Wortmülldeponie
Joachim Hainzl ◄
Gestern jährte sich der Jahrestag des Todes der in Teheraner Polizeigewahrsam umgekommenen kurdischen Iranerin Mahsa Jina Amini. Und wieder brannten Plakate, wieder wurden Parolen skandiert und wieder gab es Todesopfer unter den Protestierenden. Wenn ich die Bilder von den Protesten auf den Teheraner Straßen im Internet sehe, kann ich es selbst nur schwer glauben, dass ich erst vor wenigen Tagen von einer mehrwöchigen Reise aus Teheran zurückgekehrt bin. Es war meine erste Iranreise seit 2019 und somit die erste nach den vor allem von Frauen angeführten monatelangen landesweiten Protesten im Herbst/Winter 2022/23.
Die erste Veränderung zu den letzten Reisen ist schon im Flugzeug beim Anflug auf den Teheraner Imam-Khomeini-Flughafen zu beobachten. Früher haben viele der Passagierinnen ihre Kopftücher kurz vor der Landung aufgesetzt, in der Art, dass es locker auf dem Kopf sitzt und keineswegs die Haare verdeckt. Diesmal jedoch durchlaufen viele sogar die Passkontrolle ohne Kopftuch. Erst im Bereich der Kofferausgabe, wo auf den Bildschirmen auf das Hijab-Gebot hingewiesen wird, setzen viele das Kopftuch auf.
Ein anderes Teheran
In den nächsten Wochen lerne ich ein im öffentlichen Bereich völlig verändertes Teheran kennen. Es ist ein sommerliches Teheran, in dem ich immer wieder daran erinnert werden muss, dass ich in Teheran bin und nicht in irgendeinem schicken Viertel in einem Urlaubsort am Meer. Die Lokale und Cafés sind voll und die meisten der Frauen in den reicheren Stadtteilen im Norden Teherans, in welchen ich mich zumeist aufhalte, tragen kein Kopftuch und auch keinen „Mantul“, also keine die weiblichen Formen verbergende Kleidung. Sie sitzen da im Kleid oder mit ärmellosen und kurzärmligen Tops zu cooler Musik, gutem Essen und alkoholfreien Getränken.
Den Wein, den gibt’s erst später in den Privatwohnungen. Neben dem schwarz verkauften Alkohol haben viele ihren selbst gekelterten Rotwein und einer kredenzt uns stolz seinen hausgemachten Maulbeerlikör.
Ignorieren und Improvisieren
In den 44 Jahren seit Bestehen der Islamischen Republik haben sich jene, die sich nicht an deren Regeln halten wollen, damit abgefunden, dass es für vieles eine Lösung gibt. So auch für das Verbot von Satellitenschüsseln zum Empfang ausländischer Sender. Das wird, wie ein Blick über die Dächer von Teheran zeigt, in großem Ausmaß ignoriert. Das Regime setzt daher Störsender ein. Und so passiert es, dass wir gerade eine sehr interessante ausländische Dokumentation zur Besetzung Irans im Zweiten Weltkrieg ansehen und plötzlich der „Parasit“ (wie die ton- und bildverzerrenden Frequenzen hier genannt werden) dem Anschauen ein abruptes Ende setzt. Man ist daran seit Jahrzehnten gewöhnt und switcht rasch vom nutzlos gewordenen Fernseher zurück zum Gespräch.
Ebenso gewöhnungsbedürftig und anstrengend ist die Sperre des Internets. Als eines der ersten Dinge nach der Ankunft geht es daher darum, das geeignete VPN-Programm zu finden, um im Internet surfen zu können. Blöderweise sind alle Seiten, die nur das Wort „VPN“ enthalten, auch gesperrt. Aber irgendwie scheinen die Machthaber auch diesen Umweg ins Netz unter Kontrolle zu haben. Denn in der Nacht, wenn das Internet nicht für die arbeitenden Menschen im Iran gebraucht wird, hilft bei mir auch kein inzwischen installiertes VPN-Programm, da ist die Internetsperre „plötzlich“ sehr effektiv.
Beim Einkauf im noblen Einkaufszentrum „Palladium“ wieder viele ohne Kopftuch undzahlreiche (nutzlose) Schilder, die an die Kopftuchpflicht erinnern. Und so spazieren wir durch eine heil wirkende Shoppingwelt, in der auch Firmen wie Sarovski oder Tefal ihre Produkte wie eh und je anbieten.
Zuviel des Guten?
