Aurélia Kalisky ◄
Wie überlebt man den Verlust aller Angehörigen und bewahrt gleichzeitig ihr Andenken? Wie lebt man in ihrer Abwesenheit, mit ihrer Abwesenheit, wenn nichts mehr von ihnen geblieben ist als die Erinnerung an sie und einige Fotos? Wie ist ein Leben möglich in einem Land, in dem man mit den Mördern Tür an Tür wohnen, koexistieren muss? Oder wie gestaltet es sich fernab der Heimat, in der Diaspora, in einer mehrfachen Fremde? Wie kann man als Kind nach dem Genozid in Ruanda oder in der Diaspora aufwachsen, spielen, sich eine Zukunft vorstellen und erträumen, wenn elementare Grundsätze des gesellschaftlichen Miteinanders zerstört wurden und das Vertrauen in die Menschheit unwiderruflich beschädigt ist?
Die Ausstellung Im Gedächtnis derer, die geblieben sind möchte dem österreichischen Publikum bestimmte Aspekte der Erinnerung an den Genozid aus der Sicht der Überlebenden nahebringen. Dieser jährt sich heuer zum 30. Mal – am 7. April, jenem Tag, an dem der Völkermord begann, wurde der Opfer gedacht. Um den Besucher:innen der Ausstellung zu ermöglichen, die Herausforderungen im Zusammenhang mit der Erinnerung an den 1994 in Ruanda begangenen Völkermord an den Tutsi zu verstehen, halte ich es für nützlich, einige Fakten über die Geschichte, die zum Völkermord geführt hat, und die Spannungen, die manchmal zwischen den Formen der Erinnerung und den Kontexten, in denen sie stattfinden, bestehen, zu erläutern.

Das fragile Gleichgewicht eines geteilten Gedächtnisses
Zwischen dem 7. April und dem 17. Juli 1994, also etwa 100 Tage lang, fand in Ruanda ein Völkermord an den Tutsi statt. Fast eine Million Menschen wurden getötet. Die extreme Geschwindigkeit erklärt sich durch die massive Beteiligung der Hutu-Zivilbevölkerung. Dieser geplante Massenmord war der Höhepunkt jahrzehntelanger Verfolgung und Massaker an den Tutsi, die auf einer von den Kolonialherren übernommenen ethnischen Perspektive beruhten. Die deutschen und später belgischen Entdecker, Missionare und Kolonialherren waren es nämlich, die eine starre ethnische Aufteilung der Bevölkerung in drei Gruppen (Hutu, Tutsi und Twa) vorgenommen hatten, obwohl die kollektiven Identitäten in Wirklichkeit viel komplexer und fließender waren. In Form einer sogenannten „antihamitischen“ Ideologie wurde die ethnische Sichtweise von den verschiedenen Hutu-Regierungen, die seit der Unabhängigkeit des Landes im Amt waren, radikalisiert.
Die ethnische Spaltung der Bevölkerung war ein wesentliches Instrument der Kolonialherrschaft gewesen und wurde nach der Unabhängigkeit von einer herrschenden Hutu-Klasse ausgenutzt, die sich mit Hilfe der ehemaligen Kolonialmächte, allen voran Frankreich, an der Macht halten konnte. Der Machterhalt war für sie umso wichtiger, als die große Tutsi-Gemeinschaft, die nach den pogromartigen Massakerwellen in den Jahren 1959, 1963 und 1973 in die Nachbarländer – hauptsächlich Uganda, Burundi und Kongo – ins Exil gegangen war, auf ihr Recht auf Rückkehr pochte. Der 1990 von der Ruandischen Patriotischen Front – einer in Uganda ansässigen Bewegung, die hauptsächlich aus Tutsi, aber auch aus Hutu-Gegner:innen der Machthaber in Kigali bestand – begonnene Krieg sollte die Rückkehr der Exilant:innen ermöglichen und einen politischen Wandel des Regimes hin zu einem Mehrparteiensystem und zur Demokratie herbeiführen. Dieser Krieg beschleunigte jedoch den Radikalisierungsprozess der extremistischen Hutu-Parteien, die sich an die Macht klammerten, und führte 1994 zum Massaker an allen demokratischen Hutu-Oppositionellen und zum Völkermord an den Tutsi.
