Evelyn Schalk ◄
Die Nationalratswahl am 29. September 2024 könnte Österreich gravierend verändern. Kaum stand in der Zweiten Republik so viel auf dem Spiel, das bitterer Ernst ist. Gibt es nach der Wahl eine rechte Mehrheit, driftet das Land gefährlich Richtung Autokratie. Schon jetzt hat der Diskurs all jene Demarkationslinien überschritten, die Diskussion von Hetze trennen und letztere immer weiter normalisiert. Vergessen scheint Ibiza, vergessen die versumpften Korruptionsskandale, in denen Geldkoffer, Laptops und Chat-Nachrichten auf- und wieder untertauchten. Alles wirkt, wie aus einem harmlosen Kabarettprogramm. Nur dass dabei die Verfasstheit eines ganzen Landes am Programm steht. Oder vielmehr: Programm ist.
Doch diese Entwicklung ist bekanntlich ein globales Phänomen und tritt ebenso wenig überraschend zutage, wie die Hitzerekorde, die Überflutungen und die Orkanstürme der letzten Wochen und Monate. Es ist lange im Voraus erkannt, gesehen, davor gewarnt, dagegen protestiert worden. Die, die in ihren Anstrengungen unermüdlich waren und bleiben, wurden im besten Fall belächelt, im schlimmsten Fall zum Ziel fataler Angriffe. Menschenleben sind immer öfter weniger wert als die eigene Bequemlichkeit. Zielsicher wurde global der ausschließliche und ausschließende Wettbewerbsnarrativ in alle Synapsen getrieben, dass es nur ein Ich oder Du geben könne. Du und Ich miteinander existiert in dieser Erzählung nicht mal als Option, geschweige denn als die bessere. Klar, ein Wir aller, auf deren Lebenskosten dieser neoliberale Roman geschrieben ist, könnte seinen Verfassern und ihrem Story-Monopol ja tatsächlich gefährlich werden. Daher auch die weinerlich-rabiaten Reaktion seiner Apologet*innen, sobald sie sich selbst auch nur ansatzweise konfrontiert sehen.
Sollte die FPÖ fatalerweise tatsächlich die meisten Stimmen erhalten, muss sich erst ein Koalitionspartner finden, der bereit ist, nicht nur die zweite Geige zu spielen, sondern aktiv Herbert Kickl zum Kanzler zu machen. Dafür kommt einmal mehr wohl nur die ÖVP in Frage. Zudem müsste eine solche Regierung noch durch den Bundespräsidenten ins Amt gehoben werden. Ist dies der Fall, wird Österreich sich Schritt für Schritt – oder auch sehr schnell – in Richtung Autokratie entwickeln.
Umgekehrt gibt es jedoch genau jetzt die wiederum historische Chance, dass mit einem Bundeskanzler Babler erstmals seit Jahrzehnten eine Sozialdemokratie regiert, die diesen Namen auch verdient. Denn genau das ist Bablers Programm: solide sozialdemokratisch. Jedoch scheint alle anderen Parteien gerade nichts mehr in Panik zu versetzen, sie von revolutionären Zuständen fantasieren und selbst auf die, in der Folge rechten, Barrikaden gehen zu lassen. Was soll das?
Ich habe mich lang gefragt, was neben den üblichen Kontroversen selbst ansonsten eher gemäßigte – Kommentator*innen dazu bringt, sich an dem immer massiveren medialen Bashing gegen SPÖ-Chef Andreas Babler zu beteiligen Dass die österreichische Medienlandschaft klar konservativ bis rechtslastig dominiert ist, ist kein Geheimnis. Pluralismus seit langem: Fehlanzeige! Rechte wie Konservativ-Reaktionäre trifft Babler an ihren wundesten Punkten, und zwar gezielt und nachdrücklich. Er hat, im Gegensatz zu sämtlichen seiner Vorgänger*innen an der SPÖ-Spitze seit sehr vielen Jahren keine Angst davor, klar und unmissverständlich Gegenposition zum immer menschenverachtenderen, anti-sozialen und rassistischen Diskurs zu beziehen. Er ist sich der Notwendigkeit solcher im mehrfachen Sinn roten Linien sehr bewusst. Darin liegt, das weiß er, seine größte und einzige Chance. Dies wiederum lässt bei seinen Gegner*innen die Alarmglocken schrillen.