Noch in der Zeit des Schahs wurden 1976 die A.S.P. Towers von westlichen Architekten fertig gestellt. Bei unserem Besuch gibt es ein einziges schmales Eingangstor, das von privater Security der Siedlung kontrolliert wird, anscheinend auch im Versuch, Vertreter der Revolutionsgarden von ihren täglichen Kontrollen abzuhalten. Denn in den dortigen Innenhöfen mit seinen Lokalen flaniieren vorwiegend junge Frauen und Männer. Männer mit (eigentlich auch verbotenen) kurzen Shorts und einige der Frauen in bauchfreien Tops. Im Gespräch mit älteren Bekannten und Freund:innen wird das dann schon als etwas zu viel des Guten betrachtet. Hier wird das Anzieh-Thema plötzlich zu einem allgemeinen, auch in Graz anzutreffenden Thema unterschiedlicher intergenerativer Vorstellungen.
Neben diesem noch kontrollierten semiprivaten Bereich gibt es aber auch öffentliche Parks, die als Freiraum dienen. Im Ferdows-Park nahe Tajrish bieten Straßenverkäufer alles Mögliche zum Essen an, oder auch selbstgemachten Schmuck. In der Parkallee daneben wurde schon vor Monaten das Licht abgedreht. Mit dem Effekt, dass hier in der lauen Sommernacht die Leute lachend beim Kerzenlicht zusammensitzen, während die anderen daneben dem Gitarrenspieler zuhören oder Paare auf der Wiese eng nebeneinander liegen. In manchen Nächten, so berichtet uns eine Freundin, gibt’s sogar improvisierte Konzerte, die immer wieder vom Regime aufgelöst werden. Nur wenige Meter weiter hat die Regierung einem hippen Ort, den ich noch 2019 besuchte, durch ihre Maßnahmen die Bedeutung genommen. Den Bereich des Kinomuseums mit seinem coolen Café kann man jetzt nur mehr durch eine Schranke betreten, bei der ein (in Euro umgerechnet sehr geringer) Eintritt verlangt wird. Die Eintrittskarte verweist wiederum auf die Kopftuchpflicht.
Lieber ein Kopftuch aufals Problemen ausgesetzt
Bevor das jetzt zu verklärend klingen mag: Ich habe mich bewusst von jenen zentralen Bereichen der Stadt ferngehalten, wo ich wusste, dass die hohe Polizeipräsenz mich zu stark verunsichern würde. Denn zum ersten Mal seit langer Zeit (nach den Jahren eines bis zur COVID-Pandemie doch recht florierenden Tourismus aus westlichen Staaten) werde ich auf Teherans Straßen als „westlicher“ Ausländer wieder vermehrt angestarrt und jedenfalls mehr als all die Frauen ohne Kopftuch.
Die gesteigerte Präsenz von kontrollierenden Vertreter:innen des Staates führt anscheinend auch dazu, dass viele Frauen wieder ein Kopftuch aufsetzen. In Tajrish, einem stark frequentierten Markt im Norden Teherans, soll noch vor wenigen Monaten die Mehrheit der Frauen (darunter viele Ältere) das Kopftuch abgelegt haben. Bei meiner Stichprobenzählung von rund 260 Frauen waren es nicht ganze 20%, die gegen die Kopftuchtragepflicht öffentlich verstoßen haben und viele von ihnen hatten nicht einmal ein Kopftuch um den Hals gelegt (um es im Falle einer drohenden Kontrolle rasch aufzusetzen). Wenn diese Zahl auch gering erscheinen mag, von jeder Frau verlangt dieser persönliche Protest viel Mut und das Inkaufnehmen von Problemen.
Überwachen und Strafen
Wer nun meint, dass der Verstoß gegen das Tragen des Kopftuchs in zumeist unbeachtet bzw. ungestraft bliebe, irrt sehr. Es werden zwar anscheinend Konflikte auf offener Straße eher vermieden (denn es würden sich sehr schnell wohl andere Passant:innen in Solidarität mit der bedrängten Frau einmischen), aber überall dort, wo es eine Kontrolle gibt, wird diese auch durchgezogen. So werden die Autozulassungsbesitzer:innen verständigt, wenn die Gesichtserkennungssoftware Frauen ohne Kopftuch im Auto entdeckt. Die Drohungen, für einige Wochen das Fahren des Autos durch Autokrallen am Auto in der eigenen Garage zu verunmöglichen, werden wohl nur begrenzt umsetzbar sein. Dass es jedoch tatsächlich zu Strafen und Beschlagnahmungen kommt, erzählt uns eine Bekannte, die erst wenige Tage zuvor von der (eigentlich bisher dafür nicht zuständigen) Verkehrspolizei wegen ihres fehlenden Kopftuchs aufgehalten und ihr Auto beschlagnahmt wurde. Ähnliches berichtet ein Snap-Fahrer (die iranische Uber-Version), dem sein Motorrad für Wochen beschlagnahmt wurde, da seine Freundin ohne Kopftuch bei ihm mitfuhr (fast alle Motorradfahrer:innen in Teheran missachten nämlich auch die Helmpflicht).
