Wortmülldeponie
Joachim Hainzl ◄
„Am 29. September sind in Österreich bekanntlich Nationalratswahlen. Wieviel auf dem Spiel steht und was möglich ist, sehen wir dieser Tage rund um den Globus. Aber, was bedeutet das konkret?“, so lässt der ausreißer fragen.
Die Qual der Wahl
Es gibt tatsächlich Vieles, was ich zum Thema sagen möchte. Etwa, dass ich mich in den letzten Jahren mehr und mehr politisch heimatlos fühle. Früher, da gab es zum Beispiel in Deutschland und Österreich politische Listen, die sich (im Gegensatz zur AfD) für gesellschaftspolitisch eher linke Alternativen eingesetzt hatte, etwa für Menschenrechte, Vielfalt und wohl auch einige entweder bereits realisierte Ideen oder Anliegen, die heute noch utopischer erscheinen als vor 20 oder 30 Jahren. Verschmolzen mit einer bürgerlichen Ökobewegungen, hat man sich diese Partei in Österreich thematisch immer mehr auf umweltrelevante Themenstellungen verengt und, zuletzt in den Jahren als ÖVP-Regierungs“partner“, einen Realo-Pragmatismus an den Tag gelegt, der für mich persönlich zum Abgewöhnen ist (dabei kann ich mir vorstellen, dass die Volksvertreter*innen der Bundespartei mir in einem vertrauten Gespräch erzählen würden, wie wichtig ihre Arbeit war, da sie es hinter den Kulissen geschafft hätten, viele der geplanten Grauslichkeiten der größeren Regierungspartei zu verhindern). Soll ich dann eine der anderen Kleinparteien wählen, die mir angesichts ihrer Ideen oder Ideologien nahe zu stehen scheinen? Auch hier gibt’s mir zu viele Widersprüche oder thematische Verengungen. Also strategisch eine SPÖ mit Andreas Babler an der Spitze wählen, um sie für eine Koalition (mit wem?) zu stärken?
Verfahrenszentren außerhalb Europas
Die Gretchenfrage bei dieser Wahl ist der Umgang mit Migration, zumeist verkürzt auf Asylsuchende. Wer sich hier zu „offen“ gibt, wird wohl kaum Stimmen (dazu)bekommen. Also spricht sich die SPÖ in ihrem Kaiser-Doskozil-Papier1 für „europäische Verfahrenszentren an den EU-Außengrenzen“ aus und plädiert in der Folge für den Aufbau von „Verfahrenszentren außerhalb der Europäischen Union […], mit dem Ziel, die gefährliche Flucht über das Mittelmeer zu verhindern und dem Schlepperwesen die Geschäftsgrundlage zu entziehen. Asylverfahren können dann außerhalb Europas entsprechend des gemeinsamen europäischen Asylrechts abgewickelt werden.“ Das faschistisch regierte Italien baut Aufnahmezentren in Albanien, die EU insgesamt zahlt einen Haufen Geld an die autokratische Türkei und das vormals Tory-regierte Vereinigte Königreich dachte dabei schon an Ruanda. An welche Länder „außerhalb Europas“ (also noch weiter weg als europäische Nicht-EU-Staaten“) denkt die SPÖ?
Ich glaube, es war schon Mitte der 1990er-Jahre, als EU-Skeptiker:innen kritisierten, dass die Europäische Union zwar zu einer Öffnung innerhalb der Mitgliedsstaaten führen würde, es jedoch zur Abschottung der „Festung Europa“ gegenüber dem Rest Europas kommen würde. Und tatsächlich basiert der Noch-Wohlstand unserer überalterten Gesellschaft auch darauf, dass wir möglichst niemanden daran partizipieren lassen möchten. Zuwanderung von Menschen aus so genannten Drittstaaten sollte möglichst vermieden werden, sodass zumeist nur der Hilferuf um Asyl, akuter Arbeitskräftemangel oder die billige Verfügbarkeit von (weiblichen) Arbeitskräften (etwa im Pflegebereich) die Grenzen widerwillig öffnete. Mehr denn je reden heute rechte und rechtskonserative Parteien selbstbewusst der Abschottung das Wort reden. Hingegen darf der Kapitalismus grenzenlos agieren und expandieren. Wer von uns und wer von den Anhänger:innen rechter und rechtsextremer Parteien trägt tatsächlich nur Gewand, produziert in der EU, wer von uns und den Anhänger:innen rechter und rechtsextremer Parteien fährt nur Autos, nutzt nur Handys und PCs und andere Konsumgüter, die ausschließlich in der EU hergestellt werden? Wie wäre es etwa unseren österreichischen Banken ergangen ohne die Kolonialisierung der ost- und südosteuropäischen Märkte, bis hin zu Russland und der dort weiterhin gewinnbringend aktiven Raiffeisenbank? Solange wir in der Europäischen Union unseren Wohlstand daher weiter auf Ausbeutung der restlichen Welt (seien es Bodenschätze, Arbeitskräfte oder Wirtschaftsmärkte) (aus)bauen, erscheint jeder Abschottungsgedanke gegenüber Menschen aus eben diesen ausgebeuteten Ländern, die an unserem Wohlstand teilhaben wollen, heuchlerisch und frivol.
