“. Deshalb schickte sie mir einen Haufen Webadressen von Galerien, Kultur- und Kunstvereinen sowie lokalen Festivals in der Vojvodina. In einer Anmerkung meinte sie, dass wir auf keinen Fall das Serbische Nationaltheater auslassen dürften. Die asiatische Welt liebe das Theater, schrieb sie selbstsicher, und wir hätten ihnen einiges zu bieten. Ob ich einen ihrer Filme gesehen hätte, ob ich den Wechselkurs verfolge, denn der Dinar würde wieder fallen, ob ich mir Literatur über Sri Lanka ausgeliehen hätte und schließlich, ob ich mich melden könne, wenn ich mit allem fertig sei, im Laufe der Nacht, egal wann. Sie sei bei Skype online und würde auf mich warten.

Er kam als einer der letzten heraus. Ich bemerkte ihn schon von Weitem: Er watschelte leicht und zog einen riesigen grünen Samsonite-Koffer hinter sich her. Er war der einzige Asiat im Flieger von Frankfurt nach Belgrad. Ich hielt das Papier mit seinem Namen noch ein bisschen höher, wie um festzustellen, ob er wirklich mein Gast war. Er blieb kurz stehen, schreckte vor den Taxifahrern zurück, die versuchten, ihn am Arm zu fassen. Nachdem er seinen Namen entdeckt hatte, machte er sich auf den Weg zu mir. „Herr Kantaschami?“, fragte ich und bot ihm an, das Gepäck zu tragen. „Ja, das bin ich“, seine Stimme klang irgendwie kehlig. Er lehnte ab, mir seinen Koffer anzuvertrauen: „Kantaschami. Beschek Kantaschami.“ „Ich bin Ihr Reiseleiter“, stellte ich mich vor und wies mit der Hand Richtung Ausgang. Beschek Kantaschami erklärte mir unterwegs auf Englisch, was für Probleme er beim Umsteigen in Deutschland gehabt hatte, aber ich konnte ihn nicht besonders gut verstehen. Er redete so, als hätte er zwei Walnüsse im Mund, die er immerzu vor und zurück rollte, und manchmal, wenn er schneller sprach, zerfielen seine Worte einfach. Am Auto blieb ich stehen und schaute ihn noch einmal richtig an. Ich hätte niemals raten können, wie alt er war. Er war klein und zog die Schultern ein bisschen nach vorn. Er trug ein kurzärmliges lila Hemd, das am Bauch spannte und von der Fahrt zerknittert war. Er sagte irgendwas zu mir, dann holte er mit einer weichen Bewegung eine Sonnenbrille aus der Handtasche. Er lächelte, als wollte er sagen: „Wir könnten jetzt mal losfahren.“ Unterwegs betrachtete ich ihn im Rückspiegel. Obwohl er eine ausgesprochen dunkle Haut hatte, hob sich an seiner linken Wange ein großer schwarzer Leberfleck deutlich ab. Wenn er anfing zu reden, bewegte sich der Unterkiefer leicht von links nach rechts. Anscheinend kam sein Englisch wegen genau dieser Bewegung so unverständlich heraus. „Wir fahren jetzt zum Hotel“, sagte ich, während ich zur Autobahn abbog. „Ich vermute, Sie wollen sich erst mal ein wenig ausruhen …“ „Ach nein, nein“, wehrte Kantaschami ab: „Ich habe keine Zeit für Erholung. Würde nur kurz meine Sachen ablegen.“ „In Ordnung“, sagte ich und versuchte dabei in Gedanken seine Worte zu analysieren, wie um sicherzustellen, dass ich wirklich verstand, was er mir da gerade gesagt hatte. Tatsächlich musste ich vor dem Park-Hotel nicht besonders lange warten. Obwohl mir schien, Beschek Kantaschami würde sehr langsam laufen, erledigte er alles zügig. „Wir könnten jetzt mittagessen fahren“, schlug ich ihm vor, als er wieder ins Auto stieg. Wie das Pendel eines Metronoms sah die Kopfbewegung aus, die er daraufhin machte. Ich konnte sie nicht wirklich deuten, also stellte ich ihm die Frage noch einmal. „Ja, okay, okay“, wiederholte er mehrmals. „Aber nur kurz, ich würde danach gerne noch etwas erledigen.“ „Ich habe einen Reiseplan für Sie“, sagte ich und hielt ihm die Mappe entgegen, die meine Chefin zusammengestellt hatte. Er machte sie auf und sah sich neugierig das Programm an. Dabei murmelte er etwas vor sich hin, weshalb ich mir nicht sicher war, ob er mit dem, was er sah, zufrieden war. „Ich hätte da etwas anzumerken“, hörte ich ihn vom Sitz hinter mir sagen, während ich versuchte, das Auto in Richtung Nemanjina ulica einzufädeln, in der eine größere Gruppe Demonstranten vor dem Parlament die Durchfahrt blockierte. Der Polizist auf der Kreuzung versuchte nervös den Verkehr zur Kneza Miloša umzulenken, aber dann verstopfte die Kreuzung so, dass wir überhaupt nicht mehr vorwärts kamen. „Was ist hier los?“ fragte mein Gast und lugte über seine Sonnenbrille. „Ach, keine Ahnung. Ein paar Reservisten, die protestieren …“ „Soldaten?“, wiederholte er langsam. „Ehemalige Soldaten“, fügte ich hinzu. „Sie haben ihren Sold von 1999 immer noch nicht bekommen, deshalb sind sie wütend.“ „Vom Krieg im Kosovo?“, fragte Herr Kantaschami. Ich fand seine Frage merkwürdig. Für einen Touristen aus Sri Lanka schien er ziemlich informiert zu sein. „Ja, ja, von damals.“ „Und werden sie ihr Geld kriegen?“, blieb er beharrlich. „Wer weiß das schon, Herr Schami. Verzeihung … Kantaschami.“ „Sie können mich ruhig Schami nennen“, schmunzelte mein Reisender verhalten. „So nennen mich manchmal die Kinder in Negombo. Im Kindergarten, wo ich arbeite.“ „Entschuldigen Sie …“, versuchte ich mich zu rechtfertigen und dachte dabei wütend an Popara, die seinen Namen als Erste abgekürzt hatte. „Nein, nein, keine Entschuldigung bitte“, sagte er. „Aber diese Leute, werden sie ihr Geld bekommen?“ „Ich glaube, ja“, antwortete ich knapp, denn ich war mir nicht mehr sicher, was er alles gefragt hatte. Ich hatte das Gefühl, dass er länger redete, als ich ihm folgen konnte. Dann löste sich der Stau und wir fuhren weiter. Kantaschami blickte noch eine Weile den Reservisten hinter uns nach. „Und die Ruinen?“, fragte er. „Sind die vom gleichen Krieg?“ „Ja, vom gleichen … Ist nach der Bombardierung so geblieben …“ „Ihr lasst das jetzt so stehen … Wie ein Denkmal, stimmt’s?“ „So sieht es wohl aus“, antwortete ich. Ich weiß nicht warum, aber schon am Sava Center war mir klar, dass die ganze Sache mit diesem Reisenden nicht so leicht werden würde, wie meine Chefin das geplant hatte. Ich suchte ihn noch einmal im Rückspiegel: Die große schwarze Sonnenbrille sah aus, als wäre sie in sein neugieriges Gesicht gewachsen.

„Nein, ich kann Ihnen gar nichts im Voraus sagen“, sagte ich zu meiner Chefin, die am anderen Ende der Leitung immer nervöser wurde. Ich stand vor dem Restaurant Zum Karpfen in Zemun und versuchte ihr zu erklären, um was für eine Art Reisenden es sich bei Kantaschami handelte. „Ich kann mich ganz einfach nicht an unser Programm halten, also Punkt für Punkt, verstehen Sie … Der Mann ist ziemlich gut informiert und scheint mir … Wie soll ich sagen … Er scheint seine eigenen Pläne zu haben.“ „Ich bitte Sie“, widersprach sie. „Das ist eine Reiseagentur, wir sind keine Guides durch den Wilden Westen, das ist Ihnen wohl klar … Der Kunde muss sich so verhalten, wie es der unterschriebene Vertrag vorsieht …“ „Ja, ja, ich verstehe. Ich werde noch einmal mit ihm sprechen … Wie bitte? Hm, das weiß ich nicht … Er möchte sich nach dem Mittagessen mit einem Mann treffen … Aber klar … Ja, ja. So werd ichs machen“, versprach ich. Sobald ich jedoch mein Handy in die Tasche gesteckt hatte, erblickte ich Kantaschami vor der Tür des Restaurants. Er hatte die Jacke über den Arm geworfen und erwartete mich bereits. Kurz darauf fuhren wir weiter.

