Auf der Kippe

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Evelyn Schalk ◄

„Democracy dies in darkness“, lautete die nachdrückliche Warnung, viele Jahre lang, immer und immer wieder. Heute stirbt Demokratie im hellen Licht, vor aller Augen. Doch was bedeutet das?

Vor sechs Jahren haben wir – Journalist*innen der ausreißer-Redaktion und weitere Autor*innen – den Blog tatsachen.at gegründet und angesichts des steilen Aufstiegs rechter und rechtsextremer Parteien vor deren Normalisierung gewarnt.

„Es ist nicht Normalität. Es ist Normalisierung: wenn demokratische Grundwerte und Rechte nicht mehr anerkannt werden, wenn die Gültigkeit von Menschenrechten in Zweifel gezogen und ausgehebelt wird, wenn Rassismus und Faschismus nicht mehr die rote Linie sind, die von Meinung zu Verbrechen überschritten wird, wenn Sexismus nicht verurteilt, sondern gesetzlich legitimiert ist und Armut als Schuld der Armen statt der Reichen gilt. All das ist weder normal noch legitim. Das wird es nie sein und nie werden, nicht durch Hetze, die sich ins Denken brennt, nicht durch Wahlen und ebenso wenig durch Gesetze. Nirgendwo auf der Welt“.

Heute ist genau das Realität geworden – die Folge ist eine massive demokratiepolitische Krise.

Je größer der permanente Druck und das Leiden, je mehr Menschen mit der Bewältigung des täglichen Über/Lebens beschäftigt sind oder genau das nicht mehr schaffen und je länger dieser Zustand anhält, desto weniger Ressourcen bleiben einer Mehrheit zum Reflektieren und Informieren, desto bereitwilliger werden einfache „Lösungen“ akzeptiert, ja gefordert, wie sie rechte Demagog*innen anbieten, tatkräftig flankiert von neoliberalen und/oder konservativen Funktionär*innen. All das ist bekannt. Und genau deswegen der Fall.

Im Jahr 2024 wählt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ihre politischen Vertreter*innen – auf lokalen, regionalen, nationalen Ebenen sowie in Präsidentschaftswahlen. Angesichts der bereits bestehenden internationalen Konflikte sowie des massiven Vormarschs antidemokratischer Kräfte auch in bisher weitgehend stabilen Ländern wird 2024 augenscheinlich zum Schicksalsjahr der Demokratie.

Denn diese Demokratie ist kein Status Quo, kein Zustand, der einmal erreicht unveränderbar bestehen bleibt. Vielmehr bedeutet Demokratie, wie sich gerade zeigt, ein kontinuierliches Ringen um ihren Erhalt, ihre Verbesserung und Verankerung. Darin liegt ihre Glaubwürdigkeit und ihr (wie weit auch immer) Funktionieren – ihre einzige Ressource.

Apropos: Ja, Demokratie ist auch eine Frage von Ressourcen und ihrer Verteilung, auf allen Ebenen.

Wenn Bevölkerungsgruppen marginalisiert, nicht oder nur einseitig gesehen und repräsentiert werden, inhaltlich wie strukturell, wenn Teilhabe eben nicht realisiert wird, wenden sich immer mehr Menschen von demokratiepolitischen Grundsätzen ab, da sie diese für sich schlicht nicht umgesetzt sehen. Das betrifft auch und besonders die Rolle der Medien. Ähnliches gilt für den Zugang zu Kultur. Beteiligung bedeutet nicht nur ein paar Brösel, die sich ein riesiger Schwarm aufgeregt flatternd und hackend aufteilen muss, sondern einen fairen Anteil an der gesamten Bäckerei, für alle. Dies gilt im Besonderen für die Vergabe öffentlicher Fördermittel und inkludiert den Abbau von bürokratischen Hürden sowie habitueller wie finanzieller Barrieren. Das ist tatsächlich Leitkultur – im besten und einzigen Sinn. Wer hingegen den eigenen Schnitzelrand über pluralen Diskurs stellt und angemessene Bezahlung von Kulturarbeit verhindert, beteiligt sich systematisch am demokratischen Verfall.