„Gleich zum Schmied und nicht zum Schmiedl …“
… so lautet ein Sprichwort, das mir seit vielen Jahren immer wieder einfällt, wenn es um die ÖVP geht. Immer noch schockiert es mich, wenn sich ÖVP-Politiker:innen, die ich eigentlich gesellschaftspolitisch eher liberal eingeschätzt habe – wohl angesichts von Umfrageresultaten – veranlasst sehen, die Hardliner herauszukehren. Da sie dadurch aber den FPÖ-Sagern zum Verwechseln ähnlich klingen, dürfte das eher zur Bestätigung einer Wahlpräferenz für die FPÖ führen, als dass Nicht- oder Wechselwähler:innen diese Hardlinerpolitik „der Mitte“ unterstützen würden.
Als ich gestern mit dem Rad im Bezirk Graz Umgebung unterwegs war, fühlte ich mich übrigens, als ob ich bereits in einem Einparteienstaat leben würde. Außer den omnipräsenten plakatierten „5 guten Jahren“ und dem Antlitz jenes Mannes, der vorgibt, als einziger auf der Seite seines Volkes zu stehen (was ist dann eigentlich mit dem Rest seiner Partei?), habe ich nur ganz wenige versprengte Plakate anderer wahlwerbender Parteien gesehen. Wie gibt es sowas?
Rechtsextreme Blüten
Wie sehr sich Rechte und Rechtsextreme schon gleichsam „staatsmännisch“ geben und siegessicher fühlen und wie sehr sie nun wieder dem politischen Instrument der demokratischen Wahl vertrauen, zeigte mir vor wenigen Tagen ein Flugblatt der Gruppe „Rot-weiß-rote Rose“, das bei mir im Briefkasten gelandet ist. Auch wenn das Wort nicht vorkommt, so geht es inhaltlich um ein Warnen vor einer „Umvolkung“ (Zitat: „Wir sind die letzte Generation an autochthonen Österreichern“), um nicht zur „Minderheit im eigenen Land“ zu werden.
Dieses Flugblatt ist auf so vielen Ebenen verstörend, das beginnt schon dabei, dass so etwas überhaupt in meinem Briefkasten landen konnte und sich zudemmit dem Namen, den sich seine Verfasser auserkoren haben, über die in der NS-Zeit aktive deutsche Widerstandsgruppe „Die Weiße Rose“ lustig macht. undganz selbstverständlich rechtsextreme Ideologien verbreitet werden. Aber auch der , der Umstand, dass man von dieser absolut rechtsrechten Perspektive aus, einer im Parlament vertretenen Partei (und damit kann ja nur die FPÖ gemeint sein) das Vertrauen ausspricht: „Wir wollen, dass alle Parteien Remigration unterstützen – aber aktuell gibt es nur eine!“
Es ist also davon auszugehen, dass bei dieser Nationalratswahl die meisten Wähler:innenstimmen jener Partei gegeben werden, die – und das war in der Vergangenheit nicht immer so – auch das Vertrauen der Rechtsextremen besitzt. Was der AfD in Deutschland bisher nur auf Bundeländerebene gelang, wird der ähnlich orientierten FPÖ in Österreich auf Staatsebene gelingen.