Diese Formen des Gedenkens finden aber auch in Kontexten
statt, in denen die westliche Öffentlichkeit wenig über die
ruandische Geschichte und Kultur weiß und in denen es leider
allzu häufig zu Entgleisungen kommt, die auf einer rassistisch
geprägten Sichtweise oder auf der Verharmlosung,
Banalisierung und Relativierung des Völkermords in einem
afrikanischen Land beruhen.
Heute, 30 Jahre später, versucht dieses kleine Land in Zentralafrika, sich wieder aufzubauen. Die ethnische Ideologie, die den Völkermord verursachte, wird zwar von der RPF, die seit 1994 an der Macht ist, wirksam bekämpft, doch das Gleichgewicht bleibt sehr fragil. Das Land bereitet sich auf die Wiedereingliederung von Zehntausenden von Vollstrecker:innen des Völkermords vor, die nach den sogenannten „Gacaca“-Prozessen (kinyarwanda: „Rasen“) inhaftiert worden waren. Diese Volksgerichte, die ab 2001 eingerichtet wurden, waren von den früheren Dorfversammlungen inspiriert. Sie wurden organisiert, um alle mutmaßlichen Täter:innen des Völkermords zu verurteilen, mit Ausnahme der Planer:innen und der der Vergewaltigung Beschuldigten, die von konventionellen Gerichten oder dem Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda in Arusha abgeurteilt wurden.
Im heutigen Ruanda stellt die Gefahr eines Wiederauflebens der Ideologie, die zum Völkermord führte, eine ständige Herausforderung dar, die durch Genozid-Leugnungsdiskurse und Grenzkonflikte insbesondere im Kongo genährt wird. Das Gleichgewicht zwischen der Aufrechterhaltung des nationalen Zusammenhalts und der Berücksichtigung der Forderungen der einzelnen Volksgruppen bleibt eine echte Herausforderung. Außerhalb Ruandas hingegen sind trotz der eindeutigen Anerkennung des Völkermords an den Tutsi durch die Vereinten Nationen und der schrittweisen Ausweitung nationaler Gedenkgesetze, die Genozidleugnung unter Strafe stellen – wie beispielsweise in Frankreich, wo bereits mehrere Prozesse stattgefunden haben – Leugnungsthesen nach wie vor äußerst einflussreich und tarnen sich hinter der Forderung nach Meinungs- und akademischer Freiheit.
Erinnerung der Überlebenden und institutionalisierte Erinnerung
Die Überlebenden des Völkermords sind von diesen verschiedenen Problemen besonders betroffen. In Ruanda haben der öffentliche Diskurs und der seit 1994 eingeleitete Prozess der nationalen Versöhnung dem Gedenken an die Opfer und den Erzählungen der Überlebenden einen großen Platz eingeräumt. Der Völkermord nimmt somit eine wesentliche Position im Aufbau eines kollektiven Gedächtnisses und der nationalen Identität ein, die mit einer gemeinsamen nationalen Erzählung verbunden ist. In der Praxis leben die Überlebenden jedoch oft unter sehr schwierigen Bedingungen, die Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen, die sie in Anspruch nehmen können, scheinen in diesem zwar wirtschaftlich aufstrebenden, aber insgesamt armen Land unzureichend. Die von der Regierung geförderte proaktive Politik der Versöhnung und Vergebung stellt eine große Herausforderung dar, während es zu wenige Programme zur psychologischen Betreuung und Unterstützung gibt.
Wie kann unter diesen Umständen eine friedliche Koexistenz zwischen allen Gruppen und Gemeinschaften in Ruanda ermöglicht werden? Es ist wahrscheinlich der wichtigste Aspekt, in dem sich die Zeit nach dem Völkermord in Ruanda am deutlichsten von der Zeit nach dem Holocaust unterscheidet: In Ländern, in denen die direkte Beteiligung an der Ermordung von jüdischen Nachbar:innen auch massiv die lokale Bevölkerung einschloss – wie z. B. in Litauen, der Ukraine oder Polen – kehrten nur wenige Juden in ihre Heimatländer zurück. In Ruanda sind die Überlebende gezwungen, unter denjenigen weiterzuleben, die direkt an der Ermordung ihrer Angehörigen beteiligt waren. Die Situation ist eher mit anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vergleichbar, von denen einige nicht als Völkermord von der internationalen Gemeinschaft anerkannt wurden, die aber manchmal auf ähnliche Prozesse zurückzuführen sind, wie die Massaker in Indonesien 1965, der Völkermord an den Rohingas, der Völkermord in Kambodscha oder jener an den bosnischen Muslimen.
