Evelyn Schalk ◄
Schicht für Schicht – freilegen oder hinzufügen? Be-Deutungen, Geschichte und Geschichten, Seite für Seite, auf, durch, über, zwischen Zeilen und Zeichnungen, Hintergründe entblättern, zu Papier bringen, auf bedrucktes oder von diesem auf leeres. Transformieren und dokumentieren, die eigene Wahrnehmung und ihre Veränderung beim Blick, bei der Lektüre, beim Verfolgen der Verläufe.
Ingo Abeska aus Graz und Christophe Gosselin aus Paris nehmen (gänzlich unabhängig voneinander) Marshall McLuhans Diktum „The medium is the message“ wörtlich oder vielmehr: bildlich. Für Gosselin sind historische Zeitungen Träger und Substanz seiner Arbeiten gleichermaßen, während Abeska sich nächtelang durch aktuelle Druckformate wühlt und aus der Wirkung, die sie auf ihn ausüben, Szenen, Kommentare, Gesichter überträgt. Gosselins flächige Malereien sind dennoch durchlässig, Blick vor und zurück in der Zeit, auf den historischen Journalen entstehen farbkräftige Bilder, die mitunter an japanische Comics erinnern, doch immer im Kontext der Vorlage, die zum Unter-, Hinter- und Vordergrund gleichermaßen mutiert. Was lösen Material, Texte, Inhalte, Ereignisse, Sprache, Fotografien heute aus, was haben sie bewirkt im Verlauf der Geschichte, in einer Gesellschaft, für Einzelne und welche Macht besitzen sie heute? Gosselins Arbeiten entstehen aus und in Schichten von Zeit, deren Materialität der Künstler nicht verleugnet, sondern vielmehr benutzt und ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. „Understanding Media“, so der Titel, dem McLuhans berühmtes Motto entnommen ist. Gosselins Arbeiten sagen mehr über Menschen als über Medien, wobei, wo wäre da die Trennlinie? An der Kammwelle der Hügellandschaft unter dem Wortzug der „Passages“ in einer Titelzeile, am Winkel des Schlagstocks in den Händen des Polizisten über der Werbung für Badeanzüge, am Strichverlauf der zurückgeschobenen Kappe des Arbeiters, wo Fabriksbilder neben chinesischen Artikeln durchscheinen? „The Extensions of Man“ lautet der Untertitel von McLuhans Band. Doch aus der Erweiterung ist längst eine Symbiose geworden – oder es ist schon immer eine gewesen. Denn Ereignisse, Entscheidungen und politische wie soziale Entwicklungen haben nie unabhängig voneinander und von ihrer öffentlichen Darstellung stattgefunden und das Leben von jedem und jeder* Einzelnen geformt und geprägt, Zeile für Zeile, bis heute, und sie tun es weiter.
Abeska betont, seine Bilder würden keine Antworten geben, sondern vielmehr Fragen aufwerfen, die Spitze des Stiftes zwischen die Zeilen setzen, mäandernd und hartnäckig gleichermaßen.
Fragen zu stellen, darin besteht eine der zentralen journalistischen Aufgaben. Was diese beinhalten, wie nachdrücklich sie formuliert werden und welche Konsequenzen sie nach sich ziehen, ist einer der ausdrucksstärksten Gradmesser für den Zustand einer Demokratie.
Wenn der FPÖ-Spitzenkandidat für die EU-Wahlen einem Journalisten, der Fragen über politische und gesetzliche Grenzüberschreitungen – die Häufung rechtsextremer „Einzelfälle“ – in seiner Partei stellt, live auf Sendung mit „Folgen“ und Rauswurf droht und tags darauf eine nicht-amtsführende Stadträtin derselben Regierungspartei denselben Journalisten mit Nazi-Richtern vergleicht, sagt das nicht nur etwas über die handelnden Personen aus. Es zeigt vor allem den Zustand der politischen Lage des Landes auf.
Nur wenige Tage davor publizierte Reporter ohne Grenzen seine internationale Rangliste der Pressefreiheit 2019. Österreich ist darin drastisch abgestürzt und hat seinen „guten“ Status verloren, seither gilt die Freiheit der Presse hierzulande gerade noch als „ausreichend“.
Gosselin arbeitet je nach aktuellem Aufenthalt oft mit und auf lokalen Printmedien, für die Ausstellung in Graz hat er auf historischen Ausgaben von steirischen Lokalzeitungen gemalt. Noch nie habe er auf so kleinen Formaten gearbeitet, meint er, das sei schon gewöhnungsbedürftig gewesen.
Aber genau um diese Gewöhnung geht es. Um die Gewöhnung an Gewalt, Leid, Diffamierung, Hetze, Korruption, Desinformation, Profitmaximierung, Einseitigkeit, Schubladisierung, Schreie und Sprachlosigkeit. Diese Gewöhnung ist die größte Gefahr.
Zugänge wie die von Gosselin und Abeska unterlaufen einen solchen Effekt, durch Sichtbarmachen von Entwicklungen und Interaktion, durch Perspektivenwechsel, durch leise Töne und Bilder zwischen den Zeilen, durch explizite oder implizite Veränderung des Narrativs.
Das funktioniert künstlerisch nur in und aus der Prozesshaftigkeit des Arbeitens, Abeskas Tag-Nacht-Rhythmus, Gosselins Verbindung von Ort und Material. Alles andere ist Fake, ein Als-Ob um seiner Vermarktbarkeit willen.
„Es sind mehr Personen geworden“, sagt Abeska über eine seiner Wahrnehmungen beim Studieren der Zeitungen, „aber sie sind für mich immer langweiliger. Ihre Bilder haben keine Funktion mehr, sie stehen nur mehr für sich selbst.“
Das tun auch die Arbeiten von Christophe Gosselin und Ingo Abeska, aber sie stehen gleichzeitig für eine Form künstlerisch-medialer Kommunikation, in der Menschen mehr sind als Auflagezahlen und Quotendiagramme. Sie werden Wort für Bild für Schicht zu Gegenübern auf Augenhöhe.
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Ausstellung JOURNAL
von Ingo Abeska und Christophe Gosselin
4. – 25. Mai 2019; Galerie Centrum, Glacisstraße 9, 8010 Graz
Weitere Infos:
https://galeriecentrum.net/
https://www. kulturvermittlung.org/
http://2019.galerientage-graz.at/