„mich interessiert, wie es den leuten wirklich geht“

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Alfred Stingl ◄

Stimmen aus der Krise, Stimmen gegen die Krise – 12

Foto: Evelyn Schalk

Der Grazer Altbürgermeister Alfred Stingl im Gespräch mit Evelyn Schalk über die Notwendigkeit demokratischer Diskussionskultur, Helfen jenseits von Bürokratie, eine Wahlkampftour mit Kreisky, unmenschliche Abschiebungen und seinen Einsatz für die Aufnahme Geflüchteter, Europa auf der Kippe und schöne Beobachtungen jenseits zwischenmenschlicher Lockdowns.

Die Terrassentür zum Saloon des Forum Stadtpark ist an diesem Frühlingsnachmittag weit geöffnet, auf den Wiesen rundum nützen viele Leute die ersten warme Sonnenstrahlen, um Energie zu tanken und mir gegenüber sitzt ein entspannter, gut gelaunter Alfred Stingl, der davon jede Menge mitbringt. Der Mann, den nahezu jede*r Grazer*in kennt, war 18 Jahre lang (1985 – 2003) Bürgermeister der Stadt, danach ging erstmals seit 1945 das Amt von der SPÖ an die ÖVP (1) Stingl legte seine politischen Ämter zurück. In diversen sozialen und kulturellen Initiativen blieb er hingegen weiterhin aktiv, seit 2004 hilft er im Rahmen der Sozialaktion „Von Mensch zu Mensch“ von Armut Betroffenen und ist bis heute eine starke und unermüdliche Stimme gegen soziale Ungerechtigkeit und Diskriminierung.

Auf die Minute pünktlich trifft Stingl zur vereinbarten Zeit ein, fast hätte er länger gebraucht, meint er gleich zur Begrüßung, sein Bus habe Verspätung gehabt. Das völlige Fehlen von Attitüde oder Arroganz haben den heute 82-jährigen Sozialdemokraten jahrelang zum beliebtesten Politiker der Stadt gemacht. Ja, man traf und trifft ihn in der Straßenbahn oder im Supermarkt auch jenseits von Wahlkampfveranstaltungen und Fototerminen. Dass dieser Umstand immer wieder betont Erwähnung findet, sagt mehr über gesellschaftliche Distanz des politischen Personals aus, als es die Nähe von Stingl noch illustrieren müsste.

Wenn Alfred Stingl spricht, erkenne ich den Tonfall wieder, mit dem ich aufgewachsen bin und der mit den Jahren immer mehr aus dem öffentlichen Kanon verschwunden ist. Auch Stingl verfügt über etwas von jener „Doppelnatur“, die einst Willy Brandt seinem Freund Bruno Kreisky bescheinigte. Sie ließ ihn gleichermaßen bei Universitätsprofessor*innen wie bei Arbeiter*innen ankommen und trug damit wesentlich zum politischen Erfolg Kreiskys bei. Das gilt auch für Stingl, der im Solidaritätscamp für Geflüchtete ebenso engagiert anzutreffen ist, wie er mit Begeisterung Elīna Garanča im Musikverein begrüßt.

Die Frage, die ich allen Gesprächspartner*innen dieser Interview-Serie zu Beginn stelle, hat er schon bei der telefonischen Terminbestätigung heute Morgen beantwortet. Am Tag nach seiner zweiten Covid-Schutzimpfung bestätigt er. „Es geht mir ausgezeichnet, ich spüre gar nix. Und heute Vormittag bin ich schon beim Auer in der Mariahilferstraße gestanden und hab geholfen, Brot zu verkaufen.“ Er bezieht sich auf ein Projekt des Grazer Bäckereiunternehmens, in dessen Rahmen Brot vom Vortag günstiger verkauft wird, der Erlös kommt den Sozialinitiativen „Von Mensch zu Mensch“ sowie „Steirer helfen Steirern“ und einer Kinderstation im LKH zugute (2) Stingl versucht zu helfen, ohne große Show, dafür unbürokratisch und auf Augenhöhe. Nie habe ich ihn über „Charity“ reden hören, dafür über soziale Ungleichheit und Missstände, auch lange nach Beendigung seiner politischen Karriere.

