Interview mit David Kranzelbinder ◄
ausreißer: Deine fotografischen Schwerpunkte liegen im Kultur-, Reise- und Sozialbereich, gleichzeitig bist du als künstlerischer Leiter im Pavelhaus bei Bad Radkersburg tätig. Als 2015 tausende Menschen an der slowenisch-österreichischen Grenze ankamen, warst du von Anfang an vor Ort – als Fotograf, als Anrainer, als Helfer? Wie hast du die Lage zu Beginn wahrgenommen?
David Kranzelbinder: Eigentlich verstehe ich mich als der Streetart- und Dokumentarfotografie zugehörig. Da ich an der Grenze aufgewachsen bin und die Dekonstruktion dieser Grenze auch beruflich zu einer meiner Hauptaufgaben gehört, dokumentiere ich diese sozusagen ständig. Spielfeld war eine globale Ausnahmesituation. Durch die sozialen Aktivitäten meiner Mutter wurde mir dieses Engagement quasi in die Wiege gelegt und als Bewohner der Region fühle ich mich persönlich dafür verantwortlich, was die humanitäre Situation in ihr und im Gebiet auf der slowenischen Seite betrifft. Das war der Hauptgrund nach Spielfeld zu fahren – um zu helfen und sich ein Bild zu machen. Als Fotograph*in (wie in jedem anderen Beruf auch) hat man, finde ich, eine moralische Verpflichtung, seine Möglichkeiten einzusetzen – und so habe ich quasi nebenbei auch dokumentiert. Ich habe die Lage als menschenunwürdig, katastrophal und höchstgradig fahrlässig und gefährlich wahrgenommen. Dort an der Grenze zu stehen und quasi als erste Person für viele das gesamte Land zu repräsentieren, war in diesem Fall gelinde gesagt beschämend. In Gedanken sagte ich den Menschen, die verwirrt danach fragten, wie es weitergehe: Es tut mir so leid, dass ihr hier im Dreck stehen müsst! Dass dieses zu den reichsten Ländern der Welt gehörende Staatswesen hier so erbärmliche Symbolpolitik betreibt. Keine Zelte für die Wartenden bei Minusgraden. Keine WCs im sogenannten Niemandsland. Frauen, die ihre Kinder im Dreck wickeln müssen. Ich dachte, das ist Österreich? Das hat unsere Kultur zustande gebracht? Mir war schwindlig vor Scham. Ich dachte an all jene Politiker*innen, die eigentlich hier stehen müssten. Kanzler, Aussen- und Innenminister. Ich dachte, du Bundespräsident mit deinem Oberbefehl, kannst hier keine drei Gulaschkanonen aufstellen und ein paar Zelte? Aber wichtiger als meine selbstverlorenen Gedanken war das Schicksal der Menschen. Wir haben zum Teil zu dritt für 2000 Menschen gekocht. Es hat ihnen vor allem an Klarheit gefehlt, wie es weiter gehen würde und diese Stunden haben wir bei klirrender Kälte geteilt. Wir haben ganz vorne Bananen verteilt und versucht, Mut zu spenden und zu informieren, so gut wir konnten.
ausreißer: In deinen Fotos spiegelt sich diese Haltung, finde ich, wider, indem du diese Scham sozusagen in cinemascope abbildest, die Kälte, den Dreck, die Verlorenheit richtiggehend aufspannst, aber andererseits wiederum ganz nah dran bist an den Menschen, Porträts fotografierst, Gefühlsregungen einfängst, verängstigte Blicke, erleichtertes Lächeln, Gedankenverlorenheit. Wann greifst du in so einer Situation zur Kamera und wann zum Suppenschöpflöffel? Versuchst du, zwischen deiner Rolle als Fotograf und der des Helfers irgendeine Trennung zu schaffen oder geht das, eben wegen der angesprochenen moralischen Verpflichtung und deinem klaren politischen Statement, für dich nahtlos ineinander über?