Die Formen der Erinnerung an den Völkermord an den Tutsi in Ruanda, sowohl innerhalb als auch außerhalb Ruandas, werden durch die zunehmende Internationalisierung der mit Massenverbrechen verbundenen Erinnerungsformen und insbesondere durch die Erinnerung an den Holocaust beeinflusst. Das erste Jahrzehnt nach dem Völkermord, zwischen 1994 und 2004, war geprägt von zahlreichen Initiativen der Überlebenden selbst, die sich in Überlebendenverbänden wie dem Verband der Witwen des Völkermords AVEGA zusammengeschlossen hatten. Manchmal auch in Zusammenarbeit mit den ruandischen Diaspora-Gemeinschaften, wie dem Verband IBUKA („Erinnere dich“), der zunächst in Belgien gegründet worden war, ab 1994 in mehreren europäischen Ländern und ab 1995 in Ruanda aktiv war und bald zum zentralen Verband wurde, der eine große Zahl lokaler Verbände vereinte. Die Vereine sind wichtige Gesprächspartner für die ruandischen Behörden und ermöglichen auch den Austausch mit anderen Gemeinschaften, die Opfer von Völkermord wurden, wie Juden und Armenier.
Unmittelbar nach dem Genozid entwickelte sich mit der Einrichtung von Gesprächsgruppen und kollektiven Mahnwachen ein mündliches Gedächtnis. Bestimmte Formen des öffentlichen Ausdrucks der traumatischen Erinnerung, insbesondere zum Zeitpunkt der Gedenktage zum Völkermord, stellen in der ruandischen Kultur, die normalerweise eine besondere Form von Diskretion vorschreibt, eine Einzigartigkeit dar. Im ersten Jahrzehnt bestand in einem Land, das buchstäblich mit Leichen übersät war, eine der Prioritäten der Überlebenden darin, nach den sterblichen Überresten ihrer Angehörigen zu suchen, damit diese würdevoll bestattet werden konnten. Ab Anfang der 2000er Jahre und der Einführung der Gacaca-Gerichte kam es zu einer allmählichen Institutionalisierung der Formen des Gedenkens, die sowohl auf spezifisch ruandischen Traditionen beruhten als auch sich an Erinnerungsformen orientierten, die mit anderen Völkermorden, insbesondere dem Holocaust, verbunden sind. Dieser Prozess hat jedoch auch zu kontroversen Erinnerungspolitiken geführt, wie z.B. die Entscheidung, menschliche Überreste an einigen Massakerorten auszustellen, oder öffentliche Wiederbegrabungszeremonien „in Würde“ (gushyingura mu cyubahiro) in dedizierten Gedenkstätten zu veranstalten, was manchmal im Widerspruch zu den Wünschen der überlebenden Angehörigen stehen kann.
Der Erinnerungsprozess ist also nicht ohne Spannungen: erstens zwischen „privater“ und öffentlicher Erinnerung, wenn die Herausforderungen dieser Erinnerung eminent politisch sind, die Überlebenden aber möglicherweise den Wunsch äußern, selbst über die Formen ihrer Trauer zu entscheiden. Zweitens zwischen lokalen Formen, die in einer ruandischen kulturellen Tradition verwurzelt sind, und „offiziellen“ Formen, die sich teilweise an Formen der Erinnerung an andere historische Katastrophen wie den Holocaust orientieren. Es muss jedoch anerkannt werden, dass sich der Dialog zwischen den spezifischen Gedächtnisformen in Ruanda und den mit westlichen Dritten entwickelten als äußerst produktiv erweisen konnte und Erinnerungspraktiken hervorgebracht hat, die man mit Michael Rothberg als „multidirektional“ bezeichnen kann, bei denen die Erinnerung an einen jüngsten Völkermord auf der Erinnerung an einen vergangenen Völkermord aufbauen kann. Unter den Ruanderinnen und Ruandern in der Diaspora sind zahlreiche Zeugnisse und Darstellungen des Völkermords entstanden, die an der Schnittstelle zwischen der ruandischen und der westlichen Kultur angesiedelt sind und zu einem großen Reichtum an Werken und Zeugnissen führen.