Was von ihm allerdings kaum öffentlich zu vernehmen ist, sind Kommentare zu aktuellen politischen Geschehnissen.

Sie kommentieren tagespolitische Entscheidungen höchst selten, halten Sie es da wie die ehem. amerikanischen Präsidenten, die sich zu ihren Nachfolgern ja prinzipiell nicht bzw. nur in Ausnahmen äußern?

Ja, das wäre auch nicht fair. Jede Regierung, jedes Ressort hat eigene Bedingungen und Abläufe, man weiß manchmal nicht, wie etwas zustande kommt. Aber die grundsätzlichen Fragen interessieren mich natürlich nach wie vor! Das bleibt.

Unterschiedliche Meinungen muss man in der Demokratie haben dürfen, das vertrete ich auf jeden Fall. Die Meinungsbildung, auch die politische Meinungsbildung in einer Demokratie lebt davon, dass man erstens den sogenannten Anderen anhört, dann seine eigenen Überlegungen darbietet, und danach wird halt diskutiert. So kommt es zu einer Entscheidung. Es schadet aber umgekehrt gar nicht, wenn manches auch im Einvernehmen geschieht. Denn so, wie‘s momentan im Parlament zugeht, die Art, wie geredet wird, der Tonfall, das ist keine politische und parlamentarische Kultur, das muss ernster genommen werden. Die Zwischenrufe und das alles kann man sich sparen.Wir haben im Grazer Gemeinderat natürlich auch unterschiedliche Meinungen zu manchen Fragen gehabt, im Regelfall sind aber die meisten Projekte einvernehmlich beschlossen worden.

Stingl ist als parteiübergreifender Brückenbauer bekannt, Kritiker*innen war er nicht selten zu konsensorientiert. Nichtsdestotrotz hat er Beschlüsse auf den Weg gebracht, die so sonst wohl nicht gefallen wären. Besonders wichtig für ihn bis heute ist, dass im Jahr 2000 der Beschluss zum Wiederaufbau der Grazer Synagoge einstimmig im Gemeinderat gefasst wurde.

Aber hat sich nicht genau das verändert, diese Diskussionskultur,die Sie ansprechen?

Ja. Das politische Klima, der Respekt im Parlament, der wechselseitige, das ist momentan scheinbar völlig verhaut. Da wär‘s gescheit, wenn man sich zusammenreißt, akzeptiert, dass Regierung und Opposition nun einmal so sind, wie sie sind, und sagt, wisst‘s was, jetzt setzen wir uns nocheinmal gemeinsam hin. Und das passiert ja auch gerade, dass der Bundeskanzler sagt, reden wir mit der Opposition.

Notgedrungen, punktuell und wohl ziemlich spät …

Man braucht verlässliche Mehrheiten. Ich glaub schon, dass es Sinn machen wird, wenn sie sich alle zusammenreißen und sagen: Die Situation ist zu ernst für oberflächlichen politische Haltungen. Wir müssen gemeinsam zusammenkommen und Lösungen finden. Das ist eine Verpflichtung. Ich hoffe, dass es bald der Fall ist, dass die Opposition als parlamentarische Kraft von der Regierung anerkannt wird.

Sehen Sie da konkrete Fortschritte, bzw. wo hakt es am meisten?

Wohl am schwierigsten wird’s bei der FPÖ mit ihrer personellen Ausstattung. Aber vielleicht überlegt man sich zuerst einmal das Klima zurecht zurichten. Und das hat gar nichts damit zu tun, dass nicht auch einmal scharfe Kritik angebracht wäre. Aber kultiviert, und nicht, indem einer den anderen sonstwas heißt. Das ist nicht Sinn einer demokratischen Politik.