Kranzelbinder: In dieser Ausnahmesituation war es für mich selbst nicht wirklich zu kontrollieren, was ich wann und wie gemacht habe. Die Situation in Spielfeld war für alle eine Überforderung. Für die 24jährigen Fallschirmspringer des Bundesheeres direkt an der Grenze wie für die Polizei und das Rote Kreuz dahinter. Wichtig war mir der persönliche Kontakt zu allen, ein gegenseitiges Sehen und Gesehen werden. Wir hatten einen Freund aus Syrien abgeholt, der auch als Dolmetscher geholfen hat. Gleich zu Beginn erzählte er uns, dass gerade sein Onkel und drei Cousins durch einen russischen Bombenangriff auf einem Marktplatz am helllichten Tag getötet worden waren.
Ich habe mich an diesem 1. 11. 2015 von 5 Uhr morgens bis 11 Uhr vormittags im sogenannten „Niemandsland“ mit den Schutzsuchenden befunden. Da ist eine Nähe entstanden, die mir wichtig war, bevor ich in dieser Situation Portraits gemacht habe. Wir haben einander so weit es ging gekannt und gemeinsam nicht gewusst, wann was passieren und es endlich weiter gehen würde. Eindrücklich in Erinnerung ist mir geblieben, wie ein junger schutzsuchender Mann, der mir meine Verzweiflung angesehen hat, verstehend, tröstend auf die Schulter geklopft hat. Die Gespräche mit den PolizistInnen, Soldaten, der Militärpolizei und dem Roten Kreuz waren dabei genauso wichtig. In dieser Anfangssituation ist es uns allen irgendwie ähnlich gegangen. Es ist nicht einfach, sich verantwortlich zu fühlen und vermeintlich nichts tun zu können, um zu helfen. Was ich mir über die Jahre als Photograph erarbeitet habe, hat in diesen Momenten einfach funktioniert. Ich werde es nie vergessen, als ich die Kamera gegen elf aus der Hand legte. Es war für mich gleichzeitig, als hätte ich das erste Mal photographiert und ganz stark, als hätten sich diese Photos von selbst gemacht. Wichtig ist abzuschätzen, was es braucht, unmenschliche Zustände zu beenden. Dafür braucht es manchmal den Kochlöffel, manchmal die Kamera oder den Computer, um ein Mail zu schreiben. Im letzten Jahr, als Schutzsuchende in zu wenig geheizten Zelten bei Minusgraden zum Teil wochenlang schlafen mussten, haben sich viele Menschen aus dem Kulturbereich öffentlich dafür eingesetzt, diese Zustände zu beenden. Kurz gesagt es gibt für mich keine Trennung, beides dient dem gleichen Ziel.
ausreißer: Manche Bilder von 2015 und 2022 scheinen einander sehr ähnlich, und doch ist die Situation heute eine ganz andere als vor acht Jahren. Wie ging es dir, als du letzten Winter an die Grenze kamst und wie wurden und werden diese Entwicklungen unmittelbar vor Ort für dich sichtbar?