Diese Formen des Gedenkens finden aber auch in Kontexten statt, in denen die westliche Öffentlichkeit wenig über die ruandische Geschichte und Kultur weiß und in denen es leider allzu häufig zu Entgleisungen kommt, die auf einer rassistisch geprägten Sichtweise oder auf der Verharmlosung, Banalisierung und Relativierung des Völkermords in einem afrikanischen Land beruhen.
Zeug:innen über die Form ihrer Zeugenschaft entscheiden lassen

Wichtig ist, dass dem ruandischen Gedächtnis keine heterogenen und paradigmatischen Formen aufgezwungen werden, die auf die ruandischen Realitäten „übergestülpt“ und „projiziert“ werden. Denn nicht alle theoretischen Diskurse, Erinnerungs- und Zeugnispraktiken, die mit Bezug auf den Holocaust entwickelt wurden, sind zwangsläufig auch für Ruanda relevant, und die eigenen Praktiken der Ruander:innen, Zeugnis abzulegen, zu trauern und sich an das Erlebte zu erinnern, müssen berücksichtigt werden. Die Gruppenausstellung „Im Gedächtnis derer, die geblieben sind“ wurde mit dem Ziel konzipiert, der Einzigartigkeit der ruandischen Erinnerungen aus Ruanda sowie in der Diaspora den nötigen Raum zu geben, indem sie dem österreichischen Publikum die Möglichkeit bietet, mit den Gedanken, Erinnerungen und Reden derjenigen in Verbindung zu treten, die den Völkermord als Eltern oder als Kinder erlebt haben. Für mich, die ich seit vielen Jahren zu den kulturellen Formen der Erinnerung an Massenverbrechen, insbesondere zum Holocaust-Gedächtnis, forsche, war es äußerst wichtig, nicht nur den Überlebenden des Völkermords an den Tutsi eine Stimme zu geben, sondern auch Ruander:innen direkt in das Projekt dieser Ausstellung, die ihre eigene Geschichte betrifft, einzubeziehen.
Da ich das Glück hatte, in den letzten Jahren mit vielen Ruander:innen in Ruanda und in der Diaspora zusammenzuarbeiten, aber auch mit Menschen aus dem Westen, die sich produktiv mit der Geschichte und der Erinnerung an den Völkermord auseinandergesetzt haben, kam mir die Idee, Michèle Muller und Florence Prudhomme, die Gründerinnen von „Rwanda Avenir“, um ihre Teilnahme an dem Projekt zu bitten. Sie haben über zwei Jahrzehnte hinweg gemeinsam mit Ruander:innen Aktivitäten in Bezug auf lokale Erinnerungsarbeit entwickelt (siehe Interview mit ihnen). Die beiden haben vorgeschlagen, zum einen die Briefe von Witwen, die den Völkermord überlebt haben, und die Porträts ihrer vermissten Kinder auszustellen, die nun den Teil der Ausstellung „An die erloschenen Sterne“ bilden1, und zum anderen Kinderzeichnungen, die in der Jugendgalerie unter dem Titel „Bakame und Co.“ gesammelt wurden.
Diese Texte und Zeichnungen sind das Ergebnis der außergewöhnlichen Arbeit, die vor etwa zehn Jahren in Ruanda im Nachbarschaftshaus von „Rwanda Avenir“ im Stadtteil Imena in Kigali geleistet wurde. Die Briefe an die ermordeten Kinder, die in diesem Kontext entstanden, sind das Ergebnis eines therapeutischen Engagements, das künstlerisches Schaffen und heilende Imagination mobilisiert. Die entwickelten Erinnerungformen kann man als „hybrid“ bezeichnen, indem sie die kulturellen Traditionen vermischen und eine starke spirituelle Dimension beinhalten, um zu gedenken, sich zu erinnern und versuchen, die Verbindung zu den Toten über die gewaltsame Trennung des Völkermordes hinaus wieder herzustellen und die Trauer um die Angehörigen zu bewältigen. In den „Cahiers de mémoire“, aus denen diese Texte stammen und die in Frankreich veröffentlicht wurden2, erzählen die Überlebenden von ihrem Leben, wobei sie sehr oft auf ihre Vergangenheit lange vor 1994 zurückblicken, manchmal sogar auf die ihrer Eltern und Großeltern. Diese Erzählungen zeigen die Kontinuität der Verfolgung, der die Tutsi in Ruanda ausgesetzt waren, die Rolle der Straflosigkeit bei der Entwicklung einer kollektiven Kriminalität, wie es in Ruanda der Fall war. Und auf Seiten der Überlebenden eine Erfahrung, die von der Wiederholung traumatischer Episoden während des gesamten Lebens der Mitglieder der Tutsi-Gemeinschaft geprägt ist.