War eine solche politische Kultur nicht einmal eine der Stärken der SPÖ? Das zu vermitteln, auch und gerade öffentlich, und sich damit von den anderen abzuheben, könnte das nicht jetzt eine Chance sein?

Rendi-Wagner ist eine überaus ernstzunehmende Parlamentarierin. Sie hat mir zuerst wirklich leid getan, da wird sie mit 85 Prozent gewählt und kaum geht sie aus dem Saal, fangen die ersten schon zu meckern an. Das war nicht in Ordnung. Ich schätze diese Frau u. a. deshalb so, weil sie mit ihrer Art niemand beleidigt, obwohl sie selbst angegriffen wurde. Es ist sehr gut, wie sie jetzt ihre Meinung sagt. Sie hat als Medizinerin selber in diesem Bereich gearbeitet, ist also wirklich Expertin, und eigentlich war bisher jede ihrer Empfehlungen richtig.

Ist das medial ausreichend sichtbar?

Wenn die Medien einmal soweit gehen, wie sie in den letzten Tagen gegangen sind, dann weiß man, wie‘s ausschaut und das ist ein Problem. Die Medienlandschaft erzeugt immer ein Stück ihrer eigenen Politik, die ist dann eben jeweils entsprechend …

Dem Qualitätsverlust hat man einst versucht mittels Presseförderung vorzubeugen, das war doch auch Bruno Kreiskys Idee, Stichwort Pluralismus … Mittlerweile passiert das Gegenteil, die größten Konzerne bekommen die höchsten Förderungen …

Ja, klar. Kreisky war eine besondere Persönlichkeit. Manche Zitate haben sich bis heute gehalten, wie etwa sein „Lernen Sie Geschichte.“ Ich hab ihn ganz gut gekannt, mit ihm in der Steiermark die Wahlkampftouren gemacht. Das witzigsten Erlebnis bei einer solchen Wahlreise war dieses: Am Tagesspiegel stand, wir fahren nach Stift Rein. Wir saßen im Auto und er fragte mich: ‚Sag einmal, wo fahren wir hin? In ein Stift? Wer wählt uns denn da?‘ Ich meinte, ‚Herr Bundeskanzler, du wirst schauen, die Leute interessieren sich für dich.‘ Er: ‚Ja, aber wer kommt denn dort hin? Der Ort hat doch grad einmal 500 Einwohner.‘ Ich darauf, ‚Du wirst schon sehen.‘ Er zweifelte weiter. ‚Wenn da ganz wenig Leute sind, drehen wir gleich um.‘ Ich hab inzwischen auch gezittert, dass es klappt. Dann sind wir die Straßen zum Ort reingefahren, als uns die Gendarmerie aufhält. ‚Tut uns leid, Herr Bundeskanzler, aber ihr müsst‘s zu Fuß hineingehen zum Stift.‘ Frag ich, ‚Wieso? Soviel Zeit haben wir nicht.‘ Darauf der Gendarm: ‚Aber wenn Sie jetzt um die Kurve fahren, kommen Sie nicht weiter, da ist alles voller Menschen!‘ Der dortige Bürgermeister war von der SPÖ und so clever, alle mitzunehmen, er hat wirklich alle Mitbürgerinnen und Mitbürger mobilisiert.

Solche Fähigkeiten sind mittlerweile meist verloren gegangen …

Ich hab das beobachtet, das war schon fast eine Hysterie. Kreisky ist mitten durch die Menge an Menschen gegangen, hat ruhig gegrüßt, die Leute kamen immer näher – einfach, um ihn anzugreifen. In Wirklichkeit hat ihm das nicht nur nichts getan, sondern er hat‘s genossen. Über 3000 Leute sind gekommen ,von den ganzen kleinen Gemeinden des Bezirks. Das war schon eindrucksvoll mit ihm. Aber er war auch unglaublich ausdauernd.

Aus Überzeugung und unbedingtem Wollen?

