Thérésie Gahindigiri ◄

Großen Guten Tag! Wie geht es Dir, mein Liebes?
Du bist jetzt seit fünf Jahren von deiner Mama getrennt. Ich weiß noch, dass ich dich bei deinem Großvater väterlicherseits ließ, ohne dir auch nur auf Wiedersehen zu sagen. Du liefst hinter der Rinderherde her, die du so sehr liebtest. Bist mit dem Hirten weggegangen. Ich bestand nicht darauf, dich vor meiner Abreise zu sehen. Wie jede Woche musste ich zur Familie, meinen Vater, deinen Großvater besuchen, der krank war. Mein Liebes, ich wusste nicht, dass das der letzte Tag sein würde, an dem wir uns sahen, du und ich.
Du weißt, dass ich nach Kigali zurückkam, mit meiner kleinen Schwester Jeanne, der Jüngsten meiner Eltern, die krank war. Mein Kleines, im Augenblick der Angst hast du dich sicher gefragt, wo ich war. Du hast dir gesagt: „Wo ist Mama?“ Vielleicht hast du gedacht, ich hätte dich verlassen. Das war nicht der Fall.
Mein Liebes, für unsere Rasse waren alle Wege versperrt. Niemand hat es geschafft zu fliehen. Du warst klein und wusstest nicht, worum es ging. Ach, du hast es gesehen, wohin ihr auch gingt, deine Tante Mathilde und du, überall hat man euch vom nächsten Tag an gejagt. Überall war es das Gleiche. Bei uns in Kigali auch. Das ist schwer, das lässt sich nicht ausdrücken, lässt sich nicht erklären, es ist hart, von dem allen zu sprechen. Ihr alle, die Ihr fortgegangen seid, du und die anderen von der Familie, die Cousins – Ihr wart viele.
Wir, wir sind am Leben. Immer noch in Kigali, aber in einem anderen Viertel, in Kimironko. Ich denke, dass du deinen Papa gesehen hast. Grüß ihn von mir.
Deine Mutter, die du sehr lieb gehabt hast. “
Annonciata Mukamugema
Dieser Brief wurde bei der ersten Sitzung des „Atelier des Mémoires“ geschrieben. Marie Lyse war 1994 fünf Jahre alt.