Die in Deutschland lebende ruandische Psychologin Esther Mujawajo brachte mich mit Ancilla Umubyeyi in Kontakt, nachdem ich ihr das Projekt einer Ausstellung über den Völkermord an den Tutsi in Ruanda für ein österreichisches Publikum erläutert hatte. Nachdem wir mit Ancilla gesprochen hatten, kamen wir zu dem Schluss, dass es für das Grazer Publikum besonders wichtig wäre, Überlebende des Völkermords, die 1994 noch Kinder waren und von denen einige heute in Österreich leben, durch ihre Porträts und Aussagen kennen zu lernen. Sie war es auch, die die Fotos und kurzen Texte sammelte und präsentierte, die unter dem Titel „Wir keimten für die Erinnerung an die Unseren“ zusammengestellt wurden, ein Titel, der das Wort eines der Zeitzeugen aufgreift, der sich Ancilla anvertraut hat. Als Echo auf den ersten Teil der Ausstellung, aber ohne sie zu kennen, hat sich eine der von Ancilla befragten jungen Frauen, Immaculée Steinlechner, ebenfalls dafür entschieden, einen Brief zu schreiben. Sie wendet sich darin nicht an ihre verschwundenen Verwandten, sondern an das Kind, das sie selbst vor dem Völkermord war. Dieses innere Kind und frühere Ich, das in gewisser Weise ebenfalls verschwunden ist, weil es von der menschlichen Gemeinschaft verraten und verlassen wurde, gilt es heute in die Gegenwart und ins Leben durch die Kontinuität der eigenen Erinnerung einzubinden.
Im Zuge der Sammlung von Porträts und Zeugenaussagen von Überlebenden schickte mir Ancilla eines Tages die Fotos eines Kindertransports, der noch während des Völkermords stattfand und den sie von der heute in Tirol lebenden Yvette Umuhoza erhalten hatte. Es handelt sich um Aufnahmen, die erst kürzlich dank der Forschungsarbeit von Beata Umubyeyi Mairesse in ihrem in Frankreich unter dem Titel Le Convoi (2024) veröffentlichten Buch wieder aufgetaucht sind. Obwohl es in Ruanda zahlreiche Rettungsaktionen gab, deren Geschichte dank der Arbeit von Historiker:innen immer besser bekannt wird, ist die Geschichte der Konvois der NGO Terre des Hommes wahrscheinlich die wichtigste: Zwischen dem 5. Juni und dem 3. Juli 1994 konnten mehr als 1000 Kinder ins benachbarte Burundi evakuiert werden. Die Verantwortlichen der Organisation in Ruanda, Alexis Briquet und Deanna Cavadini, hatten mit Hilfe des italienischen Honorarkonsuls Pierantonio Costa die Rettung mit dem Präfekten von Butare, Sylvain Nsabimana, ausgehandelt, der damit möglicherweise seine Straffreiheit im Falle einer Niederlage des extremistischen Hutu-Regimes sichern wollte. Es war die einzige Rettungsaktion, die sich speziell an Kinder und Waisen richtete, darunter einige Hutu, obwohl die große Mehrheit Tutsi-Kinder waren, deren Eltern ermordet worden waren.
