Evelyn Schalk ◄
Von ihren Wirkungsstätten entfernt, verboten, zensiert, verlacht, irren die Novembermenschen auf der leeren Bühne herum, jener Bühne, die an den Rändern des kontrollierten öffentlichen Raums entsteht.
(Saša Ilić in: Beton International, März 2019)
Fragen nach Widerstand, nach der Lage der Bühnen, dem Zustand der Akteur*innen, der Verfasstheit der Skripten, Wort für Wort Dimensionen ausloten zwischen öffentlicher Präsenz und täglich neuem Entscheiden, der Sprache und ihren Untiefen auf den Grund gehen, gleichzeitig ihr Potential austesten, ihre Hebelwirkung, ihre diskursive Sprengkraft.
der neoliberalismus hat immer die eine story erzählt. die ungebrochene, die erfolgsgeschichte, die verwertbare, die einspeisbare. aber vor allem: die einzige. neben, vor, über und nach ihr ist kein platz. für niemand. diese story hat alles gefressen, nichts anderes ist mehr übrig. du und ich existiert nicht. nur ein oder bleibt.
(Evelyn Schalk in: Beton International, März 2019)
Diese Story ist das wirkungsvollste Propagandainstrument alter und neuer Diktatoren. Sie klingt simpel und behauptet einfache Lösungen, deren Brutalität als Unvermeidbarkeit bagatellisiert wird. Denn sie wird immer auf Kosten der Opfer erzählt. Je radikaler die Story, desto größer der Erfolg ihrer, nahezu ausschließlich reichen, weißen, männlichen Erzähler. Wie Mantras wird ihre Geschichte nach immer den selben Mustern wiederholt, dringt ins Bewusstsein der Menschen, krallt sich dort als einzig möglicher Entwurf von Wirklichkeit fest und verdrängt die Wahrnehmung der täglichen, differenten, vielfach gebrochenen Realität. Empathie wird als Kollateralschaden verbucht.
Ihre Allgegenwärtigkeit ist es, die den Erzählern letztlich die Mittel an die Hand gibt, ihre Story in die Tat umzusetzen. Darin liegt die eigentliche Katastrophe – denn es sind jene Geschichten, aus denen Hass, Gewalt und Krieg geschmiedet sind.
Vielschichtigkeit, Komplexität und Sensibilität stehen einer solchen single story diametral entgegen. Die Herausgeber*innen von Beton International haben sich nie gescheut, diese Gegenposition einzunehmen und mit aller Konsequenz zu vertreten. Das Belgrader Literaturmagazin ist eine Sonderbeilage der Tageszeitung (taz) in Berlin, wird von Alida Bremer und Saša Ilić herausgegeben und erschien heuer zum dritten Mal anlässlich der Leipziger Buchmesse. Bis 2014 wurden diverse Samisdat-Ausgaben publiziert, 2015 erschien eine Ausgabe zur Buchmesse in Frankfurt als Beilage der Frankfurter Rundschau. Seit 2012 wird zudem in Kooperation mit dem Internationalen Literaturfestival Polip in Prishtina/Kosovo und Jeton Neziraj eine englischsprachige Ausgabe produziert. Ein literarischer Brückenschlag wider jeglichen Nationalismen und Sprachgrenzen, der sich ästhetischen Schubladisierungen entzieht und nicht zuletzt das eigene literarische Feld und dessen Betriebsbedingungen, sowie ästhetische Mittäterschaften kritisch beleuchtet.
Aus diesen und vielen anderen Gründen ist die vorliegende Kooperation zwischen ausreißer und Beton International entstanden – Widerstand ist nur einer, wenn er hierarchisch gesetzte Grenzen zwischen Geographien und Menschen überwindet, Diskurse miteinander vertieft, Argumente und Strategien schärft, um sich autoritären Entwicklungen, neuen alten Nationalismen und Faschismen solidarisch entgegenzustellen.
Heuer widmet sich Beton International dem Konzept der paralelní polis – also der Etablierung paralleler gesellschaftlicher Strukturen innerhalb des herrschenden Systems, mit dem „Ziel einer kritischen, solidarischen und vor allem aktiven Zivilgesellschaft, die eigene Visionen formuliert und umsetzt“ – des tschechoslowakischen Philosophen Václav Benda, auf das sich der Dissident*innenkreis um den späteren Staatspräsidenten Václav Havel berief.
Oder, wie Pankaj Mishra angesichts der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten 2017 schrieb: „the vital space where many, over the next four years, will find refuge from our age of anger, and learn to live in truth.“
Ein Konzept, das durchaus kontrovers diskutiert werden kann und muss, eine Frage nach dem Vorhandensein von Nischen und deren Wirkungsmacht, nach der Notwendigkeit geschützter Räume und des Aufbaus paralleler Strukturen, sowohl auf institutioneller als auch künstlerisch-ästhetischer Ebene.
Alida Bremer schreibt in Beton Interantional: „Es gibt eine merkwürdige Entwicklung in Kroatien: An den Rändern der Gesellschaft und der Geographie entstehen die wichtigsten Werke, die interessantesten Gedanken, die mutigsten Kritiken, aber in den Zentren werden sie von den Machthabern und vom mainstream vollständig ignoriert.“ Eine Ignoranz, die längst ganz Europa erfasst hat. Eine Ignoranz, deren Folgen den gesamten Kontinent und jede*n seiner Bewohner*innen treffen. Eine Ignoranz, die vor jeder Haustür beginnt – aber auch enden kann.
Jenseits von unverbindlichen Netzwerken, die mehr den Vorteil des Einzelnen als die Stärkung aller zum Ziel haben, gilt es, solidarische Kollaborationen zu entwickeln und nicht über-, sondern miteinander zu schreiben, zu diskutieren, Seite an Seite und Blatt für Blatt, mit aller Konsequenz.
In Zeiten, in denen die Grenzen zwischen Arm und Reich, Drinnen und Draußen, Zentrum und Peripherie immer fataler gezogen werden, wird es ohne eine solche Solidarität nicht gehen. Denn sie haben uns daran gewöhnt. die normalität des schreckens. Dagegen gilt es, die Stimmen zu erheben.
Saša Ilić zitiert zum Abschluss seines Briefs aus dem Novemberland den französischen Politiker und Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon: „Wir werden im vollständigen Dunkel kämpfen. Wir müssen uns daran gewöhnen, dieses ohne allzu große Traurigkeit zu akzeptieren. Verlassen wir uns aufeinander und rufen wir uns gegenseitig in der Dunkelheit.“
Wir werden nie aufhören zu rufen und einander zu antworten.
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Am 6. November 2019 wird zusammen mit der ausreißer-Ausgabe das Literaturmagazin Beton International erstmals in Graz präsentiert. In der Reihe FreiSchreiben der Minoriten Graz in Kooperation mit der Kulturvermittlung Steiermark diskutieren Autor*innen und Herausgeber*innen beider Zeitungen sowie der Literaturzeitschrift perspektive über Plattform und Polis. Literatur und Widerstand.
Mit: Adam Borzič, Alida Bremer, Matteo Colombi, Saša Ilić, Evelyn Schalk, Silvia Stecher
und einer Textbotschaft von Radka Denemarková
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