Paul Schuierer-Aigner ◄
Der Antritt der Koalition aus ÖVP und Grünen wirkt wie die Erinnerung an eine längst vergangene Zeit. Nicht fünf Jahre, sondern zehn oder fünfzehn Jahre ist es gefühlt her, dass der inzwischen verurteilte Sebastian Kurz den größten politischen Erfolg seines Lebens feierte und die ÖVP mit fast 40% so stark machte, dass sie mit den eben erst wieder ins Parlament eingezogenen Grünen die Mehrheit stellte. Erst das zweite Mal seit 2002, als der linke Parteiflügel Alexander Van der Bellen als Vizekanzler Wolfgang Schüssels verhindert hatte, bot sich diese schwarz-grüne Option auf Bundesebene. Und dieses Mal, nach stabilen Testläufen in Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg, schlugen beide zu.
Zu verlockend war die Aussicht für Kurz, nicht mehr mit der eben dank Ibiza-Videos aus der Koalition gesprengten FPÖ regieren zu müssen. Zu reizvoll der letzte Schritt der grünen Wiederauferstehung, mit dem Wiedereinzug ins Parlament gleich auch erstmals in die Bundesregierung zu gehen. Für die absehbaren Konflikte fand man Lösungen: Die Grünen dürften, sanft und langsam, aber doch, am Feld der Ökologie punkten. Die ÖVP rückte keinen Millimeter von ihrer Anti-Ausländer-Linie ab. In vielen Sozialstaatsfragen wird das Beibehalten des Status Quo von den Grünen als Erfolg gewertet. Doch zahlreiche Transferleistungen wie die Mindestsicherung, das Arbeitslosenversicherungsgeld oder die Bildungskarenz sind zur Profilbildung vom AMS-Chef und dem nunmehrigem Nationalbank-Gouverneur, laufend Angriffen ausgesetzt. Die Umwelt und die Grenzen schützen, mit diesem Spruch, der schon damals die meisten Nicht-nur-Ökos im grünen Milieu auf die Palme gebracht hat, wurde eine Koalition aus der Taufe gehoben, die sich selbstbewusst „das Beste aus beiden Welten“ zum Bannermotto erkor.
Fünf Jahre und eine Reihe unerwarteter Krisen später, sind vom „Besten aus beiden Welten“ nur mehr die Reste aus beiden Welten über. Die türkisen Koalitionsspitzen Kurz, Köstinger und Blümel sind weg. Wer noch alle grünen Gesundheitsminister aufzählen kann, hat sich einen Innenpolitik-Expert*innenpreis verdient. Und von den 52% der Stimmen bei der Wahl 2019, sind laut Umfragen gerade noch etwas mehr als die Hälfte geblieben. Der Rest der Wähler*innen, die diese Koalition ins Amt gehoben hat, wird sein oder ihr Kreuzerl dieses Mal wo anders machen.
ÖVP bleibt, Grüne gehen
Die Aussichten über einen Verbleib in der Bundesregierung könnten ebenfalls konträrer nicht sein. Kaum jemand glaubt an eine Regierung ohne ÖVP: Links der Mitte hat, wenn überhaupt, nur eine Koalition mit Kommunist*innen und/oder Bierpartei eine Mehrheit zu viert oder zu fünft. Und die einzig andere Variante, Blau-Rot oder oder Rot-Blau, gäbe es nur unter Wegsprengung der halben SPÖ inklusive Wiener Landespartei. Auch davon kann keine Rede sein. Die Grünen dagegen kommen nur als Mehrheitsbeschaffer*innen einer möglichen (früher) großen Koalition aus ÖVP und SPÖ in Frage. Aber da werden in jeder Hinsicht die etwa gleich großen Neos als Partnerin attraktiver für die ehemals staatstragenden Parteien sein. Das liegt auch an der Programmatik.
