Oben, unten und die Räume dazwischen

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Eva Ursprung, Joachim Hainzl ◄

Wir kleinen Leute müssen uns fügen, hat meine Mutter immer gesagt. Möglichst still bleiben, uns nicht mit den „Großen“ anlegen, unauffällig bleiben. Wir waren „nur“ eine Arbeiterfamilie, und später, nach dem Tod meines Vaters, war sie „nur eine Frau allein“ und als solche eigentlich gar nicht mehr Teil der Welt.

Mein Vater sagte schon lange nichts, schon gar nicht mehr, seit meine Mutter sein kommunistisches Parteibuch gefunden hatte. Er arbeitete im Bergbau und wurde wegen seiner politischen Überzeugung an eine schlechter bezahlte Stelle versetzt. Meine Mutter ging zu seinen Vorgesetzten und intervenierte, weinte, entschuldigte den „Ausrutscher“. Er hätte das nur getan, weil er jemanden von der Partei mochte und er hätte keinerlei politische Haltung, auf keinen Fall. Trotzdem musste er mit seinem Asthma weiter im Stollen arbeiten, unter Tage in Staub und Dunkelheit. Aus dem Asthma wurde Lungenkrebs, aus seinem Schweigen wurde Husten, bis auch dieser aufhörte.

Mein Vater starb mit fünfzig. Als meine Mutter
in dieses Alter kam, war sie „ausgeschunden“,
körperlich so kaputt, dass sie bald nicht mehr
in der Fabrik arbeiten konnte.

Für meine Mutter war die NS-Zeit die schönste Zeit ihres Lebens: raus aus den beengten familiären Verhältnissen, wo sie ihrer überlasteten Mutter, deren Mann im Krieg kämpfte, bei der Versorgung ihrer sieben Geschwister helfen musste, hinein ins Abenteuer, dem „Bund deutscher Mädel“. Dann Arbeit als Krankenpflegerin im Lazarett, eine wichtige Tätigkeit, die ihr Sinn gab. Nach dem Krieg Heirat, Haus bauen, Kinder bekommen und Arbeit, Arbeit, Arbeit.

Das alles erschien mir nicht erstrebenswert, nichts  davon. Aber ich war ohnehin ein schwächliches Kind, für schwere körperliche Arbeit nicht geeignet, und hatte zudem „zwei linke Hände“. Daher musste ich in der Schule brav lernen, damit ich später als Sekretärin oder Lehrerin überleben könne, was schon weit mehr war, als „Leute wie wir“ sich erträumen konnten. In meiner Familie waren alle Arbeiter*innen, vorwiegend in der Glasfabrik, oder Verkäufer*innen. Nur zwei meiner Tanten hatten es geschafft, Männer zu heiraten, die sie alleinverdienend ernähren konnten und sie waren daher „nur“ Hausfrau – auch das verpönt, weil keine Arbeit im anerkannten Sinne. Arbeit ist schließlich das Wichtigste.

Mein Vater starb mit fünfzig. Als meine Mutter in dieses Alter kam, war sie „ausgeschunden“, körperlich so kaputt, dass sie bald nicht mehr in der Fabrik arbeiten konnte.

Trotz ihrer pädagogischen Versuche, mich zu schweigender Untertänigkeit zu erziehen, war meine Mutter die Streitbare in der Familie. Wenn die Hähne nebenan zu laut krähten, warf sie Steine, und mit Nachbar*innen und Verwandten wurde lautstark und vehement gestritten. Nur nach „oben“ war man gefügig.

Bereits in meiner Kindheit entstand so eine profunde Abneigung gegen Obrigkeitshörigkeit, Unterdrückung und Faschismus. Ich begann früh, das Leben, wie ich es kannte in Frage zu stellen und war ständig auf der Suche nach Alternativen. Bald schon erschien mir die Factory von Andy Warhol interessanter als die Glasfabrik, selbst wenn es die gegenüber meiner Glas schleifenden Mutter privilegierte Position einer Sekretärin wäre. Kunst als Tor in eine andere Welt, die selbst ich als eine der „kleinen Leute“ mitgestalten konnte. Eine freiere Welt, in der man sich selbst definieren konnte. Alles schien offen und wandelbar, „walk on the wild side“.

Der gleichnamige Song von Lou Reed erschien 1972 und beschrieb die geschlechtlich diverse Community um Andy Warhol. Diese war geprägt von dem, was jetzt als LGBTIQ*+ (lesbische, schwule, bisexuelle, transidente, queere, intergeschlechtliche und asexuelle Menschen) noch immer so manche Gemüter erregt. Vor nunmehr 53 Jahren gab es das bei uns am Land einfach nicht, zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Hinter vorgehaltener Hand wurde getuschelt, im Wirtshaus und auf Volksfesten gepöbelt, die Betroffenen führten ein Leben in Angst und Scham. In den größeren Städten war es nicht viel besser, aber da gab es mehrere, man konnte sich zusammenschließen, gegenseitig stärken, kommunizieren. Das schien damals auch in den USA nicht anders gewesen zu sein, und die Factory bot für alle Menschen einen kreativen Rahmen, um sich frei zu entfalten. Doch nicht jede*r möchte Paradiesvogel und Underground-Star sein, die meisten Menschen möchten einfach ein „ganz normales“ Leben führen, in einem Umfeld, das sie respektiert und ihnen dieselben Freiräume gewährt wie anderen auch.

