Jakob Seidl ◄
Die Klangnacht beginnt wieder.
Ich weiß, was ich höre, ist nicht das Gehörte der anderen. Ich beneide sie. Wenn die anderen hören, dann hören sie. Mehr oder weniger. Nur das Bekannte oder das Eindringliche gelangt ihnen ins Bewusstsein. Der Rest verwischt im Hintergrund bedeutungslosen weißen Rauschens, das zwar ihre Trommelfelle zum Schwingen bringt, aber nie durch ihre Bewusstseinspforte zu dringen vermag. Nur der Ornithologe hört die Meise pfeifen. Für den Nicht-Ornithologen kommen wenige unmerkliche Obertöne zum multiplen Frequenzgemisch der Menschenwelt hinzu. Gleiches gilt für den Klang der Automotoren, der Gespräche, der Musik, der Insekten und der Verkehrsdurchsagen. Jeder nimmt sich aus dem großen Angebot der Frequenzen nur, was er deuten kann. Dieser Segen wurde mir nicht zuteil.
Ich stelle mich auf meinen Balkon. Stadtrandbezirk, 8. Stock, westgerichtet. Mein privates Panakustikon. Die Dämmerung tauscht die Dominanz des Sehens mit jener des Hörens. Während die letzten Lichtschimmer in der dreckigen Stadtrandluft über der nahegelegenen Hügelkette gestreut werden, bereitet sich die Welt darauf vor, den Verlust an visuellen Sinneseindrücken durch ein differenzierteres akustisches Panorama auszugleichen.
Es ist der Erste des Monats und wieder Zeit, mich meiner Existenz in der Welt zu versichern. Einmal jeden Monat, nur so oft und nur in der Nacht, setze ich mich ihr aus, schmerzliche Vergewisserung einer Außenwelt. Es ist Klangnacht.
Die Welt ist mir zu viel. Seit ich für mich die Entscheidung treffen konnte, ziehe ich mich aus ihr zurück. Ich kann ihr Zuviel an Eindrücken nicht sortieren, nicht filtern, nicht ignorieren, nicht ausschließen. Also schließe ich mich selbst ein. Die Welt ist keine Sammlung von Geräuschen. Die Welt ist ein Lärm. Wo die anderen ein Bild betrachten können, an einzelnen Details verweilen, da schüttet mir der Künstler seine Farben direkt in die Augen.
Ich lehne meinen Bauch an das rostige Metallgeländer. Es wurde zu niedrig gebaut, um als ernsthafte Sicherheitseinrichtung durchgehen zu können. Getauscht wurde es nie. Das raue Metall presst mir von unten in den Bauch. Die Abendluft kriecht kühl meinen Rücken hinauf. Das leise Knarren des filigranen Geländers ist ein dezenter Klang, ein kaum merklicher Übergang, der das Ende eines aufwühlenden Stückes einleitet, bei dem der Komponist versucht, das, was im Hauptteil an Zuviel drin steckte, mit plakativer Reduziertheit zu besänftigen. Mir fällt auf, dass Schwerelosigkeit kein Geräusch macht. Der mir immer stärker entgegenströmende Wind umso mehr, wobei ich es doch bin, der der stillen Abendluft, die mir kurz zuvor den Rücken kühlte, entgegenströmt. Einem anderen geht in diesem Augenblick das Bild des sich schnell nähernden Betons durch den Kopf. Mir die Frage nach dem Klanggemisch eines platzenden Schädels. Ich bezweifle, dass mir diese letzte Erfahrung zu Teil wird. Doch meine Existenz ist mir endlich sicher. Was zu Ende gehen kann, muss auch existiert haben.
Ich höre die Klangnacht nicht mehr. Das Blut in meinen Ohren, der Wind um meinen Körper, sie bilden eine akustische Mauer undifferenzierbaren Lärms.
So endet die letzte Klangnacht, im Rauschen der Welt.