Ja, genau. Man muss eine Sache aus Überzeugung und gern machen. Und sich selber ein bissl zurück nehmen, um das Thema, um das es geht, mitzubeeinflussen.

Zurücknehmen ist heute, im Zeitalter der Selbstinszenierung, in der Politik eher selten. Fehlt das?

Manchmal schon. Jeder reagiert anders, ich dräng‘ mich ja nirgends auf. Für die Aktion mit der ‚Woche‘ (3) ist z. B. der Chefredakteur 2004 zu mir gekommen, weil er nicht nur Wirtschaft und Aktuelles im Blatt haben wollte, sondern auch was Soziales, wie‘s den Leuten geht.

Das war ja genau der Grund, warum ich als Bürgermeister bei den Verhandlungen über die Verteilung der Referate ein-, zweimal gesagt habe, ich möchte das Sozialressort behalten. Einige haben das nicht verstanden, bei den sowieso vielfältigen Aufgaben eines Bürgermeisters. ‚Wieso tust du dir das an?‘, hat‘s geheißen. Weil ich wissen möchte, wie die Leute leben! Aus. So war das, und das ist auch jetzt so.

Welche Veränderungen, Verschärfungen haben Sie bemerkt, wie hat sich die soziale Situation im diesem Corona-Krisenjahr entwickelt?

Die Lage hat sich auf jeden Fall verschärft. Besonders betroffen sind Alleinerzieherinnen. Das größte Problem sind die Mieten. Nach Trennungen bleiben meistens die Frauen mit den Kindern in der bis dato gemeinsamen Wohnung, aber wovon sollen sie jetzt die Miete zahlen? Bis Alimente etc. geklärt sind, dauert es oft Monate, auch bis die Frau einen Job findet, der dann fast immer wesentlich schlechter bezahlt ist, als der des ehemaligen Partners. Da vergeht Zeit. Aber so lang kann die alleinstehende Frau mit den Kindern ja nicht alles schuldig bleiben, dann wird sie mit Rausschmiss bedroht.

In Graz gibt’s kaum eine Wohnung mit Mieten unter 400 Euro, das summiert sich. Manche haben ja auch mehrere Kinder, da kostet die Schule schon viel, wie soll eine Mutter das schaffen? Die Familienbeihilfe reicht hinten und vorne nicht aus. Und dann kommen noch tausend andere Probleme dazu. Aber das war für mich eben immer wichtig zu wissen – wie geht’s den Menschen wirklich?

Wie sieht es mit den Unterstützungsmaßnahmen aus?

Das war offenbar ein Missverständnis. Zuerst hieß es, dass die Regierung für drei Mieten steht, wenn jemand sie nicht bezahlen kann. Doch nun kriegen die Leute zu hören, dass sie diese zurückzahlen müssen, noch dazu innerhalb von drei Monaten. Bei, sagen wir, 500 Euro Miete sind das 1500 Euro auf einen Sitz plus die neue Miete. Das ist eines der großen Probleme.

Bei den alten Menschen ist es wiederum so, dass ihre Pension vielfach nur so hoch ist wie die Mindestsicherung, also 960 Euro. Da bleibt wieder nicht viel zum Leben. Ganz dramatisch und ungerecht finde ich, wenn Menschen gesundheitliche Probleme haben und auf bürokratische Hürden stoßen. Da gibt es scheinbar minimale Dinge, die aber für dieses Alter des Lebens ganz wichtig sind. In solchen Fällen können wir manchmal helfen.

Dafür braucht es viel Geduld …

Ja, die muss man haben. Wir machen auch keinen Unterschied und hören alle Menschen an, die anrufen und helfen, wenn es möglich ist.

Wie ging es Ihnen selber in dieser Zeit, wie hat sie die Pandemie persönlich betroffen?