Und wird die FPÖ auch in die Regierung kommen? Ich wüsste nicht, warum nicht. Kann sich eine vermutlich nach der Wahl stimmenanteilsmäßig geschwächte ÖVP der Chance verschließen, das vor Ibiza begonnene Regierungsprojekt mit der FPÖ weiterzuführen? Es war dies eine ÖVP/FPÖ-Regierung unter einem von manchen schon fast angebeteten Bundeskanzler Sebastian Kurz, die bereits klar den Weg aufgezeigt hatte, wohin uns der Umbau der Zweiten Republik führen wird. Zwar gab es in den letzten Jahren dieses kleines Intermezzo, ausgelöst durch angeheiterte FPÖ-Politiker im fernen Ibiza und in der Folge etwas verzögert durch Corona.Aber bedeutete jenes Fernhalten der FPÖ vom Regieren auf Bundesebene tatsächlich, dass sich an der politischen Einstellung vieler etwas geändert hatte? Bedeutete es, dass sich FPÖ- und Kurz-Wähler:innen nunmehr „geläutert“ sahen? Im Gegenteil. Der Ausgang der kommenden Nationalratswahl scheint daher recht vorhersehbar. Eine siegessichere FPÖ wird wohl die meisten Stimmen bekommen. Eine ÖVP, die auf Länderebene schon zeigt, wie es sich mit der FPÖ regiert und wie viele inhaltliche Überschneidungen es da gibt, wird, etwa unter dem Ansatz „im Interesse des Landes“ mitregieren.
„Euer Wille geschehe“
Nicht wenige meiner Bekannten und Freund:innen zeigen sich gänzlich verständnislos, wenn es darum geht, die Entscheidungen von Wähler:innen rechter bzw. rechtsextremer Parteien nachzuvollziehen. Und damit meine ich klarerweise nicht, dass man ihnen Sympathie, Akzeptanz oder gar Zustimmung entgegen bringen sollte. Etwas verstehen zu wollen ist nicht zu verwechseln, für etwas Verständnis aufzubringen! Um eine Bombe entschärfen zu können, muss ich verstehen, wie sie funktioniert, aber ich muss sie absolut nicht mögen. Meiner Ansicht kann ich gegen etwas nur antreten und alternative Wege aufzeigen, wenn ich die Gemüts- und Motivationslage dieser immer größer werdenden Gruppe von Menschen auch ansatzweise zumindest versuche zu verstehen? Was hilft es, wenn ich sie lediglich als überfordert, verängstigt, dumm und ungebildet betrachte? Und Wähler*innen rechter Parteien sind ja auch gar nicht so schwer zu durchschauen. Es mag jetzt irritierend klingen, aber ich empfehle Antifaschist:innen zu Forschungszwecken die Lektüre jenes Werkes eines Österreichers, das er vor rund hundert Jahren, nach einem von ihm mitverantworteten misslungenen rechten Putschversuch in München, während seines Gefängnisaufenthaltes verfasste und das inzwischen auch als kritisch kommentierte Ausgabe im Internet zu finden ist. Wer eine Bombe entschärfen will, muss ja auch erst einmal kapieren, wie sie tickt. Die Schilderungen dieses kleingeistigen Mannes aus der oberösterreichischen Provinz, der in die multikulturelle und vielsprachige Stadt Wien kommt und ausbreitet, wie fremd er sich doch ob des migrantischen Einflusses von Tschech:innen, anderen Slaw:innen und Juden und Jüdinnen im eigenen Land fühlt, sind nicht so weit weg vom Inhalt des Flugblatts in meinem Briefkasten und den Aussagen von Leuten, die ich in den letzten Jahren immer wieder mitbekommen musste.
Wenn ich mich an meine Kindheit am Land und an meine Jugendzeit zurückerinnere, wie war es damals gesellschaftspolitisch? Mit einer Verwandten stritten wir immer wieder, da wir im Radio statt Ö-Regional auf Ö3 umgestellt hatten. Das aber regte sie so auf, da sie keine „N.-musik“ hören wollte. Und wie viele an schwulenfeindliche und sexistische Sagern musste ich mir von Verwandten und Bekannten anhören? Wer erinnert sich übrigens noch an den katholischen „Pornojäger“ Martin Humer? Dem würde wohl beim Anblick vieler Jugendlicher heutzutage, deren Auftreten auf Social Media und dem Ausmaß von Online-Pornographie übel werden. Immer schon, soweit ich mich erinnern kann, gab es also reaktionäre Meinungen und Ansichten in meinem persönlichen Umfeld, auch über „Sozialschmarotzer“, „Ausländer“ und alle anders Wirkenden oder Aussehenden. Soll sich an diesen Einstellungen und Überzeugungen Vieler tatsächlich Gravierendes geändert haben?