Dass er die parteiinternen Seilschaften, Strukturen und Systematiken nur zu gut kennt und auf deren Klaviatur gleichzeitig spielt und neu komponiert, unterscheidet ihn wiederum von diversen Quereinsteiger*innen und Freizeitpolitiker*innen. Er ist Profi, der auch die langfristigen Konsequenzen seiner Entscheidungen kennt und ernst nimmt.
Doch vor allem repräsentiert er, wovor sich eine ÖVP seit Beginn ihrer Tage am meisten fürchtet und wovon nicht nur die strategischen Köpfe in der FPÖ genau wissen, dass es ihre bisher so erfolgreiche, großangelegte Bauernfängerei wirksam untergräbt: Babler steht seit langem wieder für eine Sozialdemokratie von unten und der Mittelschicht, er spricht Themen an, die die Mehrheit jener Bevölkerung, die nicht zu den gesellschaftlichen Eliten gehören, tatsächlich tagtäglich betreffen. Und er tut es auf verständliche Weise, die aber nie von oben herab kommt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er sich bewusst über die eigene Herkunft aus der Arbeiterklasse und seine lokale wie politische Verankerung als Bürgermeister von Traiskirchen identifiziert. Diese Aspekte werden von einer bürgerlich-rechten Presse mit Vorliebe als „retro“, „Inszenierung“ oder schlicht lächerlich bezeichnet und entsprechend mit Hohn übergossen. Dass sie dabei auch die Mehrheit der Bevölkerung durch den braunen Kakao ziehen, merken die Verfasser*innen entweder nicht, oder es ist ihnen egal bzw. gar gewollt. Wenn Andreas Babler Respekt für Menschen aus unteren Einkommensschichten fordert, liegt die Notwendigkeit dieser Forderung auch in der jahrelangen fehlenden öffentlichen Repräsentanz all jener, die nicht bürgerlich-konservativ sind oder gesellschaftlich marginalisierten Gruppen angehören. Dass auch die SPÖ selbst es an diesem Respekt lange mangeln ließ und ihr in der Folge die Wähler*innen in Scharen davonliefen, ist eine der Baustellen, an denen Babler noch sehr lange zu werken haben wird. Die Aufbruchstimmung der ersten Tage seines Parteivorsitzes in eine langfristige Transformation zu übersetzen, ist eine Herkulesaufgabe, die nur funktionieren kann, wenn sie von einer breiten und stabilen Basis getragen wird. Die gilt es zu schaffen und zwar nachhaltig.
Diese Neuausrichtung ist eines der Motive, auf denen der aktuelle SPÖ-Wahlkampf auch strategisch aufbaut. Babler setzt darauf, aus der SPÖ (wieder) eine offene Bewegung zu machen, in der sich möglichst viele Menschen wiederfinden. So finden sich Methoden und Botschaften des ersten Obama-Wahlkampfes hier wieder, der damals weit über den „Yes, we can“-Slogan hinaus sehr erfolgreich ein neues Level an Mobilisation erzielte. Auch Kamala Harris knüpft jetzt daran an und schafft es so, Verbindungen zu ihren Wähler*innen herzustellen – nicht Ich, sondern Wir, so die Botschaft „We’re all in this together.“
Andreas Babler versucht sehr klug, die SPÖ wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen, seine Forderungen, die Konservative als Utopien abtun, sind dabei nicht radikal, sondern schlicht klassisch sozialdemokratisch.
Und genau das zeigt den Grad der Diskursverschiebung bzw. des Diskursverfalls. Wenn etwa der Abbau von medizinischen Versorgungsengpässen, eine Erbschaftssteuer, wie es sie in den meisten europäischen Ländern längst gibt oder Mietendeckelung schon als linke Spinnerei gelten, hingegen rechte Allmachtsfantasien als legitime Meinung gewertet werden, liegt schon viel zu viel im Argen.