Krenzelbinder: Letzten Winter als Schutzsuchende nach Spielfeld kamen, machte ich wieder Besuche vor Ort, um zu sehen, wie die Situation ist. Mit einer großen Thermoskanne Tee fuhr ich nach Spielfeld, es war klirrend kalt und ich konnte nicht fassen, wie glücklich die Menschen bloß mit dem Tee waren. Da kam auch bald Petra, Juristin und Helferin, viele kannten sie bereits und riefen ihren Namen freudig. Ich konnte wieder in die Beobachter-Rolle schlüpfen. Anhand der Armbänder [Anm. d. Red.: Jede*r Ankommende bekam ein Papierarmband mit Nummer in der Reihenfolge des Eintreffens bzw. der Registrierung.] konnte sie ablesen, wer bereits wie lange da war. Einige harrten schon über 14 Tagen in den Zelten aus. Petra verteilte Essen, die jungen Menschen waren augenscheinlich unglaublich hungrig und froren. Die aktuelle Situation wurde besprochen. Unbehandelte Verwundete zeigten ihre Verletzungen. Es wurde über Kranke und andere Verletzte geredet. Viele hatten nur Flipflops an. Petra hat Schuhe und Jacken verteilt. Eine Liste mit notwendigen Dingen wurde erstellt, Nummern ausgetauscht. Soweit möglich hat Petra die Menschen aufgeklärt, wie es weitergehen würde. Die Polizei hat bei Fragen oder Verständnisproblemen nach ihr gerufen. Dann begann sich ein Netzwerk zu bilden und aktiv zu werden. Freiwillige haben über Wochen die Situation beobachtet und koordiniert, was vor Ort am nötigsten gebraucht wurde. Sie haben Kleidung und Essen gesammelt und gezielt verteilt. Menschen mit teils schweren Verletzungen ins Krankenhaus und zurück gefahren. Die Medien wurden langsam auf die Situation aufmerksam und ein öffentlicher Druck entstand – der dann, denke ich, zur Verbesserung der Situation beigetragen hat. Es wurde endlich in den Zelten warmes Essen ausgegeben und zusätzliche Heizkanonen installiert. Die Schutzsuchenden bestätigten uns, dass es plötzlich warm war in den Zelten. Allmählich entspannte sich die Lage. Einige der Schutzsuchenden waren über drei Wochen in den Zelten. Wir kannten uns und ihre Verzweiflung war sehr groß. Ich glaube, dass vor allem der gemeinsame Einsatz vieler Kulturinitiativen zu einer wichtigen größeren Öffentlichkeit beigetragen hat. Mein großer Respekt gehört den Freiwilligen, die fast täglich vor Ort und für die Menschen da waren, den vielen Unterstützerinnen aus der Zivilbevölkerung. So wie öffentliche Aufmerksamkeit und Pressefreiheit es 2015 letztlich möglich gemacht haben, dass durch die Freiwilligenküche (des Vereins TWO) über zwei Monate Menschen mit warmem Essen versorgt wurden. Nach anfänglicher Berichterstattung in Radio und Printmedien war die nötige Rückendeckung und Öffentlichkeit da. So hat auch 2022 ein Zusammenspiel aus zivilem Engagement, Kulturarbeit und Journalismus viel zu den Verbesserungen der Situation beigetragen. Die Praxis, Menschen bei Minusgraden in Zelten unterzubringen, sollte wirklich der Vergangenheit angehören. Ich habe auch großen Respekt vor den Polizist*innen vor Ort, die diese Situation verwalten mussten. Es gab viele konstruktive Gespräche auf Augenhöhe.
ausreißer: Die Zelte, die 2015/16 aufgebaut wurden, stehen noch immer, sie sind Teil einer auch innereuropäischen Manifestierung von Grenzen geworden, die für Schutzsuchende immer schwieriger und fataler zu überwinden sind. Wo siehst du deine Rolle als Fotograf, als Aktivist, als Mensch in dieser Situation künftig?