Im Laufe eines halben Jahrhunderts waren wir bislang auf einem guten Weg, diese im Nationalsozialismus verfolgte und auch danach sozial an den Rand gedrängte Gruppe in die Mitte der Gesellschaft aufzunehmen. Sexuelle Orientierung oder die Wahl des individuell gefühlten Geschlechts – alles Dinge, die niemand anderem Schaden zufügen – sollten bald nicht mehr dem Zugang zur Ausübung eines Berufes oder der Gründung einer Familie im Wege stehen. Sollten – denn nun, ausgerechnet in den auf ihre Freiheit so stolzen USA, dem offen autokratischen Ungarn, aber auch hier in der Steiermark werden wieder Schritte gesetzt, diese grundlegenden Menschenrechte zurückzunehmen. Über die Diskussionen um die traditionell oder religiös legitimierte patriarchale Unterdrückung von Frauen, Kopftücher und religiösen Fanatismus sollten wir nicht vergessen, auch alle anderen grundlegenden Frauenrechte, ebenso wie die Rechte von lesbischen, schwulen, Inter- und Transpersonen zu schützen und gemeinsam für ihre und damit auch die Rechte aller Menschen zu kämpfen. Wir sind heute an einem Wendepunkt angelangt, der es verstärkt erfordert, Räume der Freiheit zu bauen und zu festigen:  in der Zivilgesellschaft, in Kunst, in Sprache, in Solidarität. Denn nur in der verantwortungsvollen Freiheit aller ist es möglich, eine Ordnung zu schaffen, in der alle ohne Angst ein gutes, lebenswertes Leben führen können.

Bereits in meiner Kindheit entstand so eine
profunde Abneigung gegen Obrigkeitshörigkeit,
Unterdrückung und Faschismus. Ich begann
früh, das Leben, wie ich es kannte in Frage
zu stellen und war ständig auf der Suche
nach Alternativen.

Das geschwächte Geschlecht

Irgendwie hat es sich ergeben, dass ich mich schon als Kind „anders“ fühlte. Ich erinnere mich an die Größeren in meiner Volksschule, darunter jenen, der zuletzt schon mit dem Motorrad zum Unterricht kam, da er 14 Jahre alt war und man ihn irgendwie bis zum Ende der Schulpflicht durchlotste. Mit ihm gab es mal Streit und ich schaffte es nur, mich kratzend mit meinen Fingernägeln zu wehren. Deswegen, wegen meiner längeren Haare und dem Umstand, dass meine Ohnmacht und Wut sich in raschem Weinen äußerte, wurde ich als „Mädchen“ beschimpft, was DAS Synonym für Schwäche war. Später noch im Gymnasium war ich immer der Kleinste in der Klasse, etwas, das sich eigentlich nur lohnte, um beim Völkerball leichter ausweichen zu können. Dazu kam noch mein lange beibehaltenes Fingerlutschen, das man mir mit Pflastern erfolglos abzugewöhnen versuchte. Im Unterschied dazu war es für die Lehrerinnen in meiner kleinen Volksschule am Land damals schon ok, dass ich Linkshänder war und bin.

In meiner Gymnasialzeit entwickelte ich mich dann mehr und mehr zum Einzelgänger oder besser gesagt zu einem, der sich mit einer männlichen Peer-Group und all diesen Männlichkeitsidealen in keiner Weise identifizieren konnte. Ich prügelte mich nicht, betrieb wenig Sport, schaute im Schulbus nicht mit den anderen Burschen Illustrierte mit Nackerten durch und verweigerte mich dämlichen Rangordnungsspielen. Etwa dem Ritual nach den Schulferien, wenn wir Burschen vor der noch verschlossenen Klassentür zusammenstanden und es galt, möglichst blöde Witze über jemanden in der Runde zu machen, um in der Burschenhierarchie zu punkten. Stattdessen spielte ich stundenlang alleine von mir entwickelte Spiele, las Bücher und schrieb Gedichte. Gedichte gegen den Krieg, über schlagende Männer und für den Kampf gegen „weltfressende“ ausbeuterische Kapitalisten. Denn damals wie heute kocht es immer wieder in mir, wenn ich von Ungerechtigkeiten höre oder lese. 

Noch als Schüler engagierte ich mich in einer Gruppe von Amnesty International, marschierte auf einer Friedensdemo in Wien mit und schrieb meinen ersten Leserbrief, in dem ich einen Lokalpolitiker meiner Heimatgemeinde kritisierte.