Es gibt eine ganze Reihe dauerhaft notwendiger Fragen in einem per se öffentlichen Diskurs, sowie an jede*n Einzelne*n. Immer und immer wieder Antworten darauf zu finden ist die Aufgabe einer Gesellschaft, die sich als demokratisch definiert und all jener, die in ihr leben wollen.

Wie geht eine Gesellschaft mit denen um, die keine Lobby haben, die am Rand stehen, mit den Verletzbarsten? Daran misst sich Demokratie und nur daran zeigt sich, ob sie selbst als solche überlebt oder nicht. Was tun im worst case scenario bzw. wie lässt sich ein solches nachhaltig verhindern? Wie widerstandsfähig sind demokratische Institutionen und individuelle Entscheidungsträger*innen? Welche Rolle kommt jedem*r Bürger*in individuell dabei zu?

Die Fragenliste ist lang und wird täglich länger. Eines haben jedoch alle Ansätze, Einordnungen und Antworten gemeinsam, immer wieder, historisch und aktuell: Totalitäre Protagonist*innen haben nur Chancen, wo eine tatsächlich solidarische Grundverfasstheit fehlt. Also dort, wo das Leben des „anderen“ weniger wert ist als das „eigene“, wie auch immer dieses „eigene“ definiert und Leben mit verschiedenem Maß gemessen wird.

Die Folgen treffen zuerst die vulnerabelsten Mitglieder der Gesellschaft, doch die daraus resultierenden Um- und Einstürze gehen auf Kosten fast aller. Dazu zählt als erstes die Einschränkung von Freiheit. Denn genau diese garantiert Demokratie – so fehlerhaft sie wo und wie auch sein mag – prinzipiell für alle. Dort, wo die Realität von dieser Grundlage abweicht, wo Freiheit selektiv und abhängig ist von Macht, Vermögen, Status, Geschlecht, Herkunft oder anderen Parametern, hat Demokratie offene Flanken. In diese sticht jede totalitäre Kraft unmittelbar und fatal.

Wie sehr die Lage der Welt auf der Kippe steht, offenbart die Situation im Nahen Osten. Kaum ist angesichts eines Kriegsbeginns je so unmittelbar so tiefer Hass aufgebrochen, quer über die Welt, oft mitten durch Familien, Freundschaften, Verbündete. Wenn Empathie mit zivilen Opfern, mit Leid und Sterben von Unschuldigen, egal wo, nicht mehr vorhanden oder artikulierbar ist, wenn Worte und Kommunikation angesichts von unermesslicher Gewalt versagen und versiegen, dann wird nicht nur Demokratie zur leere Phrase, sondern jegliches Miteinander verunmöglicht.

Die Ignoranz komplexer Zusammenhänge zwischen lokalen und globalen Entwicklungen hat über Dekaden den Boden dafür bereitet, bis heute. Wenn Bomben in Syrien, im Irak, in Afghanistan fielen, haben die angerichteten Verheerungen im Westen meist wenig Entsetzen oder auch nur Interesse hervorgerufen. Diese Ignoranz, diese Distanz, die auf der Brandmarkung des „anderen“ basiert, ist es, die nun zurückschlägt, ein blutiger Bumerang. Denn sie bedeutet und manifestiert genau das: die unterschiedlichen Wertigkeit von Leben – wessen Leben ist meines Interesses, meiner Empathie wert und gegenüber welchen Leben ziehe ich die Grenze, unüberwindbar hoch? So richtet sich kontinuierlich heftigere Abwehr gegen Menschen auf der Flucht, die in Europa Schutz suchen. Leben wird mit unterschiedlichem Maß gemessen. Derlei Selektion ist nicht neu. Aber sie ist immer tödlich – und systematisch.

Alte, Kranke, politische Gegner*innen, LGBTQIA+, Juden, Roma … eine fatale Allianz aus Profit und Schuldzuweisung, die in Entmenschlichung mündet. Wer Demokratie erhalten, erneuern, verteidigen oder schaffen will, zieht eine einzige, dafür tatsächlich unverrückbare Grenze: gegen jene, die solche Entmenschlichung forcieren. Ein No Pasarán, das beim einzelnen Wort beginnt und öffentlichen Hetzen rigide Einhalt gebietet, statt sie zu vervielfältigen und zu legitimieren, das sich jeglicher Institutionalisierung und damit Machtgewinn widersetzt. Vor, während, nach Wahlen. Kompromisslos.


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