Beata Umubyeyi Mairesse, die selbst von einem dieser Konvois gerettet worden war, hat lange nach Filmaufnahmen und Fotos gesucht, die zwischen Juni und Juli 1994 vom Transport gemacht wurden. Sie nahm auch Kontakt zu den Kindern auf, die wie sie durch diese Rettungsaktion am Leben geblieben waren. Yvette Umuhoza ist eines dieser Kinder, und sie war es, die den Wunsch äußerte, die Bildaufnahmen des Fotografen Lâm Duc Hiên auszustellen, die sie zum ersten Mal im vergangenen Frühjahr gesehen hat. Die Fotos zeigen den Moment, in dem sich ihr Überleben entschied, als sie von Milizionären und Militärs bedroht wurde, die die Tutsi-Kinder nicht entkommen lassen, sondern „die Arbeit vollenden“3 wollten.
Den Blick verantwortungsvoll gestalten und die Sensibilität schärfen

Die Fotos wurden in einem Moment äußerster Gefahr aufgenommen und zeigen uns die ernsten Gesichter von Kindern, die bereits das Schlimmste erlebt haben und von denen viele die Spuren der Schläge ihrer Peiniger mit Macheten und Knüppeln tragen. Lâm Duc Hiên erzählte4, dass er selbst, als er diese Aufnahmen als Begleiter des NGO-Teams machte, nicht vor der Gewalt der Mörder sicher war. Dass dieser Konvoi vom 18. Juni 1994 schließlich die burundische Grenze erreichen konnte, lag auch daran, dass die Anwesenheit eines BBC-Fernsehteams neben der NGO-Mitarbeiter ihnen eine gewisse Sicherheit bot. Beim Betrachten der Fotos sollte man sich vor Augen halten, unter welchen Umständen sie aufgenommen wurden. Yvette und alle Kinder, die wir auf den Bildern sehen, befinden sich in einer extrem gefährlichen Situation, was die Verantwortung des Betrachters, der Betrachterin, die/der wir sind, umso größer macht. Die Bilder werfen Fragen über unseren Blick als Westler:innen auf, die indirekt Zeugen von Verbrechen sind, die anderswo begangen werden und deren Bilder heute wie gestern in einem kontinuierlichen Strom auf unsere Fernseh- und Handybildschirme gelangen.
Das Foto aus dem Inneren des Lastwagens des Konvois ist umso erschütternder, als wir wissen, dass sich im hinteren Teil des LKW Beata Umubyeyi Mairesse und ihre Mutter versteckten, die beide zu alt waren, um offiziell Teil des Transportes zu sein.
Beata Umubyeyi Mairesse erinnert sich mit folgenden Worten an diesen Moment:
„Wenn der Lastwagen mit halb geschlossenen Türen fuhr, saßen wir im Halbdunkel und zogen einen Zipfel des Stoffes hoch, um zu atmen. Die Kinder wussten, dass wir da waren, sie wussten, dass wir uns vor den Augen der Mörder verstecken mussten, die an den Haltestellen im Halbdunkel lauerten. Vor jeder Schranke, an der die Milizionäre die Türen öffneten, um in den Lastwagen zu schauen, legten wir uns wieder unter die Lendentücher, bewegungslos, den Atem anhaltend, und die Kleinen in der letzten Reihe setzten sich auf uns“.5
Später in ihrer Erzählung reflektiert Beata Umubyeyi Mairesse den Status der Bilder, die von den Konvois aufgenommen wurden, mit folgenden Worten:
„Ich versuche, diese Fotos und Videos in das Bild einzuordnen, das sich der Westen 1994 von meinem Land gemacht hat. Welchen Platz können sie darin einnehmen? Sie wurden nicht von und für Ruander gemacht. Wenn ich darüber nachdenke, glaube ich nicht, dass damals auch nur ein einziges Foto von und für uns gemacht wurde. Sie waren für den Rest der Welt bestimmt. Die Welt sah uns durch ihre Journalist:innen, Fotograf:innen und humanitäre Helfer:innen. Ich kann mir vorstellen, dass diejenigen von uns, die sich bewusst waren, dass sie fotografiert wurden, hoffen mussten, dass dieser Blick uns retten würde. Denn die Existenz dieser Bilder war der Beweis dafür, dass die Welt wusste, was bei uns vor sich ging, und sie konnte das nicht zulassen, oder? Sie würde reagieren, die Welt, und das Morden stoppen. Es bedurfte nur des Willens und einiger angemessen bewaffneter Individuen mit einer Vollmacht, um das Töten zu beenden.