Erstens war ich körperlich ok. Aber alle haben plötzlich über Risikogruppe über 75 und Vorerkrankungen geredet! Natürlich, ich hab mich auch beim Land für die Impfung angemeldet und bin von unserer Hausärztin geimpft worden. Eine Frau, die sehr nett mit älteren Leuten umgeht und so manchen Patientinnen und Patienten die Angst nimmt. Das hab ich gestern wieder erlebt, wie einfühlsam und vorsichtig sie ist.

Für Sie hat sich also nichts verändert, Sie haben also einfach alles so fortgesetzt, wie bis dahin. Da sind sie einer der wenigen …

Da will man auch ein bisschen aufmerksam machen, auf dieses Menschsein …

Die Lockdowns waren kein Problem für Sie?

Das mit den Lockdowns hat mich wenig gestört, es war notwendig in Hinblick auf die vielen Todesopfer und die Opfer, die die Menschen in den Heimen bringen mussten.

Aber meiner Meinung nach gab es einen gravierenden Fehler von der Regierung – wenn Sie sich erinnern, am Beginn hatten sie ein Plakat, auf dem hieß es: ‚Bleib daheim‘. Das war ein Fehler.

Man hätte in kurzer Formulierung sagen sollen: Wenn Sie gesund sind, dann bleiben Sie eben nicht daheim, sondern gehen spazieren, wandern, auf einen Berg, an die Luft jedenfalls. Aber nicht nur ‚bleib daheim‘. Das ist wie eine Aufforderung, geh ja nicht raus, weil dort warten die Viren-Monster. Das macht nur Angst.

Genau das war ja die Botschaft.

Naja, aber es ist doch vor allem in den städtischen Häusern so, dass die Leute untereinander in Spannung leben, Platz fehlt, die Kinder brauchen einen Tisch für die Schule, die Eltern sind beengt, genervt, überarbeitet, manche arbeitslos und mit Sorgen.

Aber ich hab auch Schönes gefunden. Allein wenn ich da von der Forum-Terrasse runter in die Natur schaue – so hat der Stadtpark um die Zeit noch nie ausgesehen, mit all den Leuten, die sich erholen. Freilich, das Wetter spielt mit, aber selbst wenn nicht, kann man was machen. Ich geh meistens auf den Plabutsch. Besonders schön ist zu beobachten, wenn z. B. Mütter und Väter zusammen mit dem Kinderwagen unterwegs sind. Was man jetzt auch viel öfter sieht, sind ältere bis alte Leute, die Hand in Hand gehen. Das hat man früher in der Form nicht so wahrgenommen.

Warum, glauben Sie?

Ich weiß es nicht, man sucht Halt oder die älteren Menschen denken, ,Wie lange leben wir noch, mit dem Virus.‘ Ich finde das so menschlich. Und vielleicht kommt auch noch das Nachdenken dazu, dieses ‚Das war einmal …‘

Hat dieses ‚Bleib daheim‘ auch dazu beigetragen, dass viele diesen Coronaleugner*innen auf den Leim gegangen sind und sich nun fast wöchentlich mit diversen Rechten zu Demos formieren? Was macht man dagegen?

Von diesen Demos halte ich nichts. Mögen alle Demonstrant*innen an die vielen Opfer denken.

Auf solche Argumente kommen als Antwort meist sofort Verschwörungstheorien, von wegen die Zahlen wären manipuliert, Medien gleichgeschalten usw.

Da kann man ruhig sagen, ‚wisst‘s, bei einer solchen Überforderung können Fehler passieren.‘ Das halte ich übrigens generell für wichtig. Ein Beispiel ist da die verdiente deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ich weiß nicht, ob die EU ohne sie überhaupt noch zusammen wäre … Wenn ich dann höre, dass der österreichische Bundeskanzler die EU verantwortlich macht für zu wenig Impfstofflieferungen, wovon er davor selbst das vorhandene Kontingent nicht ausgeschöpft hat, ist das sehr zu kritisieren.