„Warum haben Sie mir nicht gleich gesagt, dass Sie einen Friseur brauchen?“, fragte ich Kantaschami im Auto, als er mir sagte wohin er wollte. Er hatte inzwischen seinen Laptop auf dem Schoß geöffnet und fragte mich, ohne hochzuschauen, ob ich wisse, wo Voždovac sei. „Jaaa“, dehnte ich meine Antwort und wartete auf eine neue Überraschung. „Vi-ta-no-vac-ka“, stammelte er den Namen der Straße, wobei er mehrere Male von vorn anfangen musste. „Aha, Vitanovačka, ich glaub ich weiß, wie wir da hinkommen“, sagte ich erfreut, weil ich es geschafft hatte, den Straßennamen zu erkennen. „Aber was machen wir dort … Wissen Sie, ich wollte Ihnen eigentlich das …“ „Morgen“, unterbrach er mich, während er auf den Laptop starrte, dessen Widerschein in den dunklen Kegeln der Brillengläser erzitterte. „Ihr Programm kann morgen beginnen.“

Es stellte sich heraus, dass Beschek Kantaschami schon vorher mit dem Mann Kontakt aufgenommen hatte. Früher hatte er bei der Armee als Friseur gearbeitet, war nun aber schon lange in Rente. Sein Name war Ljuba. Er wohnte am Ende der Vitanovačka ulica als Untermieter im Erdgeschoss eines alten Wohnhauses. Als ich das Auto geparkt hatte und aussteigen wollte, legte Kantaschami mir sanft die Hand auf die Schulter und bat mich, noch zu warten. Es war ungefähr zehn vor sechs. Vor der Tür des Friseurs standen wir dann genau um sechs. Ein stämmiger älterer Mann in kariertem Hemd öffnete uns. Aus den Tiefen der Wohnung drangen Geräusche der Belgrader Chronik aus dem Fernsehen zu uns. „Entschuldigen Sie“, sagte ich, „mein Gast, Herr Kantaschami, sagt, er habe ein Treffen mit Ihnen ausgemacht.“ Der Mann fuhr sich mit den Fingern durch das lichte graue Haar und atmete tief ein. Er musterte uns, lächelte dann gezwungen und streckte Beschek seine Hand entgegen. „Na dann, bitt’schön, bitt’schön, Herr Kantami.“ „Kantaschami“, verbesserte ich, woraufhin mein Gast nur abwinkte und mit einem Lächeln die Gastfreundschaft des pensionierten Friseurs erwiderte. Ljuba führte uns in einen kleinen Raum, der offensichtlich zugleich als Küche, Ess- und Wohnzimmer diente. Als wir uns an den altmodischen runden Tisch gesetzt hatten, holte er eine Flasche Obstler aus dem Schrank und stellte kleine Gläser vor uns auf. Während ich den Schnaps ablehnte, machte Kantaschami einfach wieder seine Kopfbewegung als Zeichen der Zustimmung. Dann schaltete Ljuba den Fernseher aus und setzte sich uns gegenüber. Er trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte. An der Wand über ihm hing das große Bild eines naiven Künstlers – eine verlassene Allee in einer Ebene, die sich am Horizont in einer kaum zu ertragenden Himmelsbläue verlor. Kantaschami legte vorsichtig seinen Laptop und zwei weiße Briefumschläge auf den Tisch, einen größeren und einen kleineren. Er machte den Computer an und las dann eine Weile auf dem Bildschirm vor sich hin, wie um sich zu erinnern, was jetzt zu tun sei. Währenddessen trank Ljuba noch ein Gläschen Obstler und vergaß nicht, auch mir noch einen anzubieten. „Erinnern Sie sich noch an diese Zeit?“, fragte uns Kantaschami überraschend, ohne vom Bildschirm aufzublicken. „War das von Anfang Oktober bis Ende November 1991?“ Ljuba schaute verunsichert erst mich und dann ihn an. Beschek suchte meinen Blick, während ich versuchte zu verstehen, was er da redete. Dann übersetzte ich seine Frage irgendwie. Der alte Friseur seufzte und faltete seine Hände auf dem Tisch, wobei er die Finger so fest ineinander flocht, dass ich sie knacken hören konnte. „Ja schon, mehr oder weniger … Aber es ist viel Zeit vergangen seitdem …“ Als ich Beschek die Antwort übersetzt hatte, machte er gleich weiter. Er schien mir ein richtiger Experte zu sein. Während sich immer neue Fragen von ihm aneinanderreihten, fing ich jedoch irgendwann an zu begreifen, dass dieser merkwürdige Mann aus Sri Lanka überhaupt kein Touri war, sondern einer, der sehr genau wusste, was er suchte, und der nicht vor hatte, von seinem Ziel abzulassen. Mein Handy fing an zu klingeln, aber als ich Poparas Kontakt leuchten sah, machte ich den Ton aus. Beschek stellte unterdessen seine Fragen, eine nach der anderen. Er wollte wissen, seit wann Ljuba fürs Militär als Friseur gearbeitet hatte und in welcher Kaserne, und dann, wann er angefangen hatte ins Lager zu gehen, wie er ein Gefängnis nannte, das Ende 1991 übergangsweise neben dem Banater Dorf Begejci eröffnet worden war. Ljuba wartete auf jede neue Frage, die ich übersetzte, mit weit aufgerissenen Augen, als würde es ihn anstrengen, meiner Rede zu folgen, genau so wie ich mich abmühte, Bescheks Worte zu verstehen. Danach atmete er jedes Mal erleichtert aus, faltete seine Hände auseinander und wieder zusammen. Fast sein ganzes Arbeitsleben hatte er als Militärfriseur verbracht, und das meistens in der Kaserne „4. Juli“ in Voždovac, aber manchmal war er auch in andere Kasernen gefahren, wenn er dort gebraucht wurde. Auf diesen Bauernhof, betonte Ljuba, als wollte er Bescheks Bezeichnung abmildern, war er Mitte Oktober zum ersten Mal gekommen, er konnte sich nicht an das Datum erinnern, aber an diesem Tag hatte er den ganzen Nachmittag lang bis zum späten Abend gearbeitet. Er arbeitete in einem kleineren Raum im Verwaltungstrakt. Seine Kontaktperson war ein gewisser Fähnrich Ivonić, der ihm ab und zu solche Aufträge vermittelte. „Wie vielen Lagerinsassen haben Sie an diesem Tag die Haare geschnitten?“, unterbrach ihn Beschek. „Wie vielen?“, überlegte Ljuba. „Naja, was weiß ich, vielleicht um die dreißig, vielleicht auch mehr … Bestimmt mehr.“ Kantaschami holte daraufhin aus dem größeren Umschlag eine Fotografie und legte sie auf den Tisch. Es war eine Farbfotografie. Darauf war das Porträt eines jungen Burschen zu sehen, den ich im ersten Augenblick für den jugendlichen Beschek hielt. „Wer ist das?“, fragte ich erstaunt und betrachtete das kindliche Gesicht auf dem Foto. „Isur Kantaschami“, sagte er leise. „Mein Bruder …“ „Bruder?“, wiederholte ich. „Erinnern Sie sich vielleicht an diesen Mann?“, fragte Beschek und sah zuerst Ljuba, dann mich an. Ljuba hielt das Foto hoch, hielt es von sich weg und kniff ein Auge zu. „Nee, nicht wirklich“, sagte er sichtlich beunruhigt. Schweiß benetzte seine Oberlippe. „Es gab dort auch solche …“ „Sie wollen wohl sagen, Schwarze Menschen?“, fragte Kantaschami. „Ja, ja, ein paar habe ich die Haare geschnitten … Vielleicht genau ihm … Ich weiß es nicht …“ „Wie oft pro Monat sind Sie in das Lager gefahren?“ „Na, was weiß ich, so einmal wöchentlich, manchmal auch zweimal. Ja, es werden so zweimal pro Woche gewesen sein …“ „Das heißt fast acht Mal pro Monat … Dann haben Sie ihn sicher gesehen …“ „Aber dort gab es viele Leute … Was weiß ich. Wahrscheinlich, ja …“ „Waren Sie der einzige Friseur in Begejci?“ „Ich glaube schon, doch …“ „Und wie haben Sie den Lagerhäftlingen die Haare geschnitten?“ „Na rasiert, mit der Maschine, ist doch klar. Auf zwei …“ „Und Frauen?“ „Nein, ich wusste nicht mal, dass es dort auch Frauen gab …“ „Gab es.“ „Ich war Herrenfriseur, wissen Sie …“ „Haben Sie diesem Mann die Haare geschnitten?“, er zeigte wieder auf die Fotografie. „Wie oft haben Sie ihn gesehen?“ „Was weiß denn ich … Für mich sehen die alle gleich aus …“ „Haben Sie nun oder nicht?“ „Habe ich nicht.“ „Also nicht gesehen?“ „Doch, habe ich …“, bestätigte Ljuba und wischte sich die Stirn mit dem Hemdsärmel ab. „Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?“ „Na, am Ende wahrscheinlich …“ „An welchem Ende? Wessen Ende?“ „Solange es das Gefängnis dort gab …“ „Und wann war das?“, Kantaschami ließ nicht locker. Jetzt hatte er bereits den Laptop zur Seite geschoben und schaute Ljuba direkt in die Augen. Ich übersetzte langsam; manchmal musste ich ihn bitten, seine Frage zu wiederholen. „Nun, das war“, erinnerte sich der alte Friseur, „im selben Jahr, so im Dezember vielleicht …“ „Da wurde das Lager in Begejci geschlossen, oder wie?“ „Ja, genau“, sagte Ljuba erleichtert. „Haben sie irgendwann etwas Komisches im Lager gesehen?“ „Wie meinen Sie, komisch?“, fragte Ljuba und zog die Arme zu sich heran. „Irgendwas, was Ihnen komisch vorkam?“, beharrte Beschek. „Meinen Sie die Lebensbedingungen, oder was …?“ „Gestank, Läuse, irgendeine Krankheit vielleicht … Irgendwas …?“ „Nein, nein, da war alles in Ordnung … Das Rote Kreuz hat das ja auch bestätigt …“ „Wie hat man Sie für diese Arbeit bezahlt?“ „Wie meinen Sie das? Es gab Spesen für den Einsatz vor Ort. Das wurde als Auftrag gemacht …“ „Vom Militär?“ „Ja doch, vom Militär …“ „Waren Sie mit diesem Fähnrich danach noch in Kontakt?“ „Nee, nee, nur selten … Er ist vor sieben, acht Jahren gestorben, glaub ich …“ „Also waren Sie in Kontakt?“ „In gewisser Weise, ja …“ „Haben Sie einen Wächter kennengelernt, den die Leute Gu-gi, Gu-le, Gu‑schter oder irgendwie so nannten?“ „Ich hatte keinen Kontakt zu den Wächtern …“ „Auch nicht, wenn sie die Häftlinge zum Haareschneiden gebracht haben?“ „Aber nur bis zur Tür …“ „Haben Sie den Offizieren auch die Haare geschnitten? Oder den Wächtern?“ „Nein, habe ich nicht. Die sind rausgegangen. Ich meine, sie haben nicht dort geschlafen, in Begejci.“ „Das heißt, sie hatten ihr ziviles Leben?“ „Aber ja doch, wie alle anderen auch … Sie arbeiteten in Schichten … So geht das nun mal …“ „Wissen Sie, wohin die übriggebliebenen Lagerinsassen deportiert wurden?“ „Weiß ich nicht. Doch, eigentlich hab ich da was gehört … Mitrovica, Niš … Keine Ahnung …“ „Hat Sie nicht interessiert?“ „Nein … Hat’s nicht …“ Beschek Kantaschami verstummte und schaute noch ein paar lange Momente weiter den Mann vor ihm an. Dann nahm er den kleineren Umschlag und legte ihn auf Ljubas Teil des Tisches. „Das ist für ein Mal Haareschneiden“, sagte er ruhig und fügte hinzu: „Vielleicht besuche ich Sie nochmal.“ Ljuba wurde verlegen, schaute zu mir, dann auf den Umschlag und schob ihn mit den Fingerspitzen dahin, wo niemand saß. „Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß“, fügte er hinzu. „Wissen Sie was“, lächelte Beschek höflich, „ich glaube Ihnen gar nichts … Aber ich werde es nachprüfen.“ Ich stockte, weil ich nicht wusste, ob ich alles, was er gesagt hatte, übersetzen sollte. Er bedeutete mir jedoch, seinem Gesprächspartner ruhig alles zu übermitteln. Dann nahm er das Foto seines Bruders vom Tisch und legte es vorsichtig in den Umschlag zurück. Als ich Ljuba Bescheks Worte übersetzt hatte, blinzelte der Mann ein paar Mal und starrte mich weiter stumpfsinnig an. Beschek steckte den Laptop in die Tasche und stand auf. Ich folgte ihm.