Die Welt begnügte sich damit, uns auf Hochglanzpapier und
im Fernsehen sterben zu sehen. Und wären nicht einige Ausländer,
einige Hutu, die uns versteckten und sich dem Befehl
zum Töten widersetzten, und der Sieg des RPF-Militärs gewesen,
wären wir völlig verschwunden und die Welt hätte,
nachdem sie uns mit weit geschlossenen Augen betrachtet
hatte, einfach weitergemacht.
Es war nicht so. Die Welt begnügte sich damit, uns auf Hochglanzpapier und im Fernsehen sterben zu sehen. Und wären nicht einige Ausländer, einige Hutu, die uns versteckten und sich dem Befehl zum Töten widersetzten, und der Sieg des RPF-Militärs gewesen, wären wir völlig verschwunden und die Welt hätte, nachdem sie uns mit weit geschlossenen Augen betrachtet hatte, einfach weitergemacht.
Noch lange nach 1994 sah sie uns durch diesen Blick. Die Ausländer hatten die Unterschriften der Bilder, die sie von uns gemacht hatten, allein verfasst. Ihr Blick, ihre Interpretation wurde zu unserer offiziellen Geschichte.
Aber heute, zwischen der Welt und uns, scheint es mir endlich, dass eine andere Geschichte möglich ist. Und dass es an uns, den Opfern von gestern, liegt, sie zu erzählen.
Ist es nicht an der Zeit, dass wir uns 30 Jahre nach den Ereignissen diese Fotos wieder aneignen, sie mit unserer Sprache beschriften, auf der Grundlage unserer Erfahrungen?“
Um den Überlebenden die Möglichkeit zu geben, ihre eigene Wahrnehmung des Völkermordes bis hin zu seinen gegenwärtigen Echos auszudrücken – Echos, die manchmal auch sensorisch durch Gerüche und Geräusche wahrgenommen werden –, wollte die Anthropologin Magnifique Neza, dass die Überlebenden ihr von der Erinnerung an den Regen im Frühling/Sommer 1994 in Ruanda erzählen. Der Regen als natürliches Element erschien als schützende Instanz, die den geflohenen Tutsi zumindest für einige Stunden am Tag Nahrungssuche und Ruhe ermöglichen konnte. Die Natur selbst bot in Form von Bananenstauden und Sorghumfeldern den lebensnotwendigen Schutz, um sich vor den Mörderbanden zu verstecken. Diese einzigartige Perspektive auf das sensorische und sehr konkrete Gedächtnis beinhaltet gleichzeitig eine metaphysische Reflexion über den Platz der Menschen in der Welt, während die Tutsi, die oft mit großen Bäumen verglichen wurden, nach den Ausdrücken der Mörder „verkürzt“, „abgeschnitten“ und zusammen mit ihren Kühen getötet werden sollten.
- Der Titel „An die erloschenen Sterne“ ist der 5 teiligen Sendung Rwanda 1999: revivre à tout prix entlehnt, die die französisch-ruandische Journalistin Madeleine Mukamabano 1999 der Situation in Ruanda nach dem Völkermord auf dem Radiosender France-Culture widmete. ↩︎
- Florence Prudhomme und Michèle Muller (Hg.), Cahiers de mémoire, Kigali, 2014, Paris 2017 und Id., Cahiers de mémoire, Kigali, 2019, Paris 2019. ↩︎
- Der Akt des Tötens während des Völkermords wurde mit dem euphemistischen Ausdruck der zu erledigenden Arbeit bezeichnet. Siehe das Buch von Jean Hatzfeld, Zeit der Macheten. Gespräche mit den Tätern des Völkermordes in Ruanda. Übersetzung Karl-Udo Bigott. Gießen 2004. ↩︎
- Im Juni 2024, auf einer Veranstaltung im Mémorial de la Shoah in Paris, hat er die Situation eindrucksvoll beschrieben:
https://www.youtube.com/watch?v=T_-IWnKf2W4 ↩︎ - Beata Umubyeyi Mairesse, Der Konvoi, Paris 2024. Die Zitate des Buches wurden aus dem Französischen von Aurélia Kalisky übersetzt. ↩︎