Babler ist übrigens der Einzige, der zum Thema Medien dezidiert festhält, auch „gemeinnützigen und gemeinwohlorientierten Journalismus sowie den nicht-kommerziellen Rundfunk“ zu unterstützen sowie das Inseratenvolumen reduzieren und damit das Budget für Medienförderung erhöhen zu wollen.
Babler verharrt eben nicht bei rechten Reizthemen, sondern lenkt den Fokus auf andere, tatsächlich brennende Fragestellungen. Wie gut das bei Wahlen funktioniert, hat in Graz und Salzburg übrigens die KPÖ vorgemacht. Dass die SPÖ sich u. a. nun auch wieder auf das Thema Wohnen besonnen hat, ist wohl kein Zufall.
In dem Moment, in dem solche Fokusverlagerungen sich auch in der politischen Debatte niederschlagen und eine Partei die Macht bekommt, ihre Forderungen auch auf weite Strecken in die Tat umzusetzen, fallen die Zustimmungswerte zu den abseits von rassistischer und sozialer Hetze inhaltsleeren rechten Phrasen immer mehr ins Bodenlose. Das haben ÖVP und FPÖ längst verstanden, ergo gilt es, eine solche Wende mit allen Mitteln zu verhindern. Da lieber ein Orbanistan 2.0 aus Österreich machen. Wenn Babler hingegen Erfolg hat, bedeutet dies einen Umbruch, einen Shift der politischen, gesellschaftlichen und diskursiven Macht, der über die kommende Legislaturperiode hinausreichen wird.
Aber zurück zur Frage nach der dezidiert medialen Hexenjagd. Ich behaupte, hier spielt auch die Angst vor Veränderung eine Rolle, hin zu etwas, das die Mehrheit derer, die sich an diesem Bashing beteiligen, tatsächlich so nicht kennt. Denn fast allen diesen laut kreischenden Stimmen ist gemein, dass sie Menschen gehören, die (vermeintlich) nie auf (sozial)staatliche Institutionen angewiesen waren – oder zumindest sind sie sich dessen nicht bewusst, denn so ersetzt eine Zweiklassenmedizin auch für die, die sich die Privatarztrechnungen leisten können, nicht ein funktionierendes Krankenhaus, um nur ein Beispiel zu nennen. In den großen österreichischen Medien sind sowohl ethnische als auch soziale Vielfalt immer noch Fremdworte. Wer hier breitenwirksam gelesen, gesehen, gehört, wird, kommt mit einigen wenigen Ausnahmen zumindest aus der (oberen) Mittelschicht. Da ist es kein Problem, die 180 Euro in der Privatpraxis zu bezahlen, Mittel und Platz für die Beschäftigung von 24-Stunden-Pflegerinnen zu besitzen, das Kind in den Privatkindergarten zu schicken oder eben mit dem SUV statt den Öffis zum Job zu pendeln. Da ist ein halbes Jahr mies oder gar nicht entlohntes Redaktionspraktikum möglich, weil die Eltern die Miete bezahlen oder man Zeit genug weil keine weiteren Verpflichtungen hat, nebenbei oder vorab dazu zu verdienen. Da ist ein paar Mal Urlaub pro Jahr und die Teilnahme an diversen Schulausflügen, Austauschen und Freizeitaktivitäten normal, das Einladen von Freunden zum Übernachten selbstverständlich, weil genug Platz vorhanden ist und die Klamotten sind eben nicht die abgetragenen der älteren Geschwister oder No-Name-Labels, sondern genau jene, die die jeweils angesagten Influencer*innen im Moment promoten.
Wer so aufwächst und lebt, dem scheinen Forderungen Bablers nach fairen Pensionen „retro“, da ist Schule ohne private Nachhilfe kein Thema und ein warmes, gesundes Essen für alle Kinder lächerlich, denn wer soll sich das hier in Österreich schon nicht leisten können? Dagegen kann man Nehammers abfälligen Sagern über Hamburger-Menüs und Plattenbauten insgeheim oder ganz offen dann doch noch irgendwie beipflichten.