Im Auto sagten wir beide eine Weile nichts. Beschek hatte mich überrascht. Ich wollte ihn über seinen Bruder ausfragen und über alles, was sich erahnen ließ hinter dem, was ich an diesem Abend gehört hatte. „Hier ist mein Plan dieses Aufenthalts“, sagte Beschek irgendwann und reichte mir einen USB-Stick von der Größe eines Fingernagels. „Wie bitte?“, fragte ich verwirrt. „Ja genau, ich bitte Sie, das zu lesen und mir morgen zu sagen, ob Sie mich weiter begleiten können“, entgegnete Beschek Kantaschami. Ich suchte ihn im Rückspiegel. In der Dunkelheit, die sich langsam herabsenkte, blitzten ab und zu seine Augen auf. „Sie werden gut dafür bezahlt“, fügte er hinzu. „Aber ich arbeite in einer Reiseagentur, das ist nicht in Ordnung so“, wandte ich ein. „Sie haben doch einen Vertrag mit uns unterschrieben.“ „Es wird alles in Ordnung gehen, ich habe die Agentur gut bezahlt und Ihnen werde ich unterschreiben, dass Sie alles nach Plan erledigt haben … Geht das? Bitte holen Sie mich morgen um halb acht vor meinem Hotel ab.“ Beim Aussteigen blickte er noch einmal zurück ins Auto und bat mich, die Dokumente auf dem Stickaufmerksam zu lesen. Dann verzog er den Mund zu einem Lächeln und trottete watschelnd zum beleuchteten Eingang des Park-Hotels.

Von mehreren Dokumenten, die ich gefunden hatte, öffnete ich das mit dem Namen „Isur Kantaschami“. Als er am 17. September 1991 in Skopje ausstieg, war der Mann siebenundzwanzig Jahre alt gewesen. Er war Vertreter der Firma Rathna Ceylon Cinnamon Ltd., die gemahlenen Zimt sowie Zimtelixier für Pharmakonzerne auf der ganzen Welt exportierte. Zwischen seiner Firma und dem kroatischen Unternehmen Pliva war vorher vereinbart worden, dass der junge Kantaschami mit den fertigen und von seinem Direktor bereits unterschriebenen Verträgen nach Zagreb reisen sollte. Zwei Tage später wurde der junge Mann am Belgrader Busbahnhof verhaftet, wo er versucht hatte, eine Anschlussfahrt nach Zagreb zu bekommen. Er wurde 48 Stunden auf einer Polizeistation festgehalten, weil sie ihn verdächtigten, ein Söldner zu sein, der sich nach Kroatien durchschlagen sollte, um sich in Slawonien dem Korps der Nationalgarde anzuschließen. Man deutete seine Papiere und auch die fertigen Kaufverträge als Chiffre für Hilfslieferungen an die Brigaden des Korps, die der kroatische Präsident von anderen Ländern zu bekommen versuchte. Vergeblich bemühte sich Isur Kantaschami auf Englisch den Grund seiner Geschäftsreise zu erklären. Der Polizeiinspektor schrieb einen Ermittlungsbericht, demzufolge der junge Kantaschami ein legitimer Kriegsgefangener war, der in der Republik Serbien gefasst wurde, während er versuchte, auf feindliches Territorium zu gelangen und sich den kroatischen Truppen anzuschließen. Als solcher wurden ihm seine Papiere und alles Geld abgenommen und er verbrachte sechs Monate im Belgrader Zentralgefängnis unter ständigen Misshandlungen und ohne Recht auf einen Anwalt oder Telefonanruf. Am 6. Oktober wurde der junge Mann im Morgengrauen mit Handschellen in den Hof des Zentralgefängnisses geführt, in eine grüne Minna geworfen und in unbekannte Richtung deportiert. Er lag gekrümmt in der Ecke des Transporters und hoffte, dass sie ihn doch noch in die Botschaft fahren würden, wie er es schon beim Verhör auf der Polizeiwache gefordert hatte. Als er nach einigen Stunden Fahrt aus dem Polizeiauto geführt wurde, befand sich Isur Kantaschami allerdings vor einem altmodischen langen Gebäude auf irgendeinem Bauernhof, ringsum nur Felder und Flachland. Im Hof wuselten bewaffnete Leute in Polizei- und Militäruniformen herum, aber es gab auch einige in Zivil. Zwei Wächter packten ihn, verprügelten ihn mit Stöcken und führten ihn dann in eine Baracke ab, wo noch weitere Gefangene waren. Als sie ihn zu ihnen stießen, rückten sie weg und bildeten einen Kreis um ihn, wie um einen Aussätzigen. Er war ausgehungert und durstig, die Knochen schmerzten von den Schlägen und vor Kälte. Irgendwie schleppte er sich in eine Ecke und blieb dort auf dem zertrampelten Stroh, das den Betonboden hier und da bedeckte, zusammengekauert liegen. An diesem Tag begann der letzte Lebensabschnitt des jungen Geschäftsreisenden aus Sri Lanka. In einer Gruppe Gefangener wurde er jeden Morgen zur Arbeit geführt. Er musste Kanäle ausheben und Stacheldraht spannen, bis dieser in doppelten Spiralen einen Belagerungsring um Begejci bildete. Den Namen des Lagers vermochte er erst nach langer Zeit aus der Sprache der übrigen Gefangenen herauszuhören. Das Lager füllte sich mit jedem Tag und Kantaschami war bemüht, so gut wie möglich zu arbeiten, weil er schnell gesehen hatte, was mit jenen passierte, die die Befehle der Wächter boykottierten. Er meldete sich freiwillig zum Bauen der hölzernen Wachtürme, an die später Reflektoren und Halterungen für MGs angebracht wurden. Isur Kantaschami war geschickt. Als Junge hatte er ein außergewöhnliches Talent beim Zeichnen und Basteln gezeigt. Mit dreizehn konnte er schon das Holzmodell eines Segelschiffs bauen und mit fünfzehn eine Replik des Löwenfelsen vom Tempel in Sigiriya. Er hätte bestimmt Architektur studiert, wenn die Eltern und sein Bruder ihn nicht gedrängt hätten, sich an der Universität in Colombo für BWL einzuschreiben. Das Diplom brachte ihn dann zum Unternehmen Rathna Ltd. und von da nach Begejci. Hier kehrte er beim Errichten des Lagers zwischen Zwangsarbeit und Tortur wieder zu seinem ursprünglichen Talent zurück. In alter Häftlingsmanier stellte er ein Pokerspiel her; er fertigte Druckplatten aus Holz für die Chips und zeichnete anstelle von Buben, Damen und Königen die Gesichter der Lagerwächter, Vernehmer, Folterer und Kommandanten. Ein paar dieser Spielkarten überlebten – der Eidechsen-Bube, das Hundeführer-As und der Barbier-Joker. Zusammen mit einem Brief an seinen Bruder übergab er sie seinem Freund Berislav V. aus Ilok, der am 13. Dezember 1991 in Bosanski Šamac freigetauscht wurde. Auf dem Brief ist der Poststempel gleichen Datums aus Slavonski Šamac. Danach hörte Beschek Kantaschami nie wieder etwas von seinem Bruder Isur.

