Florence Prudhomme und Michelle Muller ◄
Die Aktivitäten der NGO Rwanda Avenir, die 2004 von den beiden Französinnen Florence Prudhomme und Michèle Muller gegründet wurde, sind ein wunderbares Beispiel für die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Ruander*innen und Westler*innen bei der Erfindung hybrider therapeutischer Praktiken. Im Interview mit Aurélia Kalisky sprechen sie auch über den Prozess der Selbstrekonstruktion (twiyubaka), der darauf abzielt, die Gemeinschaft durch an Kinder gerichtete Aktivitäten zu stärken und die Überlebenden zu « reparieren », indem sie versuchen, sich mit der Erinnerung an diejenigen zu versöhnen, die so gewaltsam aus dem Leben und der menschlichen Gemeinschaft gerissen wurden. Die Ergebnisse dieser außergewöhnlichen Arbeit werden in zwei Teilen der Ausstellung präsentiert: „An die erloschenen Sterne“ und „Bakame und Co“.
Sie haben 2004 die NGO Rwanda Avenir gegründet – wie hat Ihre Arbeit begonnen?
Florence Prudhomme: Es war ein langer Weg, der von 2004 bis 2024 dauerte! Bei meinem ersten Aufenthalt in Kigali im August 2004 lernte ich Dr. Naasson Munyandamutsa (1959 – 2016) kennen, einen angesehenen ruandischen Psychiater, der sich leidenschaftlich und unermüdlich für die Überlebenden des Völkermords an den Tutsi eingesetzt hat, bei dem in 100 Tagen vom 7. April bis zum 4. Juli 1994 fast eine Million Menschen getötet worden waren. Anlässlich der zehnten Gedenkfeier in Paris im Jahr 2004 hatte ich ihn im Radio über das tragische Schicksal der Überlebenden zehn Jahre nach dem Völkermord sprechen hören.
Nach meiner Rückkehr aus Kigali gründeten Michelle Muller und ich die NGO Rwanda Avenir. Wir bauten unser Projekt auf und verfolgten es weiter, immer begleitet vom Austausch mit ihm, erhielten seinen Rat und profitierten von seiner Erfahrung und Präsenz.
Warum haben sie sich entschlossen, ein Nachbarschaftshaus zu bauen?
Im Stadtteil Imena in Kimironko (Kigali) lebten rund hundert sehr arme und mittellose Witwen mit rund 650 Kindern, die meisten davon adoptierte Waisen. Mit und für sie bauten wir das Nachbarschaftshaus und erfüllten damit ihren Wunsch nach einem Ort, „um miteinander zu sprechen und sich zu treffen“. Und so geschah es, nur etwa hundert Meter von ihrem Viertel entfernt. Zwanzig Jahre lang fanden dort zahlreiche Treffen und Gesprächsgruppen statt, aber auch Berufsausbildungen für einkommensschaffende Maßnahmen wie Maurerei, Gastronomie und Hotellerie, Pilzzucht usw. Auch künstlerische Ausbildungen wurden angeboten. Vor allem die Kreation und Herstellung von traditionellen Imigongo-Bildern. Dies war ebenfalls ein langer Weg, der die hundert Witwen nach Nyarubuye im Süden des Landes an die Grenze zu Tansania führte, wo sie von der ersten Künstlerkooperative, die mit den wenigen Überlebenden des Völkermords gegründet worden war, eine Grundausbildung erhielten. Das Erlernen dieser Kunstform war wie ein Zauber für die Witwen, die bis dahin nichts von der Existenz dieser Kunst gewusst und noch kein einziges Mal von deren Namen gehört hatten. Die Aneignung eines wesentlichen Teils des Erbes ihres Landes erfüllte sie mit Stolz. Trotz des fortgeschrittenen Alters einiger von ihnen gaben sie sich Mühe wie junge Schülerinnen und freuten sich, dass sie noch lernen konnten. Das waren die ersten Schritte auf dem Weg zur Selbstrekonstruktion.