Die Geschichte eines anderen Snap-Fahrers schnürt mir den Hals zu. Er war mit dabei, als sein Freund voriges Jahr in Teheran bei den Protesten auf der Straße erschossen wurde. Und er verspricht, dass er diesen Herbst wieder auf die Straße gehen wird, um zu demonstrieren, auch wenn er Vater eines kleinen Kindes ist.
Von Snap-Fahrern, die den geringen Dienst daraus zum Überleben benötigen, bekomme ich mit, wie schwierig die wirtschaftliche Situation des Landes, trotz seiner Ressourcen, ist. Die hohe Inflation zeigt sich nicht nur an den stark angestiegenen Preisen für Lebensmittel, sondern auch am Verfall der Währung. Bekam man für einen Euro vor zwei Jahren noch rund 15.000 Tomen, so sind es diesmal bereits 52.000 Tomen. Und immer wieder wundert es mich, wenn ich in einem Land, das so viel Erdöl produziert, an den Tankstellen lange Autoschlangen sehe.
Eine Stadt voller Parolen auf den Wänden
Ekbatan ist eine weitere, von westlichen Architekten geplante Großsiedlung in Teheran. Hier gab es letztes Jahr monatelang zahlreiche Proteste und auch Zusammenstöße mit Revolutionsgarden. Einige kennen vielleicht das Musikvideo, das in Ekbatan aufgenommen wurde, mit jenen tanzenden jungen Frauen, die anscheinend seit Monaten im Gefängnis sitzen. Hier in Ekbatan sind immer noch an vielen Stellen Anti-Regime-Parolen und Slogans zu sehen, zumeist übermalt und dennoch noch irgendwie lesbar. Daneben finden sich hier neu gesprühte Parolen, die anlässlich der kommenden Jahrestage der Opfer der Proteste 2022 zum Generalstreik aufrufen.
Apropos Parolen: diese wurden während der Proteste 2022 auf wirklich sehr viele Hausmauern in der Stadt gesprüht. Die meisten von ihnen wurden nicht übermalt, sondern nur bis zur (teilweisen) Unkenntlichkeit übersprüht. In einer ruhigen Gasse habe ich sogar ein Graffiti „Zan – Zendegi – Azadi“ („Frau – Leben – Freiheit“) entdeckt, das anscheinend übersehen wurde.
Freiheit, unterschiedlich gedeutet
Hunde, ja eigentlich ebenfalls verbotene, Hunde sind plötzlich vermehrt hier in Ekbatan (und in anderen Teilen Teherans im öffentlichen Raum) anzutreffen. Manche der Hundebesitzer:innen scheinen unter Freiheit jedoch wohl auch zu verstehen, dass sie sich nicht um Hundehaufen auf den Gehwegen kümmern müssen oder ihre Tiere, die mehr als ungestüm auf andere losgehen. Nach Wochen in einem Land voller Widersprüche hält dann nochmals der Flughafen eine Überraschung bereit. Da die Bildschirme, auf denen Frauen ohne Kopftuch, angedroht wird, nicht bedient zu werden, wirkungslos bleiben, sehe ich hier zum ersten Mal die verschleierten Hijab-Polizistinnen umher wandeln. Bei den Check-In-Schaltern werden sie fündig und warten so lange, bis die Frauen ihr Kopftuch aufsetzen. Die nachhaltige Wirkung der Intervention hält jedoch nur wenige Minuten bis zum Weggang der Hijab-Polizistinnen an und schon am Gate des Flughafens haben zahlreiche Frauen ihr Kopftuch eingepackt. Auch wenn ich nur einige Teile von Teheran gesehen habe. Die Eindrücke, die ich bekommen habe, haben mir gezeigt, wie sehr die Proteste, vor allem von Frauen, immer noch anhalten und dieses Land möglicherweise nachhaltig verändert haben.