Am nächsten Morgen stand ich, noch ein bisschen verschlafen, im Büro von Mila Popara, die auch sonntags arbeitete. Nervös lief sie zwischen mir und der Balkontür hin- und her, hielt ihre aufgeklappte grüne Brille in der Hand und tippte sich damit an die Schulter. Obwohl ich ihr versicherte, dass alles nach Plan lief, hielt sie immer wieder vor mir inne. Ich spürte ihren argwöhnischen Blick, der mir regelrecht in die Magengrube fuhr. Obwohl sie versucht hatte, die Zeichen der Müdigkeit zu überschminken, schimmerten Schatten unter ihren schwarzen Kulleraugen. Sie schürzte ihre rot angemalten Lippen, was sie für gewöhnlich tat, wenn sie keinen besseren Kommentar parat hatte. Kurz dachte ich, sie würde mir gleich an die Gurgel springen, aber stattdessen begannen ihre langen Finger an meinem orangefarbenen Halstuch zu spielen. Ihre Bewegungen waren ungewöhnlich langsam. Zum ersten Mal standen wir so dicht voreinander. Zuerst atmete ich entspannter als sonst ihren Duft ein, bis ich spürte, dass sie mein Tuch zu fest zuzog. „Dein Kragen ist ein bisschen verrutscht“, bemerkte sie lächelnd und ließ dann langsam ihre Hand über meine Brust und meinen Bauch gleiten. Kurz darauf spürte ich ihre Finger in der Hose und sie drückte fest zu. Ich öffnete den Mund und atmete laut ein. Ich weiß nicht, wie lange dieser Nahkampf zwischen uns gedauert hat. Sie schaute mich enttäuscht und ein wenig wütend an. Dann zog sie die Hand heraus und kehrte an ihren Schreibtisch zurück. Ich war völlig perplex. Einen Moment lang dachte ich, ich hätte halluziniert, aber das festgezogene Tuch um meinen Hals überzeugte mich, dass die letzten Minuten wirklich passiert waren. „Ich würde unseren Klienten gerne kennenlernen“, sagte sie in dienstlichem Tonfall. „Wir brauchen gute Beziehungen mit Sri Lanka, weißt du …“ „Also ich weiß nicht …“, stammelte ich vor mich hin. „Vielleicht könnte ich ein Treffen organisieren … Allerdings hat Herr Kantaschami ein volles Programm …“ „Das weiß ich alles“, sagte sie und deutete mit dem Bleistift auf den großen Kalender an der Wand. „Aber pass mal auf … Unsere Agentur gibt am Mittwoch Abend eine kleine Party zum erfolgreichen Ende der Sommersaison. Im Garten des Hotel M. Komm doch vorbei und bring mir diese Katze aus Negombo mit …“ „Ich werds versuchen“, nickte ich und drehte mich zur Tür. „Und noch etwas …“, hielt sie mich zurück. „Was denn?“, fragte ich verwirrt. „Warum bist du so verkrampft … Entspann dich mal.“ „Ich arbeite viel … Bin im Stress“, sagte ich rechtfertigend, während ich versuchte das Tuch zu lockern. „Ich ruf dich an“, sagte sie schließlich und zielte dabei mit dem Bleistift, als wolle sie auf mich schießen.

Das Dorf hieß Međa. Ich machte mir schon Sorgen, dass wir gleich an die rumänische Grenze kommen würden, als die Stimme des Navis ankündigte, ich müsse von der Hauptstraße abbiegen. Beschek schaute weiterhin auf den Computer, als würde er seinen Plänen mehr vertrauen, als den offiziellen Wegweisern. Ich parkte im Dorfzentrum und stieg aus. Der Tag hatte sich schon verabschiedet. Wir waren zu spät aus Belgrad losgefahren, zuerst wegen Poparas Anruf und dann, weil das Auto zwischendurch nicht angesprungen war. Beschek war nervös auf und ab spaziert, während ich unter den Wagen gekrochen war, um den Benzinfilter abzunehmen. Ich sah, wie sich seine Espadrilles nervös bewegten, auf der Stelle traten, auf den Fersen drehten und auf den Zehen wippten. Manchmal kamen sie näher heran, wie um mich anzutreiben. Ich hörte, wie er in seiner singhalesischen Sprache etwas vor sich hin murmelte. Tatsächlich kochte er vor Wut, wie sich später zeigen sollte. Wir standen gerade auf der Pančevo-Brücke, wo sich der Verkehr staute. „Das ist skandalös!“, bemerkte Beschek, nachdem er lautstark den Laptop zugeklappt hatte. „Meinen Sie den Verkehr?“ fragte ich ihn, während ich mich langsam hinter einen Škoda einordnete. „Ich meine alles … Das alles hier!“ „Herr Schami … Es tut mir wirklich leid … Wegen Ihrem Bruder …“ „Ich bitte Sie, fahren Sie!“ sagte er befehlerisch und fiel in seine vorherige Haltung auf dem Hintersitz zurück. Ich betrachtete ihn durch den Rückspiegel; in den Gläsern seiner Brille wälzte sich langsam die Donau. In Međa beruhigte er sich endlich, aber als wir an die vierte Tür klopften und auch da die gleiche Antwort bekamen, nämlich, dass ein gewisser Voja, bekannt als Hundeführer, schon lange nicht mehr hier lebte, ergriff ihn wieder die Nervosität. Wir irrten durch leere Straßen, auf der Suche nach irgendeiner Spur. Schlussendlich standen wir an der Schwelle eines heruntergekommenen Hauses und sprachen mit einer Alten mit schwarzem Kopftuch. Ihr Mann saß, die zerrissene Baskenmütze bis zu den buschigen Brauen ins Gesicht geschoben, auf der Bank neben der bröckelnden Wand und brummte abwesend vor sich hin. Nachdem sie uns zugehört hatte, nickte die Alte mit dem Kopf und ging ins Haus um etwas zu suchen. Sie überraschte uns, als sie mit einem Plastikeimer voll Dreckwasser wieder herauskam. „Ksch, ksch, jetzt reichts aber, weg hier!“, schrie sie, als würde sie Federvieh vertreiben. Sie schaute mich vorwurfsvoll an und schüttete dann den Inhalt des Eimers auf den verdutzten Beschek. Der schüttelte sich wie ein pummeliger Kater und sank dann kraftlos neben den Alten auf die schiefe Bank. Die gegerbte dunkle Haut bildete Lachfalten um seine Augen: „Sie waren dooort …“, verkündete er beinahe trällernd. „Aber sind alle schon lange tot … Alle …“