Unzählige Antirassismusworkshops, historische Projekte (wie etwa der erste, mit Heimo Halbrainer veröffentlichte, Beitrag zu Arisierungen in der NS-Zeit in Graz) und Ausstellungen, Kunstprojekte im öffentlichen Raum, Recherchen zu Stereotypen und Diskriminierungen und viele andere Aktivitäten – etwa das von mir 2003 initiierte Wahlkampfmonitoring der Stadt Graz und die 2011 verfasste und sogleich schubladisierte Menschenrechtsbildungsstrategie für Graz – waren Versuche, diesem immer wiederkehrenden Ohnmachtsgefühl gegen Ungerechtigkeiten auf der Welt zumindest auf regionaler Ebene ein klein wenig Widerstand entgegenzusetzen.

Nonkonformistisch-Sein als Ziel

Was die Grundhaltung meiner Lebenseinstellung betrifft, so lässt sich diese wohl am besten mit dem Wort Nonkonformismus beschreiben. Dazu zählen für mich der Widerstand gegenüber beziehungsweise das Ignorieren von geschlechterstereotypem Verhalten (angefangen von der Kleidung bis hin zum Bier, auf dass ‚richtige Männer‘ angeblich heute noch gemeinsam gehen (müssen)), vorgeblich altersadäquates Verhalten, ein Widerstehen gegen gewisse kapitalistische Verführungskünste, ein Leben ohne jedweden Glauben an eine Gottheit und mein teilweise sozial nonkonformes Verhalten. Was letzteres betrifft, so habe ich mir dessen Umsetzung hart erarbeitet. Nämlich, indem es mir (meistens) egal ist, wenn ich am Jakominiplatz in Graz, in der Wiener Mariahilferstraße, auf der Autobahnraststätte Kaiserwald, am Flughafen Istanbul oder wo auch sonst auf der Welt in Abfallbehältern nach Zigarettenschachteln für meine Sammlung suche.  Es ist faszinierend zu bemerken, wie viele Menschen sich parallel zu meiner sich im Müll vertiefenden Hand von mir entfernen und welche Blicke sie mir zuwerfen. Tatsächlich scheint es manchen zu ekeln. Gerade bei Rauchenden, die ihr stinkiges Gift tief in den eigenen Körper inhalieren, finde ich diese Abscheu vor mir und dem zugegebenerweise nicht immer ansprechend aussehenden und riechenden Müll absurd. 

Die neue Sichtbarmachung von Bedürftigkeit

Mit der Einführung des Dosen- und Flaschenpfands in Österreich im heurigen Frühjahr verlor ich jedoch innerhalb kürzester Zeit die Exklusivität meines spleenig-individualistischen „Müllstierlns“. Denn plötzlich sind Frauen, Männer und auch Kinder, wie seit vielen Jahren schon in deutschen Städten, nun auch in Graz überall dabei anzutreffen. Jene, die mit großen Plastiksäcken in Müllbehältern nach Pfandflaschen und -dosen suchen, mit ihrer Beute im Bus fahren und bei den Rückgabeautomaten anderen Geduld abverlangen. Medien berichten ausführlich über das neue Phänomen und Kommunen reagieren mit eigenen Vorrichtungen an Müllbehältern, in denen man leere Dosen deponieren kann und so Bedürftigen zumindest das Wühlen im Müll erspart.  Damit verbunden haben nun alle neue fixe Bilder im Kopf: Jemand, der etwa am Jakominiplatz im Mistkübel wühlt, muss so arm sein, dass er auf den Pfand angewiesen ist. Was mich betrifft, so hole ich weiter Zigarettenschachteln aus dem Müll und – genauso wie ich Münzen vom Boden aufhebe – nehme auch Pfandgebinde mit. Was bedeutet, dass mein Selbst (und auch meine Familie) sich nun damit abfinden muss, dass ich –  ungeachtet meiner Erscheinung und meiner Lebensumstände – durch das Müllstierln als „bedürftig“ betrachtet werde (vor einigen Wochen drückte mir jemand sogar einen 10-Euro-Schein in die Hand). Ich merke tatsächlich, dass ich an gewissen belebten Orten meines Lebensumfeldes (wieder) verschämter in den Müll greife. Und ich bin mit unerwarteten moralischen Fragen konfrontiert, die ich mir selbst stelle, etwa ob ich (für Bedürftige) abgestellte Pfandgebinde denn nun auch mitnehmen darf. Die Regel, die ich mir dazu aufgestellt habe: an zentralen Plätzen lasse ich die auf Müllbehältern abgestellten Dosen und Plastikflaschen stehen, an anderen Orten – wo ich annehme, dass diese Pfandgebinde beim Ausleeren ohnehin wieder im Müll oder im Extrabehälter der entleerenden Mitarbeiter(:innen) der Müllabfuhr landen – nehme ich sie mit. Was uns zu denken geben sollte, ist jedenfalls der Umstand, dass die vielen Pfandgebinde-Sammler:innen nun das Ausmaß von Bedürftigkeit und Armut in unserer Stadt wieder viel sichtbar machen und dass sie für einige Euro sogar bereit sind, mit ihrer Müllwühlerei etwas zu tun, das in unserer Gesellschaft weithin verpönt ist.