Interview-Auszug
Lidija Krienzer-Radojević ◄
ÜÜber die Entwicklung der Zivilgesellschaft im postjugoslawischen Raum spricht Lidija Krienzer-Radojević, Theoretikerin und Geschäftsführerin der IG Kultur Steiermark und spannt den Bogen zur Frage nach der Autonomie und Historisierung von Zivilgesellschaft im Allgemeinen sowie zu Analogien zum Kulturbereich und die Handlungsfelder in konkreten sozialen Kämpfen.
Wie würden Sie den Begriff der Zivilgesellschaft definieren? Ist sie eine Gesellschaftsformation, eine Gesellschaftssphäre oder etwas anderes? Aus welchem politischen Imaginären kommt sie, ist sie autonom oder abhängig und wodurch wird sie legitimiert?
Krienzer-Radojević: Die Erzählung von der Zivilgesellschaft ist eigentlich eine Erzählung von der Strukturierung der kapitalistischen Gesellschaft, und diese ist unvermeidlich Teil des politischen Imaginären der liberalen kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die sich gliedern lässt in den Kapitalisten, der aus wirtschaftlicher Sicht die Macht über die Produktionsmittel hat, den Staat, der die rechtliche und repressive Macht innehat, und schließlich die Zivilgesellschaft, die als Netzwerk heterogener und fragmentierter Subjekte organisiert ist – die zueinander auch in konfligierenden Positionen stehen. Die Zivilgesellschaft ist in kapitalistischen Gesellschaften nämlich ein strukturierter Ort zur Mobilisierung und Formierung einer öffentlichen Meinung, wodurch sie im Imaginären der liberalen Ordnung legitimiert wird.
Es ist wichtig, die Zivilgesellschaft als historisches, aber auch politisches Konzept kapitalistischer Gesellschaften zu verstehen. Die Selbstorganisation der Zivilgesellschaft und ihre Entwicklung hängen von den wirtschaftlichen Bedingungen ab, von ihrem historischen Verlauf und der historischen Erfahrung.
Man kann daher nicht von der Zivilgesellschaft als einem einheitlichen, ahistorischen Konzept sprechen, sondern muss sie spezifizieren und innerhalb der konkreten sozialen Kämpfe analysieren.
Die Frage nach der Autonomie der Zivilgesellschaft ist politisch falsch und analytisch unproduktiv, da die Gesellschaft als ein Ganzes zu verstehen ist, das die Verflechtung verschiedener Prozesse und Beziehungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Akteur*innen impliziert. Daher lässt sich weder der Staat, der eine generelle gesellschaftliche Metainstitution ist, als autonom bezeichnen noch die Zivilgesellschaft. Wir müssen aus dem liberalen Traum von autonomen Gesellschaftssphären erwachen.
[…]„Die Vernachlässigung von Arbeiter*innen- und Klassenfragen innerhalb des Imaginären der Menschenrechte kommt daher, dass im Kapitalismus Forderungen nach politischen Rechten vorherrschen, während im Sozialismus die wirtschaftlichen und sozialen Rechte vorrangig waren. In den postjugoslawischen Ländern war der Menschenrechtsdiskurs der führende Diskurs, mit dem der Sozialismus als legitimes Gesellschaftssystem dementiert wurde, und auf die gleiche Weise hatte er an dessen Zerstörung mitgewirkt. Derselbe Diskurs wird noch immer genutzt, um neuerliche Überlegungen, den Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus zu setzen, zurückzuweisen.“
„Der Staat überträgt Schritt für Schritt die Verantwortung für die soziale Kohäsion auf private Akteur*innen, die nicht die Kapazitäten haben, um die genannten Anforderungen zu erfüllen, da sie sich durch Projekte und andere Modelle finanzieren, die weder Stabilität noch Kontinuität haben. Und was das Schlimmste ist: Damit brechen parallel die Grundpfeiler des öffentlichen Sektors zusammen, wie das Sozial- und Gesundheitssystem, Kultur, Bildung usw.“
Aus dem Kroatischen von Silvia Stecher.
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Das Interview wurde erstpubliziert von der kroatischen Theorie-Plattform Slobodni Filozofski, in der deutschsprachigen Übersetzung von Silvia Stecher ist es auf tatsachen.at erschienen.
Das gesamte Interview:
https://tatsachen. at/2019/04/10/die-administration-des-klassenkampfes/