Voja Kučkar, der Hundeführer, schrieb Isur Kantaschami an seinen Bruder Beschek, was dieser später ins Englische übersetzte, war ein Lagerwächter aus der Gegend. Aus einem Dorf an der Grenze zu Rumänien, wohin er jeden Tag in der Dämmerung fuhr, um dann gegen Mitternacht zurückzukehren. Die Schäferhunde, die in der Pufferzone zwischen zwei Stacheldrahtzäunen umherliefen, witterten ihn schon von Weitem. Er war für sie das Herrchen, gab ihnen Befehle, fütterte und bestrafte sie: Er war ihr Gott. Die Hunde in Begejci machten Männchen vor ihm. Wir mussten es ihnen nachmachen und uns vor ihrem grausamen Dresseur verbeugen. Es war ein kalter Nachmittag, als wir vom Ausheben des Kanals zurückkehrten. Sie ließen uns in Reih und Glied an der langen Wand aufstellen und befahlen uns, die Hände hinter den Rücken zu legen und den Kopf vorzubeugen. In solchen Situationen passte ich immer auf, dass ich neben dem kleinen Berislav stand, denn er war der jüngste im Lager und konnte als Einziger Englisch sprechen. Er übersetzte mir dann heimlich, indem er leise vor sich hin murmelte. Dieses Mal flüsterte er mir zu, dass sie einen Lagerhäftling suchten, der jeden Tag die doppelte Ration vom Koch bekam. Ich sah die Stiefel zweier Wachmänner vorbeilaufen, wobei neben dem mit den größeren Füßen gehorsam ein angeleinter Schäferhund scharwenzelte. Ich wusste, es war der Hundeführer Voja. Da hörte ich etwas, das wie Abzählen klang. Am Ende trat jemand aus der Reihe der Häftlinge hervor. Kučkar brüllte etwas und dann hörte man Fußstapfen. Erst langsam und ängstlich, dann immer schneller. Der Gefangene rannte offenbar zum Tor. Kučkar befreite langsam den Hund von der Leine und hetzte ihn auf den flüchtigen Mann. Die anderen Hunde hinterm Stacheldraht fingen wütend an zu bellen und verfolgten die Jagd, an der sie nicht teilnehmen durften. Ich hörte zuerst Kläffen und heimtückisches Bellen und kurz darauf das Aufschreien des armen Mannes. Der Hundeführer trappelte vor Freude mit seinen Stiefeln auf dem Boden. Der Chor der Hunde war zum Gipfelpunkt angeschwollen. Ich weiß nicht, was danach passiert ist mit dem Mann, der die doppelte Ration stinkender Suppe bekommen hatte. Jedenfalls war der Koch tags darauf nicht mehr der gleiche. Ich hörte, wie die Hunde ihr Herrchen umschmeichelten, das manchmal hinter den Zaun zwischen sie gehen und sich ihnen völlig hingeben konnte. Dann pissten sie vor Glück und wälzten sich auf dem Rücken, obwohl sie sonst ziemlich bullige und blutrünstige Raubtiere waren. Da kam mir der eingeschlafene Buddha aus gebrannten Tonziegeln vor dem Löwentor in den Sinn. Als mich meine Mutter als Kind zum ersten Mal dorthin führte, fragte ich, warum der Buddha schlafe. Der Schein trüge, sagte sie mir, denn tatsächlich sei er innerlich völlig wachsam. Mir schien es aber nicht so. Es sah aus, als habe er uns in diesem Schlaf alle vergessen.

Am nächsten Tag kamen wir ins Dorf Torak: drei Straßen neben einem Kanal und ein paar aneinandergereihte Häuser, ringsum nichts als Einöde. Ein älteres Ehepaar lugte misstrauisch hinter dem Gartenzaun hervor, nicht weit entfernt von der Stelle, wo ich das Auto geparkt hatte. Als wir die beiden fragten, ob sie von einem verlassenen Bauernhof in der Umgebung wüssten, beteuerten sie, dass es so etwas hier in der Gegend nie gegeben hätte. Auch die Angler am Kanal wollten nicht mit uns sprechen. Sie winkten ab und drehten sich weg. Dann ging einer, dessen Dacia oben auf dem Kanaldamm wie aufgelaufen geparkt war, kurzerhand zum Auto, nahm sein Handy, rief vor unseren Augen die Polizei an und beschwerte sich darüber, dass irgendwelche Touristen ihn belästigen würden. Ein Schwarm Wildenten flog vom Kanal hoch und verschwand schnell in der Ferne, als hätte er die beklemmende Situation vorausgeahnt. Wir machten uns davon und fuhren zurück nach Belgrad. Bevor er aus dem Auto stieg, ermahnte mich Beschek mit erschöpfter Stimme, dass wir nicht aufgeben durften. „Vielleicht gibt es irgendwo eine Spur“, wiederholte er. Ich blickte ihn über die Schulter an und war unsicher, ob ich ihm vom Empfang im Hotel M erzählen sollte, aber dann gab ich die Idee sogleich wieder auf und fuhr nach Hause. Vor dem Spiegel im Flur blieb ich stehen. Ich sah aus, als wäre ich von einer Safari zurückgekehrt. Mein Hemd war dreckig, das Halstuch zerknautscht: Ich hätte alles Mögliche sein können, nur wie ein Reiseführer vom Atlas sah ich nicht aus. Ich zog mich schnell aus und ging in Richtung Bad, während ich über Bescheks Plan, morgen endlich den Lagerort neben Begejci zu suchen, nachdachte. Inmitten dieser Gedanken klingelte mein Handy, das ich auf dem Sofa liegen gelassen hatte. Ein Stich ging mir durch den Magen: Es war Mila Popara. Nach kurzem Zögern ging ich ran. Sie war außer Atem, als würde sie schnell laufen. Sie erzählte mir ihre ganzen Pläne für mögliche Routen nach Sri Lanka. Ihr Ziel war es, in den nächsten zwei Monaten alles so weit fertig zu machen, dass wir schon im Januar das Booking für Sommerurlaube in unser Angebot aufnehmen konnten. Sie wollte, dass wir dieses Reiseziel gemeinsam in Angriff nehmen: Sie habe Ideen und ich solle sie in die Tat umsetzen. Wie Hardware und Softwarelein. Darüber lachte sie wie über einen guten Witz, dann unterbrach sie kurz das Gespräch, um im Vorbeigehen jemanden zu grüßen. Ich hörte ihren schnellen Atem. Mir kam der Gedanke, dass sie das absichtlich machte. Sie sagte mir, dass sie gerade die ulica Admirala Geprata hinaufgehe, wo sie gleich ein Meeting mit den Besitzern des Atlas habe. Das Ehepaar seien Geschäftsleute, die gute Ideen zu schätzen wüssten. Sie schien wirklich entzückt von der Idee, einen Karrieresprung machen zu können, ich kapierte nur nicht, was ich in all dem zu suchen hatte. „Hör mal … Mila“, brachte ich meine letzte Kraft auf, nachdem ich meine Stirn an den Türrahmen gelehnt hatte, „ich glaube, dass … Dass diese Idee mit Beschek, ich meine, mit Herrn Kantaschami, keine …“ Da unterbrach sie mich hastig und meinte, sie gehe gerade durch die Tür zum Termin und melde sich später wieder. Auf der anderen Seite war noch der Ton der Sprechanlage zu hören, dann wurde die Verbindung unterbrochen. Ich betrachtete das Handy in meiner Hand und legte es dann auf das Regal über dem Waschbecken. Ich stellte das Wasser ein und stieg in die Wanne. Der Strahl war angenehm warm und massierte mir Scheitel und Schultern. Ich darf die Arbeit im Atlas nicht verlieren, dachte ich. Aber warum sollte ich sie verlieren? Wegen Mila? Oder Beschek? Oder wegen Isur? Doch damit hatte ich nichts zu tun, überlegte ich, während ich das Warmwasser kleiner drehte und mich dem kälter werdenden Strahl hingab. Ob sie wohl in Begejci baden konnten, fragte ich mich, während mir immer kälteres Wasser über den Rücken lief: Hatten sie überhaupt Wasser? Welcher Fluss fließt neben diesem schrecklichen Ort? Begej? Ist das verschreckte Torak der Ort? Die Vojvodina ist durchzogen von Kanälen. Das hatte ich mal auf einer topografischen Karte gesehen. Ich fand, sie sahen aus wie das Kapillarnetz der Erde. Oder wie ein Greisengesicht, in dem die Adern hervortreten, wenn es versucht zu lächeln. Es wäre schwierig von dort zu fliehen. Das alles müsste ich Mila gleich heute Abend erzählen, falls sie sich meldete. Dann drehte ich den Hahn zu und ließ mich, ganz steif vom kalten Wasser, in die Wanne sinken. Von oben stürzten noch eine Weile lang, immer seltener, schwere Wassertropfen auf mich nieder.