Und damit kommen wir zu dem, was die Reste aus beiden Welten in ihre Wahlprogramme geschrieben haben. Denn das ist, wie man weiß, nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch die Grundlage für Regierungsverhandlungen: Da sitzen sich, kurz nach der Wahl und grad erst wieder halbwegs ausgeschlafen, beide mit ihren Programmen in der Hand gegenüber und fangen an, durchzustreichen, was für beide Seiten gar nicht geht. Sie haken ab, was jedenfalls für beide geht. Und wo es Dissens gibt, da treffen sich später am Abend in exklusiveren Kreisen die Spitzen zum Armdrücken. Wahlprogramme, die unterschätzten Wesen der Regierungsbildung: Was nicht drinsteht, das kommt ganz fix nicht. Und was drinsteht, das musst erst einmal jemand von der anderen Partei wegverhandeln.
Lesen Sie nicht das Kleingedruckte!
Deswegen werfen wir einen Blick auf das, was an den Programmen auffällt: Werner Kogler schaut verträumt auf einen See, es könnte der Traunsee sein, „Wähl als gäb’s ein Morgen“, hat sich eine Agentur als Titel zum Nachdenken dazu überlegt. Im groß gehaltenen Einleitungstext zum Wahlprogramm auf der grünen Website stehen Umwelt- und Klimathemen – und ausschließlich diese – exemplarisch angedeutet. Grüne Wiesen und solche Sachen. Die Kapitel heißen, wohl auch nach Priorität angeordnet: Klimaschutz, Natur, Mobilität, Wohlstand, Demokratie und Miteinander. Es fällt auf: Da steht nicht Soziales, obwohl der Sozialminister ein Grüner ist. Da steht nicht Integration oder Zusammenleben, das steht Miteinander. Da hat jemand Reizwörter herausgebügelt. Es ist ein journalistischer Volkssport geworden, einerseits ausführliche Wahlprogramme zu verlangen, sich dann aber über einzelne Punkte zu beschweren: Man erinnere sich an die Wildbienen in Bablers SPÖ-Programm. Aber schon die Bullet Points des grünen Programms enthalten ein paar ebensolche Schmankerln wie mehr Wildblumen an Bahnstrecken oder aus grauen Jobs grüne Jobs machen. Aber, genug gespottet, es gibt auch ein paar Duftmarken im Programm des kleinen Koalitionspartners, die nach mehr riechen. Die Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden ist so ein knackiger Punkt, der über Wald- und Wiesen-Versprechen hinausgeht. Der telefonisch betreute Schwangerschaftsabbruch ist so ein, wenn auch im Programm gut verstecktes, Zeichen. Bei der Erbschaftssteuer ist man dagegen doppelt um Deeskalation bemüht, weshalb sie „Millionärssteuer für Millionenerbschaften“ heißt. Es soll sich wohl ja niemand, der oder die ein 900.000-Euro-Haus erbt, fürchten, er oder sie müsse sich am 29. September zwischen Klimaschutz und steuerfrei erben entscheiden.
Konkreter wird’s dafür im Demokratie-Kapitel, wo mit einem Transparenzgesetz für Lobbyist*innen, mit einer niedrigen Hürde des Staatsanteils an Unternehmen für eine Rechnungshof-Prüfkompetenz und mit einer unabhängigen Weisungsspitze für die Staatsanwält*innen offenbar Erkenntnisse aus der Amtszeit von Justizministerin Alma Zadic eingeflossen sind. Es würde die Republik tatsächlich umkrempeln und die landläufige Korruption generalpräventiv deutlich erschweren, würde dieser Part umgesetzt. Aber wer will das schon. Gratis Verhütungsmittel, Menstruationsartikel und Testmöglichkeiten auf sexuell übertragbare Krankheiten stehen ebenso im „Miteinander“-Kapitel, wie Mietdeckel und die Umsetzung der UNO-Kinderrechtskonvention. Es wirkt ein bisschen wie ein Restkapitel, in dem alles Übrige Platz haben musste, das nicht Umwelt- und Klimaschutz ist. In der 111 Seiten starken Langversion des Wahlprogramms stehen dann zwar ein paar Zahlen mehr. Aber auch sie beziehen sich eher auf statistische Ziele – Radfahranteil auf den Arbeitswegen, Verkehrstote, Energiemix und Co. – als auf konkret und beziffert beschriebene Maßnahmen.
