Martin Murpott ◄
Eines muss man schon allgemein festhalten: Aus egoistischen Motiven heraus politische Parteien zu wählen ist jetzt nicht prinzipiell moralisch verwerflich oder gar undemokratisch! Im Gegenteil. Parteien versuchen im Prinzip nichts anderes, als eigene sachliche oder ideelle Ziele zu verwirklichen und vertreten damit zeitgleich auch die Interessen von verschieden großen Bevölkerungsgruppen. Und da Demokratie im Idealfall bedeutet, die Rechte von Minderheiten zu schützen, sollte die Größe einer solchen Bevölkerungsgruppe vorerst kein grundsätzlicher Maßstab sein, um den Mehrwert einer Partei für die Gesamtgesellschaft zu beurteilen.
Wir bewegen uns natürlich generell auf schwierigem Terrain, wenn wir Parteien nach ihrem Mehrwert beurteilen oder ihnen den Willen zu einer konstruktiven demokratischen Partizipation absprechen. Vor allem letzteres sollte man den NEOS fairerweise und ohne viel Aufhebens wirklich zugestehen. Ebenso wäre es ziemlich billig, eine ganze Partei nach ihren verbalen Amokläufern zu bemessen, über die linke Parteien ja teilweise genauso und rechte Parteien ohnehin verfügen. Ich wage sogar unter furchtbaren Seriositätsschmerzen zu behaupten, dass nicht alles schlecht ist, was die NEOS so in den politischen Äther blasen.
So fordern die NEOS etwa 20.000 zusätzliche Lehrkräfte und Pädagog*innen an Schulen und Kindergärten, sowie eine Garantie auf einen Kindergartenplatz ab dem 2. Lebensjahr, um Familien (berufliche) Wahlfreiheit zu geben. Des Weiteren streben sie die Einführung einer „Mittleren Reife“ an, um quasi allen Schulabgänger*innen einen Abschluss zu ermöglichen. Auch ist von einem gemeinsamen Werte-Unterricht die Rede, der wohl das Leben in einer Demokratie zum Kerninhalt haben soll. All das klingt ja auf den ersten Blick gar nicht einmal so dumm, allerdings sollten wir uns dabei ernsthaft fragen, warum wir für diese Forderungen tatsächlich die NEOS brauchen. Letztendlich lassen sich diese durchaus vernünftigen Forderungen nämlich nicht von ihrem restlichen Programm isolieren.
Der fast schon fromme Wunsch nach mehr Personal im Bildungsbereich ist selbstverständlich bei linken Parteien sowie den Grünen ebenfalls zu finden. Gleiches gilt für garantierte Kindergartenplätze. Und während ÖVP und FPÖ eher mit Parolen wie „Keine Abschaffung der Schulnoten“, „Deutsch vor Schuleintritt“ oder „Das Kreuz bleibt im Klassenzimmer“ hausieren gehen, plädieren KPÖ, SPÖ und wiederum ebenfalls die Grünen schon lange für eine Gesamtschule bis 14 Jahre. Der Sinn dahinter besteht zumindest aus Linker Perspektive darin, eine ökonomische und soziale Segregation bereits im Volksschulalter zu verhindern. Zwar befürworten die NEOS im Kern ebenfalls ein solches Model, einen dezidierten Klassenstandpunkt vertreten sie dabei logischerweise dennoch nicht.
Aber wieso ist das wichtig? Die NEOS sind weder eine Partei des viel zitierten „kleinen Mannes“ noch der einfachen Angestellten und Arbeiter*innen. Haben sie im Gegensatz zu beispielsweise den Freiheitlichen auch nie behauptet! Allerdings sind sie seinerzeit mit so hehren Zielen wie etwa „Chancen für alle anstatt Privilegien für wenige“ oder dem Wunsch nach einer „Gesellschaft, in der jede und jeder die Chance hat, aus eigener Kraft voranzukommen“ in das Rennen um den Nationalrat gestartet. Dies mag nun fälschlicherweise den Anschein erwecken, als würden die NEOS tatsächliche für Chancengleichheit eintreten, nur lässt sich das kaum bis gar nicht mit ihrem neoliberalen Menschenbild vereinbaren. Denn offensichtlich geht man unter anderem davon aus, dass arbeitslose Menschen nur dann Interesse an einem Wiedereinstieg ins Erwerbsleben haben, wenn man ihnen in regelmäßigen Abständen das Arbeitslosengeld kürzt. Die NEOS selbst sprechen dabei von „degressiver Gestaltung“, denn nur eine solche „motiviert zur raschen Jobaufnahme“.