So verantwortungsvoll Merkel jetzt in der Krise agiert, so sehr hat sie einst Griechenland mit ihrer Austeritätspolitik drangsaliert. Elendslager wie Moria oder Kara Tepe sind nicht zuletzt eine Folge davon. Wir haben uns ja vor kurzem in Graz beim ‚We4Moria Solidaritätscamp getroffen und sehr klar positioniert. Auch Sie fordern seit langem, dass Österreich endlich Geflüchtete aus den Lagern aufnimmt. Die Bundesregierung blockt dahingehend jedoch nach wie vor alles ab.

Das ist politisch sowas von schiefgegangen. Ich weiß keine Lösung, wie man die Regierung dazu bringt.

Dann sagt der Innenminister, wir haben letztes Jahr 5000 unbegleitete Minderjährige aufgenommen, in Wirklichkeit waren es nur 186! Wo ist da eigentlich der Bundeskanler? Er ist ja letztendlich mitverantwortlich für das Team und die Kollegen und Kolleginnen in der Regierung. Das kann doch nicht sein, dass solche Fehler, die den Menschenrechten entgegenstehen, passieren. Genausowenig, wie man Kinder um drei oder vier Uhr Früh aus dem Bett holt und brutal abschiebt. Sowas darf einfach nicht sein. Da würde ich mir wirklich wünschen, dass die Österreicherinnen und Österreicher empfinden, dass so etwas nicht mehr in unserem Land passiert. Die Wiedereinführung des humanitären Bleiberechts in der Kompetenz der Länder und Gemeinden wäre in Hinblick auf die ‚Kenntnis vor Ort‘ der richtige Schritt.

Welche Schritte bräuchte es auf europäischer Ebene, auch angesichts der autoritären Entwicklungen in Teilen der EU?

Jetzt ist es notwendig, dass der Zusammenhalt in der EU verstärkt wird. Europa braucht wirklich überzeugte Europäerinnen und Europäer! Das Ergebnis der Volksbefragung zum EU-Beitritt damals hat gezeigt, wie sehr dieser im Interesse der österreichischen Bevölkerung war. Ich hoffe wirklich, dass Europa nicht zerfällt. Der derzeitige Trend in der EU erfordert Stabilisierung und ein Denken und Wirken für die Zukunft.


https://tatsachen.at/2021/05/01/mich-interessiert-wie-es-den-leuten-wirklich-geht/

Alfred Stingl, geboren 1939 in Graz, absolvierte eine Lehre als Schriftsetzer, wechselte 1962 in die Politik, trat in die SPÖ ein und wurde 1965 in den Grazer Gemeinderat gewählt. Ab 1973 war er Stadtrat für Jugend, von 1982 – 1985 hatte er das Amt des Vize-Bürgermeisters inne und war anschließend bis 2004 Bürgermeister der Stadt Graz. Darüber hinaus fungierte er viele Jahre Vorsitzender des ORF-Kuratoriums, Präsident der Österreichischen Gesellschat für Natur- und Umweltschutz sowie bis heute Vize-Präsident des Musikvereins für Steiermark. Mit seiner Frau Elli war Alfred Stingl fast 60 Jahre verheiratet und pflegte sie nach einem Schlaganfall sechs Jahre lang bis zu ihrem Tod 2018. Stingl ist in der Initiative „Von Mensch zu Mensch“ seit 2004 für Menschen in sozialen Notlagen aktiv und in diesem Rahmen in Kooperation mit der „Woche“ als Ombudsmann tätig.


(1) Erstmals verlor die SPÖ das Bürgermeisteramt 1973 (bis 1983) an Alexander Götz von der FPÖ.
(2) Die Sozialaktion „Von Mensch zu Mensch“ hat Alfred Stingl mit der Gratiszeitung „Die Woche“ ins Leben gerufen. In diesem Rahmen ist er als Ombudsmann tätig und unterstützt von Armut Betroffene rasch und unbürokratisch.
(3) siehe oben, Fußnote (2)