Wie sind die Therapiegruppen entstanden?
2011 richteten wir eine Anfrage an Dr. Naasson wegen der Konflikte, die unweigerlich unter denjenigen auftraten, die jegliches Vertrauen in die Menschheit verloren hatten und deren familiäre und soziale Bindungen während des Völkermordes zerbrochen waren. Auf seine Anregung hin schloss sich Emilienne Mukansoro, eine Trauma-Beraterin, unserem Team an. Die Inararibonye-Gruppe (wörtlich „die mit der großen Erfahrung“), d. h. die Gruppe der „großen Mütter“, bildete mit ihr die erste therapeutische Gruppe.
Nach einem Jahr regelmäßiger Sitzungen erklärten die Teilnehmerinnen, dass sie ihren therapeutischen Weg abgeschlossen hätten und wünschten, dass wir im Nachbarschaftshaus Rwanda Avenir Gedenkfeiern organisierten. „Ich lebe mit großem Schmerz, weil ich meine Angehörigen nicht in Würde beerdigen konnte“, hatte eine der Teilnehmerinnen gesagt. Im Jahr 2012 fanden drei Gedenktage im Haus statt. Dr. Naasson Munyandamutsa hielt am ersten Abend eine lange Rede, um die Überlebenden vor dem Leid zu schützen, das sie in diesen drei Tagen unweigerlich übermannen würde.
Was sind die Hefte der Erinnerung (Cahiers de mémoire)?
Im April 2014 schlug ich bei der Mahnwache zum 10. Gedenktag im Nachbarschaftshaus die Einrichtung einer “Erinnerungswerkstatt” ( oder „Erinnerungsworkshop“, Frz. „atelier de mémoire“) vor. Vielleicht als Antwort auf eine Mutter, deren fünf Kinder während des Genozids ermordet worden waren. Sie hatte gesagt: „Manchmal sitze ich unter dem Vordach vor dem Haus und halte Ausschau, ob jemand vorbeikommt, der mir ‚Hallo Mama‘ sagt. Ich vermisse diese beiden Worte. Aber ich mag den Montagabend sehr, weil wir uns an diesem Tag im Nachbarschaftshaus treffen und an diesem Abend möchte ich leben, um meine Mitmenschen zu treffen, um auch mich selbst zu treffen, denn den Rest der Zeit lebe ich auf der Flucht vor mir selbst.“
Die Erinnerungswerkstatt wurde in jenem Jahr gegründet und bestand aus 15 Überlebenden: neun Frauen, zwei Männer und vier Jugendliche, – drei junge Männer und ein junges Mädchen. Sie nahmen an den wöchentlichen Sitzungen des Workshops teil, begleitet von Louis Munyaburanga Basengo und gelegentlich von Beatrice Niwebuliza, einer Therapeutin und ebenfalls Autorin eines „Erinnerungshefts“. In einem anderen Modus hatten sie dasselbe Ziel wie die therapeutischen Gruppe. Ihre Texte folgten einem tertiären Rhythmus: „vor, während und nach“ dem Völkermord. Das „Vorher“ ermöglichte es, wieder Fuß zu fassen in der Kindheit und in der Entdeckung der Welt, die von liebevollen und vertrauensvollen Eltern unterstützt wurde. Diese Rückkehr in die Kindheit stellte die Lebensgrundlage, die vor den Massakern und dem Schrecken bestand, in ihrer Gesamtheit wieder her.
Die in dem Buch Cahiers de mémoire, Kigali, 2014 (2017 in Frankreich und 2019 in Kigali auf Kinyarwanda erschienen) gesammelten Erinnerungshefte sind eine kollektive Echokammer für die Geschichte des Völkermords an den Tutsi, sie sind das lebendige Gedächtnis davon. „Wir teilen eine gemeinsame Geschichte“, sagen ihre Autor:innen. Sie haben sie gemeinsam geschrieben, indem sie sich gegenseitig Passagen aus ihren Heften vorlasen, die sie zwischen zwei Sitzungen verfasst hatten. Sie haben sich gegenseitig im Angesicht des Unerträglichen unterstützt.