Achtung, hinschauen: neue Botschaften von den Grünen
Ganz neu ist da ein in der Verfassung zu verankerndes Recht auf Schwangerschaftsabbruch und der schon angesprochene landesweit mögliche telemedizinische medikamentöse Abbruch. Falls der alte Koalitionspartner noch bis Seite 102 im Programm der Grünen liest, wird spätestens hier ordentlich rotiert – in der Kurzfassung ersparen die Grünen ihren Leser*innen diesen Punkt. Das gilt auch für den in der Kurzversion nicht vorkommenden Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz ab dem 1. Geburtstag. Für das momentan aus zwei Säulen bestehende Kinderbetreuungsgeld-Modell sehen die Grünen zwar laut Überschrift Vereinfachungsbedarf, aber keinerlei konkreten Hinweis, wie es „fairer“ werden könnte. Für eine Partei der Eltern und Kinder ein bemerkenswerter weißer Fleck auf der Landkarte. Beim modernen Staatsbürgerschaftsrecht – eine dringende Forderung vieler um Integration bemühter Organisationen und ein absolutes No-Go für die ÖVP – fordern die Grünen zwar weniger Kosten und Bürokratie. An den sechs Jahren Wartefrist rüttelt man aber nicht mehr. Und in einer ähnlichen Nische ist das Thema Flucht, Asyl und Menschenrechte aus der digitalen Kurzversion komplett verschwunden – man liest hier nur im Kleingedruckten in für Grüne ungewöhnlichem Tonfall von der Notwendigkeit von Abschiebungen sowie ein Bekenntnis zu den humanitär massiv umstrittenen Asylverfahren an den EU-Außengrenzen. Summa summarum: Der aktive Gestaltungs- und Veränderungswille der Grünen konzentriert sich auf ökologische Benchmarks, auf den wichtigen, aber schwer umsetzbaren Umbau der Justiz und ein paar gesellschaftspolitische Duftmarken, die rein für die Auslage da stehen.
Ohne Leistung ka Leiberl
Fortschritt statt Verbote: Die ÖVP sucht ganz bewusst den Kontrast zu ihrem bisherigen Koalitionspartner – auch in der Energie- und Klimapolitik, wo stets der Hausverstand und die wirtschaftliche Vernunft als Rahmen für mögliche Innovationen gesetzt werden. Wer das schon länger beobachtet, weiß: Klimaschutz mit Hausverstand ist eine Chiffre für „kein Klimaschutz.“ Die große Klammer um das türkis-schwarze Programm ist aber der Leistungsbegriff. Das Land müsse wieder fleißiger und viel Erwerbsarbeit belohnt und steuerlich entlastet werden – etwa durch den Wegfall der zweithöchsten Steuerklasse und durch einen neuen Steuerfreibetrag für Vollzeit arbeitende Menschen. Einen Finanzierungsvorschlag für diese Vorschläge, die in erster Linie dem obersten Einkommensdrittel und hauptsächlich Männern zu Gute kommen, bleibt die Partei des Bundeskanzlers ebenso schuldig, wie eine genaue Bezifferung dessen, was ein Zurückfahren der Transfer- und Versicherungsleistungen etwa für armutsgefährdete Menschen oder für schon lange Erwerbsarbeit suchende Menschen an Einsparungen für den Staatshaushalt brächte. Allein die Steuerpläne sollen eine zweistellige Milliardensumme pro Jahr kosten, rechnen Ökonom*innen vor. Das kann man nur ohne Gegenfinanzierung vorschlagen, wenn man den eigenen Vorschlag eh nicht ernst meint, oder wenn man einen radikalen Kahlschlag im Bereich der staatlichen Daseinsvorsorge vorhat, den man erst nach der Wahl erzählen will. Dafür ist bei einer der innerhalb der ÖVP mächtigsten, wenn auch zahlenmäßig sehr kleinen Gruppe der Bevölkerung, eine paradoxe Intervention zu beobachten: Zwar gilt generell im ÖVP-Programm: Förderungen zurückfahren zur Entlastung des Staatshaushalts. Aber die Autor*innen des den Bäuerinnen und Bauern gewidmeten Kapitels, die dürften diese Programmvorgabe übersehen haben. Das Füllhorn für ihre Kernklientel kann der ÖVP nie voll genug sein. Bei den Mobilitätsvorstellungen dürfte zumindest in Sachen Zielvorgabe der Koalitionspartner der letzten Jahre doch etwas abgefärbt haben. Allerdings ist der Weg dorthin mit Technologieoffenheit, sogenannten grünen Verbrennern und mit einem stärkeren Fokus auf die Ökologisierung des Individualverkehrs statt einer Forcierung des öffentlichen Verkehrs, ein deutlich anderer, als ihn die Grünen beschreiten wollen. Was im Öko-Bereich kommt, wenn die ÖVP nicht mehr mit den Grünen regiert? Es werden Wasserstoff- und E-Auto-Lobbyist*innen durch die Republik marschieren. Der Autobahnbau wird jetzt wieder ungebremst weitergehen. Das Klimaticket wird bleiben.