Wenn man das Ganze nun ein wenig weiter spinnen würde, könnte man sogar zu der Auffassung kommen, dass man durchschnittliche Arbeiter*innen und Angestellte generell ein wenig als Faulenzer betrachtet. Denn vor der Gefahr der Arbeitslosigkeit sind die wenigsten gefeit, und jeder der einmal über längere Zeit beim Arbeitsmarktservice vorstellig war weiß, dass das in Österreich weder finanziell sonderlich ergiebig ist, noch stressfrei über die Bühne geht. Die wenigsten erwerbsfähigen Personen dieses Landes haben folglich ein Interesse daran, länger als nötig ohne Job dazustehen, weil sie ohne Job langfristig keinen würdevollen Lebensstandard aufrechterhalten können. Keine Ahnung, wie es euch dabei geht, aber zumindest ich will mir im Falle des Falles nicht zynischerweise noch anhören lassen müssen, dass mich nur die sukzessive Kürzung einer mir zustehenden Versicherungsleistung davor schützt, nicht mehr ins Erwerbsleben einzusteigen.
Genauso bedenklich wie das Menschenbild der NEOS in Bezug auf Arbeiter*innen und Angestellte ist ihr naiver Glaube an potenziell fair zahlende Unternehmen, sofern man diese nur lassen würde. Der große Aufhänger der NEOS ist dabei die Senkung der sogenannten Lohnnebenkosten (in weiterer Folge Sozialstaatsbeiträge genannt). Die Krux an der Sache ist jedoch, dass uns über 250 Jahre Kapitalismus gelehrt haben, dass die meisten Unternehmen primär daran interessiert sind, möglichst viel Geld zu scheffeln bzw. Gewinn zu machen. Sollten Arbeitgeber*innen in Zukunft also (noch) weniger Sozialstaatsbeiträge zahlen müssen, wäre es erfahrungsgemäß wohl ziemlich unwahrscheinlich, dass sie bis auf Ausnahmen plötzlich die Gehälter der Arbeitnehmer*innen in adäquatem Maße hochschrauben würden. Im Gegenzug würde eine Senkung der Sozialstaatsbeiträge aber auf Kosten des ohnehin schon angeschlagenen Gesundheits-, Pensions-, Unfalls-, und Arbeitslosenversicherungssystem gehen. Es hätte also letztendlich nicht nur negative Auswirkungen auf ausnahmslos alle Arbeiter*innen, Angestellte und Arbeitslose, sondern ebenso auf Pensionist*innen. Letztere sollten allerdings ihren wohlverdienten Ruhestand im „Neuen liberalen Österreich“ dann besser sowieso erst mit 69 Jahren antreten, sofern sie keine saftigen Abschläge riskieren wollen. Auf die Frage, wie eine Senkung der Sozialstaatsbeiträge gegenfinanziert werden könne, verlieren sich die NEOS übrigens in schwammigen Schlagworten wie „Strukturreformen“ oder „Digitalisierungsmaßnahmen“. Die traditionell linke Forderung nach einer Erbschafts- oder Vermögenssteuer treibt den NEOS dabei im Regelfall bloß ein müdes Lächeln ins Gesicht. Zumindest die Stimmen der 400 österreichischen Supereichen, die bereits mehr als ein Drittel des heimischen Finanzvermögens besitzen, sowie ein Großteil der Stimmen der circa 50 000 österreichischen Millionäre, dürften ihnen demnach recht sicher sein.
Klar, die NEOS versuchen hip und modern zu erscheinen. Sie haben weder etwas mit dem offensichtlichen Rassismus der FPÖ am Hut, noch mit dem spießig-klerikalen Familienbild der ÖVP. Sie setzen sich für LGBTIQ-Rechte ein, haben vermutlich auch nicht weniger Veganer*innen unter ihren Mitgliedern als die Grünen, und sprechen sich sogar einigermaßen glaubhaft für eine transparente Justiz und mehr Inklusion von Menschen mit Behinderung aus. Doch bevor meine wiedererstarkenden Seriositätsschmerzen endgültig mein Hirn implodieren lassen, möchte ich noch einmal Folgendes hervorheben: Die NEOS sind und bleiben eine wirtschaftsliberale Partei! Ihr Hauptklientel ist keine irgendwie geartete Minderheit im Sinne religiöser, ethnischer oder sexueller Kriterien. Es handelt sich explizit nicht um eine Bevölkerungsgruppe, die eines besonderen Schutzes bedarf, sondern im Wesentlichen um Wirtschaftstreibende und Vermögende. Die NEOS postulieren, dass ökonomischer Erfolg sowie damit verbundener Reichtum einzig und alleine ein Produkt persönlicher Leistung ist. Wichtige Faktoren wie soziale Herkunft, Bildungszugang oder diverse Diskriminierungsformen werden dabei weitgehend außer Acht gelassen. All dieses Denken behebt keine Ungleichheiten, sondern festigt sie erst recht. Wenn ihr also nicht zu den ohnehin Höherprivilegierten dieses Landes gehört, lasst die Finger von dieser Partei, denn NEOS aint no way of life…