Babler jedoch konfrontiert, noch dazu in seiner Funktion als SP-Parteichef, hartnäckig immer wieder mit einer Realität, die für so viele Diskurs- und Meinungsmacher*innen eine große Unbekannte ist. Genau das bringt ihm so vehemente Ablehnung ein. Jenseits von Küchentischpsychologie ist es wohl nicht selten die eigene peinlich berührte Betroffenheit und in der Folge die Wut darüber, die solche Kommentator*innen reflexartig auf Babler und damit jene, deren Leben sich durch sozialdemokratische Politik am stärksten verändern würde, eindreschen lässt.
Apropos Veränderung: Warum so viele gegen eine Vermögenssteuer Sturm laufen, die sie nicht einmal betrifft, ist und bleibt ein intellektuelles Rätsel, während etwa die Besteuerung von Grundnahrungsmitteln, die jede*r täglich konsumiert, niemanden zu interessieren scheint.
Doch sie sitzen und tippen in ihrem ach so offenen, reflektierten, liberalen oder konservativen Erfahrungskäfig und können sich keine andere Lebensrealität vorstellen geschweige denn sich in eine solche einfühlen. Wovor diese Angst? Vor zu viel Empathie? Verständnis? Wissen? Fühlen? Damit beweisen sie jedoch nur eines: dass sie den falschen Job gewählt haben. Denn genau das ist die Grundlage journalistischer Arbeit, egal ob in Reportage oder Kommentar: sich in unterschiedlichste Wirklichkeiten hineinzurecherchieren, zu denken, -fühlen, Berührungsängste weitestgehend abzubauen. Das heißt nicht, dass ich gutheißen muss, was ich erfahre, aber nur wenn ich Ursachen und Beweggründe nachvollziehen kann, kann ich darüber berichten, Zusammenhänge erkennen und wiederum erklären. Dass in den Redaktionen so viele dazu nicht fähig oder willens sind, stellt seit Jahren eine Gefahr für die österreichische Demokratie dar – und hat den Aufstieg eines Kickl mitermöglicht. Ja, ihr tragt Verantwortung, aber diese Einstellung ist wahrscheinlich auch „retro“.
Ansonsten könnten diejenigen, die jetzt Babler und sowieso jede auch nur annähernd linke Idee ins Lächerliche ziehen, wenigstens daran denken. Denn letztlich fällt ihnen ein solcher Autoritarismus auch auf den eigenen beschränkten, wenn auch materiell gut abgepolsterten Schädel.
Und eines zeigt die Geschichte ja immer wieder: Im entscheidenden Zweifelsfall machen konservativ-bürgerliche Kräfte gemeinsame Sache mit der Rechten, egal wie weit jenseits sie an ihrem Rand und darüber hängen. Ohne bürgerliche Schützenhilfe kein Aufstieg der Nazis in Österreich und Deutschland, ohne konservative Kollaboration keine Faschisten in Italien an der Macht, ohne schwarz-blaue Packelei keine rechten Recken in österreichischen Ministerämtern und ohne türkise Buberlpartie keine Rechtsradikalen in Regierungsverantwortung. Macron wiederum bremste eben eine gewählte linke Mehrheit durch die Ernennung eines rechts außen Premiers von Le Pens Gnaden aus, ein Coup, der wieder hunderttausende Französ*innen auf die Straße treibt.
Nicht zuletzt angesichts der internationalen Krisensituation, der kriegerischen Konflikte, deren globale Auswirkungen von enormer Tragweite, gilt es gerade jetzt zu beweisen, dass es auch anders geht. Aus diesem und zahlreichen weiteren Gründen, den hoffentlich keiner Erklärung bedürfen, haben wir in der vorliegenden Ausgabe versucht, uns den unterschiedlichen Szenarien zu nähern und auszuloten, was ihre Realisierung tatsächlich bedeutet. Hier, jetzt, heute. Für jede*n Einzelnen. Für Österreich als Demokratie. Für seine europäische Identität. Für das Sichtbarmachen von Veränderungen, die jederzeit Realität werden können. Noch haben wir eine Wahl.
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