Seit dem Zapfenstreich war schon eine Weile vergangen, als plötzlich jemand in unser Schlafzimmer polterte und schrecklichen Lärm machte. Ich hatte bereits gelernt, dass damit all ihre Aktionen anfingen. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, was die anderen Insassen machten. Nach einiger Zeit war ich so geschickt geworden, dass ich mit unbedeutender Verspätung alles genau so wie die Übrigen im Betonschlafsaal machen konnte. Alles andere war auch nicht ratsam. Diesmal mussten alle niederknien. Ich kniete mich auch hin. Der Wächter hieß Gugi. Berislav hatte mir einmal den Namen gesagt und erklärt, dass er von Eidechse kam, was auf ihrer Sprache „gušter“ hieß und in diesen Armeekreisen so eine Art Initiationsritual darstellte. Die Eidechsen hatten es am schwersten, weil die Ranghöheren und Dienstälteren sie erniedrigten, was in ihnen wiederum die Wut zum Kochen brachte. Motivierende Wut, denn nur solche Wut würde sie dazu antreiben, sich zu beweisen – und das machte Gugi auf seine Weise. Ich weiß nicht genau, wie alt er ist. Ich denke, jünger als ich. Er hatte immer die Nachtschicht; bestimmt dachte er, dass er so schneller aufsteigen würde. Auch diesmal war er es. Er trat dem nächstbesten Häftling in den Bauch und befahl ihm irgendwas. Der Mann stöhnte auf und krümmte sich vor Schmerz. Und dann fing er in dieser Haltung unter größter Anstrengung an zu singen. Ich begriff nicht, was vor sich ging, und suchte nach Berislav neben mir. – Öffne deinen Mund, sagte er mir: Sing! Ich versuchte seinem Beispiel zu folgen. Niemandem war nach Singen zu Mute, vor allem nicht dem Mann, der neben Gugi kniete. Der musste aber am lautesten singen. Ich verstand gar nichts, obwohl ich eigentlich von früher wusste, dass Lieder in militärischen Systemen beliebt sind. Wir sangen, um der neuen Gruppe Gefangener, die sie ins Lager prügelten, den Weg ihrer Umerziehung aufzuzeigen. Später habe ich gehört, dass sie aus einer Stadt namens Vukovar gebracht wurden, wo bereits der Krieg wütete. In dieser Nacht war ich allerdings nur darauf konzentriert, irgendeinen Ton rauszubekommen, der sich in das gemeinsame Lied einfügen würde. Da fing Gugi an, genervt mit einem langen Holzstab um sich zu schlagen. Immer wieder stoppte er das Singen und ging auf jemanden zu. Wenn es ihm nicht passte, bekam die Person mit dem Stab eins übers Gesicht. So kam er auch zu mir. – Aaaaah!, schrie er und schlug mir mit der Stockspitze auf den unteren Hals, auf die Stelle, wo ich diesen Laut herausbringen sollte. – Aaaaah!, wiederholte ich gequält, aber dann spürte ich, wie die Stabspitze mir in den Mund flog und im Hals brannte. Ich musste röcheln und fiel auf den Rücken. Vor Schmerz verschwamm alles vor meinen Augen; ich sah nur noch dunkle Umrisse, die mich bedrohlich umhüllten. Meine Mutter hatte mir früher einmal die Geschichte von der Jagd auf Eidechsen erzählt, die für Knaben zum Verhängnis werden konnte. Wenn die Eidechse in den Termitenhügel gekrochen sei, um sich satt zu fressen, müsse man fünf von insgesamt sechs Eingängen zumachen und vor dem letzten offenen Durchgang Wache halten. Wenn die Eidechse den Kopf herausstrecke, müsse man ihn sofort mit der Drahtschlaufe erwischen. Allerdings vergaßen manche Jungs trotzdem, welchen Durchgang sie offen gelassen hatten, und dann biss die Eidechse sie ins Ohr oder irgendwo ins Gesicht. Von solchen Spielchen blieben für immer Narben zurück und diese Leute würden niemals lernen, was es bedeute, wachsam zu bleiben. Für Gugi waren in Begejci alle Durchgänge offen. Er packte mich, zog mich durch einen in die eisige Nacht hinaus und fesselte mich mit Handschellen an den Baum vor dem Gebäude. Ich kriegte noch ein paar Schläge auf den Rücken und den Kopf, dann ging er weg und ließ mich so bis zum nächsten Morgen warten. Ich wimmerte. Ich war sicher, ich würde sterben.

Der Ort kam im Navigationssystem nicht vor. Als ich in den holprigen Feldweg, der sich im Gras verlor, abbog, wies mich die sanfte Stimme aus dem Gerät darauf hin, dass hier keine Straße sei und ich umkehren müsse. Ich machte das Navi aus und suchte Bescheks Blick im Rückspiegel. Der nahm die Brille ab und blickte über den Sitz hinweg in die Ferne. Seine Augen traten neugierig hervor. „Weiter, dorthin“, sagte Beschek und zeigte mit der Hand in unbestimmte Richtung. Dann rammte mein Auto gegen ein Hindernis, ich versuchte darüber hinweg zu fahren, aber es gelang mir nicht. Vergeblich trat ich aufs Gas. Beschek hielt sich am Beifahrersitz fest und redete auf mich ein. Dann gab das Hindernis nach, aber wir sackten plötzlich ab, wobei sich die Vorderräder hilflos über dem Boden drehten. Wir steckten fest. Ich fluchte und stieg aus. Ich landete auf dichtem, vom Wind plattgedrücktem Gras, das ich mit den Händen auseinanderziehen musste. Nach einem Blick unters Auto erkannte ich, dass es auf eine Erhebung aufgefahren war, hinter der ein ziemlich großer Tümpel versteckt war, vom Gras eingewachsen. Das hatte man vom Auto aus nicht sehen können. Ich sah mich nach Beschek um, aber der war nicht mehr im Wagen. Ich entdeckte ihn ungefähr zwanzig Meter weiter vorne, durchs dicke, verschlungene Gras stapfend wie durch hohen Schnee. Ich hatte keine Wahl, also ging ich ihm hinterher. Es war nicht leicht, durch dieses halb getrocknete Gras zu gehen, das manchmal zu Wirbeln ineinander gedreht war. Wie lange hier wohl schon kein Mensch mehr entlangging, fragte ich mich. Bestimmt gab es auch Schlangen. „Beschek! Herr Schami!“, rief ich ihn besorgt, aber er drehte sich nicht um. Kleiner und kleiner wurde er vor mir in der Ferne, als würde er immer weiter ins Gras sinken. Nur sein lilafarbenes Hemd hob sich von der Landschaft ab, am Horizont waren die Umrisse ein paar verlassener Häuser zu sehen, hinter Baumkronen und Gestrüpp versteckt. Ob das das Lager war, fragte ich mich und wischte mir die Stirn und den Hals mit meinem Tuch ab, das ich zwischendurch aufgeknotet hatte. Der Tag war ungewöhnlich heiß für diese Jahreszeit, lauter nervige Insekten flogen in Schwärmen herum. Immer wieder spürte ich ihre Stiche durchs Hemd, das schweißnass an mir klebte. Kein Windhauch ging, nur dicke, heiße und nach Erde riechende Luft, die man schwer atmen konnte. Als ich aus dem Grasmeer wieder auftauchte, traf ich Beschek niedergeschlagen vor dem Haus an. Die Fenster und Türen waren vor langer Zeit herausgeschlagen worden. Vor dem Haus hielten große verfaulte Baumstümpfe Wache, zwei kahle Bäume auf der linken Seite und der Wipfel einer alten Kiefer dahinter. Der Rest war von hohem Unkraut überwuchert. Dieser Ort hatte den Kampf gegen die Natur längst verloren und musste nun seine langsame Auflösung hinnehmen. Der Prozess war schon lange im Gange, bevor Beschek und ich hierher gekommen waren: über zwanzig Jahre. Einzig und allein die abgeblätterten Hauswände, von Weitem fast nicht zu sehen, zeugten vom geregelten Leben, das hier einst stattgefunden hatte. Beschek betrat das Haus; ich folgte ihm. Der Boden war aufgewühlt. Die Schlingen der hartnäckigsten Pflanzen drangen durch die Ritzen. Es sah aus, als würde aus der Tiefe des Gebäudes etwas Großes und Starkes wachsen, seine Form sprengte alle Normen, als gehörte es nicht zu dieser Welt. Beschek schaute mich an, als empfände er das auch so. Da bemerkte ich, dass die Hitze in der Ruine, auf der sich das Dach gerade noch so halten konnte, gar nicht zu spüren war. Mein Blick fiel auf zwei riesige Fensterlöcher, durch die die Zweige nach drinnen rankten. Wie jemandes Hände, die versuchten, die Ruine aus dem Fundament zu reißen. Beschek kletterte auf eine Betonplattform, die zum Fenster führte. Er stand dort und breitete die Arme aus, dann drehte er sich zu mir: „Es war hier … Hier …“ Er ließ sich auf die Knie fallen, beugte den Kopf vor und versank ganz in sich. Ich hörte, wie er Laute von sich gab und war nicht sicher, ob er betete oder weinte. Dann ging ich vor das Haus, in die heiße, abgestandene Luft. Weit entfernt – hinter Gras, Unkraut und Baumwipfeln, einem Herbst, der die Linie des Horizonts verwischte – schwebten ausgefranste, breite Wolken. Ob die Lagerhäftlinge sie damals sehen konnten? Für den Fall, dass sie überhaupt den Kopf heben durften. Aus dem Haus drang immer lauter Bescheks Wehklagen. Er beweinte seinen Bruder. Oder sich. Vielleicht auch diesen Ort. Ich musste an Mila und ihre Pläne mit Sri Lanka denken. An diesem Ort verlor alles seinen Sinn. Ich löste mich von der Wand, an die ich mich gelehnt hatte, und ging hinter das Haus. Die alte Kiefer hielt als Einzige dem Herbst stand. Der Stamm hatte einige Meter über dem Boden eine ungewöhnliche Verdickung gebildet und erst darüber, weit oben, war er von Ästen umgeben. Zur Erde hin war die Rinde faltig und zerfurcht, wie von Narben übersät. Ich war noch nie gut darin gewesen, das Alter von Bäumen zu schätzen, nicht mal dann, wenn sie gerade gefällt worden waren, ich schaffte es einfach nicht, die Jahresringe zu zählen. An irgendeinem Punkt, zwischen hellen und dunklen Streifen, verlor ich mich immer in der Zeit, die dieser Stamm verlebt hatte, bis er schließlich unter dem Sägeblatt gelandet war. Diese Kiefer hingegen musste noch nicht daran glauben, aber ihr Aussehen erzählte von etwas Anderem: Die Jahrzehnte ihres Lebens waren nicht leicht gewesen und die schrecklichen Ereignisse, die ganz in ihrer Nähe stattfanden, hatten sie nicht unberührt gelassen. Obwohl sie zur Welt der Pflanzen gehörte, obwohl sie ihre Nahrung aus der Erde zog und zum Himmel strebte, war sie Augenzeugin von etwas, das sie für immer deformiert hatte. Beinahe gebrochen. Vielleicht war in jener Nacht genau an diesen Baum Bescheks Bruder Isur gefesselt worden. Vielleicht war das generell der Ort gewesen, an dem die Lagerhäftlinge gepeinigt wurden. Ich trat zur Kiefer und berührte ihre Rinde. Unter meinen Fingern spürte ich die raue Vergangenheit des Baumes. Darunter krochen Käfer, wie unsichtbares Leben. „Komm, wir gehen weg von hier!“, hörte ich Beschek hinter mir rufen. „Okay … Gehen wir …“, stimmte ich lustlos zu. Eigentlich wäre ich gerne noch geblieben.