Kranzelbinder: Nicht nur, dass die Zelte noch da sind – sie müssen, auch wenn sie leer sind, im Winter beheizt werden. Das ganze Kompendium wurde schon als teuerstes Freilichtmuseum Österreichs bezeichnet. Eine viel schlimmere Manifestierung neuer innereuropäischer Grenzen ist der sogenannte Grenzzaun zu Slowenien, der ebenfalls immer noch steht und mehr als nur ein Symbol ist. Künstlerisch und aktivistisch sehe ich es als unbedingt notwendig, auf diese Umstände hinzuweisen. Das hat auch der frühere Grazer Kulturstadtrat Helmut Strobl 2015 getan. Bei Dreharbeiten habe ich ihm die direkt an der Grenze lebenden slowenischen Nachbarn vorgestellt. Erschüttert darüber, dass ihnen genau vor ihrem Haus und ihrem Grundstück plötzlich ein Zaun hingebaut wurde, sagte einer von ihnen im Gespräch mit Helmut: „Seit wir hier leben gab es nie einen Zaun oder irgendwas anderes an der Grenze – und jetzt das! Ist das europäisch? Ist es das, was man unter EU versteht?“ Entschlossen entgegnete Helmut Strobl, heftig gestikulierend. „Nein, das ist nicht europäisch!“ Er hatte den Mut, sich in einer Zeit, in der politisch ein ganz anderer Wind wehte, für Menschlichkeit einzusetzen. Der Film „Mut zur Lücke“ beschäftigt sich mit diesem zivilen Widerstand, ebenso die Errichtung der Fahneninstallation „Borderline Syndrom“ von Erwin Posarnig. Kürzlich konnten wir zusammen mit Studio Asynchrome in einer Kunstinstalltion auf die Paradoxität dieses Zaunes hinweisen. Als Kulturarbeiter ist es für mich zentral, zur richtigen Zeit vor Ort zu sein, zu dokumentieren und zu reagieren. Aber die Fotos sind auch wichtig, um die historischen Traumata, die hier entstanden sind, zu therapieren. So wurden die Fotos in einer Installation auf Bauzäunen im Garten des Pavelhauses so ausgestellt, dass man sie nur von der Seite gegenüber durch den Zaun blickend sehen konnte. Genau wie die Situation in Spielfeld – wer wissen wollte was vor sich ging, konnte jederzeit hinschauen. Über 5 Jahre hing die Installation als Manifestation von Gedächtnis und Erinnerungsarbeit. Immer wieder wurden die Bilder von Stürmen heruntergerissen, bekamen Kratzer, vergilbten. Wie es auch mit unseren Erinnerungen geschieht, wenn man sich nicht darum kümmert. Ich habe diesen Prozess des Wiederaufhängens und Reinigens der Bilder dokumentiert. Viele Folgeprojekte, Ausstellungen, Filme (u.a. „3400 Semmeln“ von Heinz Trenczak) , Happenings, Führungen (kollektiv wir*) sind seither in Kooperationen entstanden und werden weiter entstehen.
ausreißer: Das scheint notwendig, denn die Grenzkontrollen zu Slowenien (wie auch zu Ungarn) wurden eben weiter verlängert, ähnlich wie an der bayerischen Grenze, obwohl dies im Schengenraum dauerhaft nicht zulässig ist …
Kranzelbinder: Ja, es ist dabei ganz wichtig, sich vor Augen zu halten, was das auch für die Menschen an der Grenze heißt. Für die meisten aus meinem Umfeld ist es wirklich traumatisch, dass hier wieder kontrolliert wird – und zwar nur auf österreichischer Seite. Wir haben so lange gehofft, dass diese innere Grenze unserer Region endlich dauerhaft einer überwundenen Vergangenheit angehört. Vor allem die slowenische Bevölkerung leidet unter dieser Grenze. Zu Coronazeiten etwa waren Tests in Slowenien nicht gratis und so mussten Slowen*innen quasi Eintritt bezahlen, um nach Österreich zu fahren. Selbst als die Zahlen in Slowenien viel besser waren als in Österreich und später, als man keine Tests mehr brauchte, wurden Menschen zurückgeschickt. Ich glaube man kann sich vorstellen, was diese Geste aussagt. Allein das Bild, dass in Österreich Militär an der Grenze steht, ist nicht nur beschämend, sondern ein nicht zu überschätzender kultureller Verfall.
Wir bleiben also wachsam und fordern Menschenrechte für alle Menschen sowie den Abbau von Grenzen und Mauern.
Oder wie es Nava Ebrahimi für das kollektiv wir * formuliert hat:
„Halte die Welt nicht auf Abstand, lass sie an dich heran, geh mit deinem Mitgefühl immer wieder an deine Grenzen, strapaziere dich mit Widersprüchlichkeit – und wenn es droht dich zu zerreißen, erinnere dich daran, dass alles zusammengehört, dass wir alle zusammengehören, lass das Band nicht reißen.“ausreißer: Danke für das Interview und deine Präsenz!