Ein Zeitfenster schließt sich
Was es gab, war – und ich bin froh, diese kurze Zeit gesellschaftlichen Aufbruchs teilweise miterlebt zu haben – ein kurzes Zeitfenster, so in etwa vom Ende der 1960er- bis zum Beginn der 1990er-Jahre, wo es in bestimmten Bereichen einen gesellschaftlichen Aufbruch gab, auch in Österreich. In dieser Zeit konnten Frauen, Transgender, Homosexuelle, Kinder und Jugendliche, Anhänger:innen gewisser religiöser Überzeugungen, Alleinerziehende, Geschiedene, Bettelnde, Vegetarier:innen etc. sich vermehrt gesellschaftlichen Respekt erkämpfen, der sich auch in rechtlichen Besser- oder sogar Gleichstellungen niederschlug. Für all jene, die sich zu einer Mehrheit der „Normalen“ und „Anständigen“ zählten, muss dies ein riesiger Schock gewesen sein. Plötzlich war es verpönt oder konnte man sogar angezeigt werden, wenn man sich rassistisch, sexistisch oder anderswie diskriminierend verhielt. Und dann vor wenigen Jahren wurden die „Abnormalen“ gar zu den groß Gefeierten, als ein Mann in Frauenkleidern für „unser“ Österreich den Songcontest gewann. Inzwischen spielen für „unser“ Österreich plötzlich Schwarze, Gastarbeiterkinder und Muslime in der Fußballnationalmannschaft. Was früher als „normal“ galt, scheint heute out, man wird als rückständig, verzopft, konservativ oder „von Gestern“ betrachtet und fühlt sich einer „Diktatur der Minderheiten“ und ihren Unterstützer:innen mit vermehrtem politischen Einfluss ausgeliefert. Wird einem/einer von diesen doch alles, was bis jetzt ach so „normal“ war, nun verboten oder madig gemacht: Stellenausschreibungen müssen für „m/w/d“ formuliert werden, Frauen darf nicht mehr auf den Hintern getatscht werden, Rauchen darfst du auch kaum mehr und das nichtsnutzige Betteln soll gar ein Menschenrecht sein.
Egal wohin auf der Welt man sieht (und die USA scheinen hierbei, etwa mit dem Wiedererstarken konservativer christlicher Kreationist:innen, ein „gutes“ Beispiel zu sein), überall scheinen reaktionäre „Konservative“ sich die gesellschaftsgestaltende Macht zurückzuholen. Und jenen „Fortschrittlichen“, die sich bei uns für Pluralismus und Vielfalt einsetzten, hielt man schon bald nach der letzten Fluchtbewegung vor neun Jahren hämisch die vermeintlichen Ergebnisse ihrer offenen Grenzen vor und diffamierte sie als „Bahnhofsklatscher“.
Es wird ein langer, kalter Winter werden
Auch wenn man mit historischen Vergleichen vorsichtig sein sollte: auf die Moderne und den damit verbundenen gesellschaftlichen Aufbruch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts reagierten die Massen der „Normalen“ in den 1920er- und 1930er Jahren, indem sie rechtsextremen, faschistischen und anti-pluralistischen Massenbewegungen bei Wahlen ihre Stimme gaben. Ähnliches scheint sich in Europa gerade zu wiederholen. Eine rechtsextreme Partei darf heute, auch in Österreich, darauf vertrauen, dass sich anscheinend genug Wähler:innen ungerecht behandeltfühlen und – auch diesmal unter Einsatz von Feindbildern – einen politischen Umbruch herbeiführen werden.
Angesichts fehlender Erfolgsmodelle, positiver Zukunftsszenarien bzw. innerer Geeintheit werden fortschrittliche Parteien es meiner Befürchtung nach für längere Zeit sehr schwer haben, dem gesellschaftlichen Rechtsruck tatsächlich politisch etwas entgegenzusetzen. Darum heißt es, sich warm anzuziehen. Denn der kommende politische Winter wird ein langer und ein kalter werden.
1 (zu finden unter: https://www.spoe.at/themenbeitrag/positionspapier-flucht-asyl-migration-integration/)