Es war minus zehn, vielleicht fünfzehn Grad kalt, als sie uns eines Morgens zwangen, im Hof des Lagers ein großes Zelt aufzubauen. Wir hatten keine Ahnung, dass es einen Vormittag lang unser Bad werden sollte. Zuerst mussten wir durch das Zimmer, in dem frisiert und rasiert wurde, und anschließend führten sie uns hinaus zum Baden. Ich musste mich auf den Stuhl setzen, dann kam ein Mann auf mich zu, mit offenem Hemd, die Ärmel hochgekrempelt. Sie nannten ihn Ljuba. Den Barbier. Er spielte mit dem Rasierapparat, als wollte er die Maschine erst auf Hochtouren bringen. Ich bedeutete ihm mit einer Geste, dass ich den Kopf rasieren wollte, deswegen gab er mir mit der Hand einen Klaps auf den Hinterkopf und fing an, mich zu rasieren. Die Haare fielen runter und mir wurde immer leichter zumute. Nach jener bitterkalten Nacht hatte ich den Wunsch, jedes Haar vom Körper zu entfernen, mich zu rasieren und nur in dieser dünnen, durchgeprügelten Haut zu bleiben. Danach führten sie mich zum Zelt und zeigten auf die anderen Häftlinge, die sich im Schnee nackt auszogen. Ich tat es ihnen nach. Komischerweise spürte ich den Frost nicht. Der Schlag, den ich in den Rücken bekam, hieß, ich solle mit den anderen hineingehen. Dort erwarteten uns Feuerwehrspritzen, aus denen abwechselnd eiskaltes und heißes Wasser kam. Etwas dazwischen gab es nicht, das Wasser mischte sich erst auf uns. Die Leute schrien und versuchten sich vor der Wasserattacke zu schützen. Ich betrachtete ihre abgemagerten Körper. Ihre Penisse waren vor Kälte geschrumpft. Dann schaute ich zu meinem herunter. Er war fast nicht zu sehen. Das war ein gutes Zeichen. Als ich noch klein war, badete mich immer meine Mutter. Für gewöhnlich spielte ich dann an meiner Vorhaut herum, bis sie mich einmal deswegen zurechtwies. Sie sagte, dass Pimmel nur schön seien, wenn man sie nicht sehe und dass Buddha so einen gehabt hätte, versteckt zwischen Hautfalten. Er konnte ihn einziehen wie ein richtiger Elefant. Das war ein Zeichen von Tugend. Ich hatte nie verstanden, was das bedeuten sollte, bis zu diesem Moment. Unter den harten Wasserstrahlen, die mich in den Schlamm drückten, begriff ich plötzlich, dass wir einen Sinn öffnen können, indem wir einen anderen unterdrücken. Wir können die Welt um uns herum wachsam wahrnehmen wie ein große Elefant, der mitten im Dschungel über Meilen hinweg spürt, was um ihn herum passiert. Er kann die Ereignisse in ihrer Tiefe erkennen. Auch ich hatte an diesem Ort meine Sinne verloren, erst nur die Sprache, doch dann war auch der Tastsinn abgestorben. Mir blieben zwar Sehkraft und Gehör, aber damit allein ist der Mensch schwächer als eine Eidechse. Wobei – falls mir gelingen würde, das als meinen Vorteil zu begreifen, könnte ich der rohen Gewalt in Begejci vielleicht einen Sinn abgewinnen. Dieser Sinn entglitt mir jedoch andauernd.

Der Vormittag war ein einziges Desaster gewesen. Zuerst waren Beschek und ich, weil ich darauf bestanden hatte, zum Gericht in der ulica Ustanička gegangen. Eine junge Frau empfing uns freundlich und gab uns Propagandamaterial, ein paar DVDs mit Dokus über den Krieg und noch eine dicke Monografie über den Strafgerichtshof für Kriegsverbrechen. Dann sagte sie uns, der Sprecher des Gerichts könne uns nicht empfangen, weil er keine Zeit habe. Schließlich führte sie uns zum großen Gerichtssaal, als sollten wir uns überzeugen, dass das Gericht seine Arbeit gut mache. Zwischendurch versuchte sie mit Beschek, der ganz langsam ging und misstrauisch auf den glänzenden Boden vor uns starrte, ein Gespräch anzufangen. Als sie erfuhr, warum er hier war, schüttelte sie nur den Kopf und meinte, darüber wisse sie nichts, aber sie würde uns zum Richter Dimitrijević bringen, der sich mit so ähnlichen Fällen befasste. Im modern ausgestatteten Gerichtssaal kam sich Beschek wie im Kosmos verloren vor. Es war mir unangenehm. Die junge Frau versuchte mit Lächeln all das auszugleichen, was uns interessierte. Wenig später trafen wir im Flur auf den Richter Dimitrijević. Ich erklärte ihm, warum wir hier waren, er fing jedoch an, von der Tragödie seiner Familie in Bosnien im Zweiten Weltkrieg zu reden. „Traurig ist das alles“, stellte er am Ende fest und meinte dann, die Frage der Lager müsse zuerst sprachlich geklärt werden, weil im letzten Krieg jeder Schuppen als Lager gegolten hätte. „Das hier war aber etwas anderes“, widersprach Kantaschami, als ich es ihm übersetzt hatte. „Da stimme ich zu“, lächelte der Richter, „aber wir sind von diesem Ziel alle noch weit entfernt. Wir stehen vor den Türen des Gesetzes … Kafka haben Sie doch bestimmt gelesen? Viel weiter sind wir nicht gekommen …“. „Aber wie geht’s jetzt mit seinem Bruder Isur weiter, der nie gefunden wurde?“, fragte ich den Richter, der dauernd auf seine Uhr schaute. „Mit dem Bruder“, wiederholte der Richter, als ob ich ihn gefragt hätte, wie spät es ist und er sich nicht erinnern konnte, obwohl er es kurz zuvor noch genau gewusst hatte. „Wir werden seiner gedenken … So, wie auch ich meiner Verwandten in Bosnien gedenke. Was sonst. Genau … Also, ich müsste jetzt wirklich, wissen Sie …“ Richter Dimitrijević hielt Beschek bereits seine Hand hin, der tat jedoch zuerst so, als ob er sie nicht bemerkte. Auf dem Weg nach draußen kamen wir an einem Fernseh-Team vorbei, das auf der Treppe auf etwas wartete, und gingen zum Auto. „Wohin jetzt?“, fragte ich, nachdem ich mich ans Steuer gesetzt hatte. Beschek setzte seine Brille auf und ließ sich müde in den Sitz sinken. „Zum Friseur …“, sagte er. „Nochmal?“, fragte ich. „Ja, nochmal … Er war als Einziger bereit, überhaupt mit mir zu sprechen.“ Nach einer knappen halben Stunde waren wir wieder an der alten Adresse in der Vitanovačka, aber niemand öffnete uns. Eine Nachbarin ging an uns vorbei, blieb kurz stehen und meinte, dass Ljuba oft aufs Land fahre. Er sei dann ein, zwei Monate nicht da. Als ich sie fragte, wo dieses Dorf sei, zuckte sie nur mit den Schultern. „Irgendeine Bahnlinie nach Süden“, fügte sie noch hinzu und ging hinaus auf die Straße. Wir taten es ihr gleich. Dann stiegen wir wieder ins Auto und fuhren los, ohne Ziel durch die Stadt. Beschek Kantaschami stützte den Kopf an die Sitzlehne und schaute durchs Fenster. Er wirkte k. o., erschöpft. Was er in diesen Tagen geschafft hatte, war nur, sich völlig auszulaugen, schlecht behandeln zu lassen und ziemlich viel Geld auszugeben. Ich nutzte den Moment und erzählte ihm vom Empfang, abends im Hotel M. Er rührte sich nicht einmal. „Muss ich dahin?“, fragte er wenig später. „Naja, vielleicht, ich weiß nicht … Irgendwie muss ich diese Tage hier rechtfertigen.“ Er antwortete gar nichts. Als ich vor seinem Hotel geparkt hatte, sammelte er langsam seine Sachen vom hinteren Sitz ein. „Also, in Ordnung“, sagte er müde beim Aussteigen. „Kommen Sie mich später abholen.“