In welcher Sprache wurden die Cahiers de mémoire (Erinnerungshefte) geschrieben?
Mit Ausnahme einer Teilnehmerin haben alle ihre Texte in Kinyarwanda verfasst. Dies gilt auch für die Briefe an die toten Kinder, die in der ersten Sitzung des Erinnerungsworkshops entstanden sind. Louis Munyaburanga Basengo hatte jeder und jedem eine halbe Stunde Zeit gegeben, um zu schreiben, was sie oder er wollte, ohne eine Richtung vorzugeben. Jede/r schrieb einen Brief an ihre/seine Kinder oder ihren/seinen Vater (für die Jugendlichen). In den folgenden Sitzungen wurden weitere Briefe geschrieben. Das Cahier de mémoire von Thérésie Gahindigiri besteht ausschließlich aus Briefen an ihre vier Söhne und zwei Töchter; an ihren Ehemann und ihre jüngere Schwester. Alle wurden ermordet.1
Welche Unterschiede bestehen zwischen einem Zeugnis und einem Erinnerungsheft?
Es gibt einen großen Unterschied. Das Zeugnis bleibt in die Zeit des Völkermords, „während“, eingebettet. Es wird oft in der Öffentlichkeit vorgetragen, zum Beispiel im großen Amahoro-Stadion in Kigali. Schreie, Tränen und Gebrüll füllen das Stadion, traumatische Krisen brechen aus und Ohnmachtsanfälle sind schwer von erstickten Worten. Das Leid überträgt sich auf die Tribünen des Stadions, die hauptsächlich von Überlebenden besetzt sind.
Im Gegensatz zu den Zeugenaussagen hatten die Erinnerungshefte einen Adressaten, der die Erzählungen im Laufe der Sitzungen und Wochen sammelte. Das gesprochene Wort wurde in der Gegenwart gehört und willkommen geheißen.
Wurden die Aktivitäten mit den Kindern von dieser Erfahrung inspiriert?
Was die Kinder betrifft, so war keines von ihnen zum Zeitpunkt des Völkermords geboren. Der von Judith Gueyfier 2014 initiierte Zeichenworkshop war für sie ein Zauber. Er ließ ihre Kreativität zum Vorschein kommen und begleitete sie gleichzeitig. Viele Aktivitäten wurden für sie ins Leben gerufen. Auch das Open-Air-Kino auf einer riesigen Leinwand, das vom französischen Kulturzentrum organisiert wurde, war ein Moment des Staunens. Die Kinder liefen jeden Monat voll Freude darauf zu. Im Nachbarschaftshaus wurde ihnen eine Bibliothek eingerichtet, die unter anderem eine große Anzahl von Kinderbüchern des ruandischen Verlags Bakame sowie Wörterbücher, Atlanten usw. umfasste. Sie erhielten eine Computerausbildung. Heute sind sie junge Menschen und zweifellos werden diese verschiedenen Initiativen sie bereichert haben. Wir hoffen es.2
- In der vorliegenden Ausgabe des ausreißer haben wir beispielhaft eine kleine Auswahl der in der Ausstellung gezeigten Briefe und Erinnerungen in deutschsprachiger Übersetzung abgedruckt. Einer davon von Thérésie Gahindigiri. Alle Portraits und Texte sind zweisprachig, im Original und deutscher Übersetzung, auf ausreisser.mur.at zu lesen. ↩︎
- Während der Covid-Epidemie, die in Ruanda besonders virulent war, sah sich die NGO gezwungen, das Haus und das Projekt der ruandischen Stiftung Imbuto anzuvertrauen, die es mit ihren eigenen Aktivitäten verband. Mit vielen der Witwen bleiben Florence Prudhomme und Michelle Muller in Kontakt. Auch die Ausstellung in Graz wird in Absprache mit den involvierten Personen gezeigt. ↩︎