Die schwarze Angst vor der Vielfalt
Die ins Sommerloch geplatzte Großelternkarenz, von der Expert*innen aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit dringend abraten und stattdessen die von Sebastian Kurz und Thomas Schmid per WhatsApp gestoppten massiven Ausbaupläne der institutionalisierten Kinderbetreuung empfehlen, hat es natürlich auch ins Wahlprogramm geschafft. Die Vorstellungen zur Kinderbetreuung – hier gute Krippen mit garantiertem Zugang, dort hauptsächlich Omas in Karenz, steht sinnbildlich für die weltanschaulichen Unterschiede zwischen den Resten aus beiden Welten. Im für die materielle Lebensrealität der meisten Menschen irrelevanten, aber für die Weiterentwicklung zu einer gerechten Gesellschaft evident wichtigen Kapitel zu Gender-Fragen ist die ÖVP nicht einmal mit der Lupe von der FPÖ und von Trumps Republikaner*innen zu unterscheiden. Es findet sich hier vom Sternchen-Verbot bis zu einem Bekenntnis zu zwei Geschlechtern alles, was an Identitätspolitik des 20. Jahrhunderts aufbietbar ist – natürlich auch das ein starker Kontrast zum diesmal explizit um queere Anliegen ergänzten LGBTIQ+-Kapitel der Grünen. Das ist für die wachsende Gruppe der davon betroffenen Menschen nicht egal: Es gibt einen nachgewiesenen, direkten Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Akzeptanz und dem Wohlbefinden und der Selbsterhaltungsfähigkeit dieser Menschen, bis hin zur Suizidrate. Und auch ein Blick auf das Migrations- und Sicherheitskapitel – nicht zufällig von der ÖVP ineinander gewobene Themen – zeigt: Da ist der Weg zur FPÖ geebnet. Es gibt bei einer Reihe rigoroser Forderungen keinen Unterschied zwischen ÖVP und FPÖ.
Die Brücke von ÖVP zu FPÖ ist geschlagen – die Grünen als bisheriger Koalitionspartner der ÖVP brauchen dagegen gleich mehrere statistische Zufälle, um realistische Chancen auf die Beteiligung an einer Dreier-Koalition zu haben. Ob die programmatischen Zwillinge ÖVP und FPÖ am 29. September gemeinsam eine Mehrheit bekommen, das weiß noch niemand. Allerdings ist eine Koalition ganz ohne die ÖVP fast ausgeschlossen. Deswegen ist es vor allem das Programm der ÖVP, das schon jetzt einen genauen und kritischen Blick der Öffentlichkeit verdient. Denn was wir da lesen können, ist längst kein reines Anti-Ausländer-Programm mehr. Die soziale Ausgrenzung und die Daumenschrauben, die sollen jetzt sukzessive alle mehr oder weniger spüren oder zumindest fürchten, die nicht pumperlgesund und ohne weitere Verpflichtungen mindestens 40 Stunden in der Woche arbeiten gehen können. Man könnte meinen: Mit diesem Programm für keine 5% der Bevölkerung gewinnst du keinen Pappenstiel. Aber das unterschätzt, wie stark der Rassismus als Triebfeder des Wahlverhaltens inzwischen geworden ist und wie gut die ÖVP den füttert. Das „Beste“ aus der ÖVP-Welt des Sebastian Kurz, das ist geblieben. Das haben ihr die Grünen, trotz aller Versuche und trotz erzwungenen türkisen Personalrochaden nicht abdergewöhnt.