Für diesen Empfang zog ich den einzigen Sakko an, den ich besaß. Beschek ging in Schwarz. Wir standen in der Lobby des Hotels herum und warteten, dass uns jemand bemerkte. Dann kam ein Mädchen in orangefarbenem Kostüm, die offensichtlich die Aufgabe hatte, die Gäste vor dem Atlas zu empfangen und in den Innenhof zu führen, wo die Gartenparty organisiert wurde. „Frau Popara erwartet Sie bereits“, sagte sie und wies mit der Hand in den riesigen Hof, wo es von festlich gekleideten Menschen nur so wimmelte. Dort standen Gartentische mit weißen Decken, die Musik eines Jazztrios, das unter einer großen Eiche platziert worden war, drang zu uns. Kellner trugen Tabletts hin und her, die sie geschickt balancierten. „Wir haben Sie schon sehnlichst erwartet, lieber Herr Schami“, hörte ich Milas Stimme aus dem Getümmel, und dann sah ich sie auch auf uns zukommen. Ihre Abendgarderobe war irgendwie spacy. Sie sah aus wie eine Stewardess auf intergalaktischer Raumfahrt. Sie hielt kurz inne und musterte mich, dann schüttelte sie freundlich Bescheks Hand: „Herzlich Willkommen, Herr Schami!“ Beschek sagte etwas Unverständliches auf Englisch und Mila suchte meinen Blick, aber ich winkte nur ab: „Gewöhn dich fürs Erste an das Sri Lanker Englisch …“ Sie lächelte säuerlich, hakte sich bei Beschek unter und nahm ihn zu einer Gruppe Menschen mit, die auf der anderen Seite des Hofs standen. Ich vermutete, dass unter ihnen auch die Eigentümer des Atlas waren. Ich nahm ein Getränk und begann umherzustreichen. Es waren bereits viele bekannte Persönlichkeiten da. Ich sah die Moderatorin der Tagesschau, die Redakteurin der Politika, einen berühmten Dichter mit seiner Tochter, den Außenminister, der schon beschwipst war, den US-amerikanischen, deutschen und russischen Botschafter, den Regisseur von Die Zeit der Zigeuner mitsamt Gefolge. Nicht weit von den Botschaftern stand eine Gruppe Grauhaariger, unter denen ich den ehemaligen Geheimdienstchef erkennen konnte. Er lachte lauter als alle anderen und gestikulierte nachlässig mit seinem schweren Glas, in dem der Whisky hin und her schwappte. Aus den zu mir dringenden Gesprächsfetzen verstand ich, dass er sich auf einen Botschafterposten in der Ukraine vorbereitete. Ich ging hinter seinem Rücken vorbei und blieb mitten in der Menge stehen. Während in allen Ecken des Hofs langsam die Lichter angingen, wurde eine Variation von Coltranes Russian Lullaby gespielt, sie war gedämpft und kaum wiederzuerkennen. Ich nahm einen Schluck vom Hochprozentigen und schloss die Augen. Die Leute neben mir klangen so, als würden sie gerade erst das Sprechen lernen. Sie gaben kurze, unklare Laute von sich und lachten über die Titelseite irgendeiner Zeitung. „Genießt du die Party“, unterbrach eine bekannte Stimme meine Gedanken. Mila stand vor mir, hielt ihr Glas hoch, als wollte sie mir zuprosten. „Nicht wirklich. Du? Wie ich sehe, bist du bereit für den Abflug“, spöttelte ich und stieß mit ihr an. „Sei nicht so zynisch“, sagte sie, und drehte sich einen Moment lang in die Richtung um, in der sie Beschek gelassen hatte. „Alles läuft nach Plan … Warum hast du mir nicht gleich gesagt, dass dieses Kätzchen in Wirklichkeit beruflich hier ist?“ „Davon hatte ich keine Ahnung“, antwortete ich und trank einen Schluck, um die unbehaglichen Schwingungen zwischen uns wegzuwischen. „Aber klar. Du hast von nichts eine Ahnung“, sagte sie und hielt das Glas nah an ihre Unterlippe. „Dort drüben spricht er mit den Chefs. Höchstwahrscheinlich wird er unser Vertreter in Negombo. Wie du siehst öffnet sich ein Perspektivlein vor uns …“ „Du weißt ja nicht, wovon du redest“, gab ich zurück, während ich aus dem Augenwinkel Bescheks Bewegungen in der Ferne verfolgte. Ich hatte den Eindruck, der Mann könnte jeden Augenblick einen Nervenzusammenbruch erleiden. „Herr Kantaschami ist sicher nicht der richtige Mann.“ „Nein, sondern du bist derjenige, nicht wahr“, warf mir Mila ironisch zu und lächelte dabei den Besitzer der Marketingagentur „Image&Like“ an, der gerade an uns vorbei ging. „Du kapierst nicht, dass manche Leute einfach keine Lust auf deine Geschäftsideen haben“, blieb ich hartnäckig. „Niemand ist immun gegen …“, setzte sie an, wurde aber vom Handyklingeln unterbrochen. Sie sah mich an, als wollte sie mir ankündigen, dass sie gleich mit noch viel ernsthafteren Argumenten zurückkommen werde, und verschwand in der Menschenmenge. Ich stellte mein Glas auf den nächstbesten Tisch und ging zurück ins Hotel um eine Toilette zu suchen. Ich ging, den Zeichen folgend, die Treppe hinunter, bis mich jedoch ein Röcheln aus einer der Kabinen innehalten ließ. Offensichtlich ging es dort jemandem nicht gut. Als ich vor drei den offenen Kabinen stand, sah ich in der ersten Kantaschami, der sich an die Wand über der Kloschüssel lehnte und übergab. „Beschek!“, rief ich. Er röchelte und wimmerte gleichzeitig. Mit der Hand gab er mir ein Zeichen, dass ich nicht näher kommen solle. Nach einer Weile richtete er sich auf und lehnte sich an den Türrahmen. Er war erschöpft und voller Flecken. Der Speichel tropfte noch immer von seinen Mundecken. „Bringen Sie mich … von hier weg …“, brachte er gerade so hervor, dann fingerte er ungeschickt die Sonnenbrille aus der Jacketttasche und versteckte sich dahinter. Ich hakte mich bei ihm ein und führte ihn die schmale Treppe hinauf.


Saša Ilić: Zašto Buda spava. In: Lov na ježeve (dt.: Jagd auf (See-)Igel). Beograd: Peščanik i Fabrika knjiga 2015, S. 80-109.