Wovor wir uns fürchten müssen. Und wovor nicht.

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Norbert Mappes-Niedik ◄

Deutschland hat mit den Worten seines Bundeskanzlers Olaf Scholz eine „Zeitenwende“ erlebt. Eine Debatte über Atomrüstung hat begonnen. Ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro soll die deutschen Streitkräfte auf eine veränderte Bedrohungslage einstellen. Scholzens Verteidigungsminister setzt die Aufrüstung um. In der Presse, im Parlament und selbst von Grünen und Liberalen in der Regierung geraten die beiden Sozialdemokraten unter Druck – nicht weil sie so viel, sondern weil sie nach Ansicht ihrer Kritiker noch immer nicht genug tun. In der NATO gewinnen die Stimmen aus Polen und Estland an Gewicht, die ein noch entschlosseneres Containment fordern.

Die Basis für alles das ist eine Bedrohungsanalyse, die wenig für sich hat: dass Putin die NATO angreifen könnte. Unmöglich ist das zwar nicht. Aber eine Bedrohungsanalyse beruht – in Russland ebenso wie in der NATO – nicht auf bloßer Möglichkeit, sondern auf Wahrscheinlichkeit. Und durch den Überfall auf die Ukraine ist ein Angriff auf die NATO nicht wahrscheinlicher, sondern unwahrscheinlicher geworden.

Warum? Erstens: Schon in der Ukraine hat Putin sein ursprüngliches Kriegsziel dramatisch verfehlt, nämlich das Nachbarland im Handstreich zu nehmen. Mit 120.000 Soldaten – ähnlich vielen wie beim Einmarsch in den Irak 2003, aber schwächer ausgerüsteten und völlig unvorbereiteten – kann man ein Land von der Größe der Ukraine nicht erobern und schon gar nicht besetzt halten,  wenigstens dann nicht, wenn dort die Bevölkerung dem russischen „Brudervolk“ nicht zujubelt und die angeblichen „Faschisten“ in Kiew verjagt, wie Putin und seine Strategen offenbar glaubten. Wie kann Russland nach dieser verheerenden Erfahrung das mit Abstand stärkste Militärbündnis der Welt angreifen wollen?

Das zweite Argument ist der Zeitpunkt des Überfalls. Die Ukraine drängte in die NATO. Nach dem Amtsantritt von Joe Biden – und mit der neuen Vize-Außenministerin Victoria Nuland – waren ihre Chancen auf einen Beitritt plötzlich aktuell geworden. Für Putin hieß das: Jetzt rasch einmarschieren, bevor es zu spät ist und die Ukraine unter der Beistandsverpflichtung der NATO ist. Im Umkehrschluss heißt das: Eine Ukraine in der NATO wäre vor Putin sicher gewesen.

Am wichtigsten aber ist, drittens, der Blick auf Putins tiefere Antriebe  – die nicht nur seine, sondern in seinem Land und Volk weit verbreitet sind. Russland ist kein Rätsel. Wie in den neuen ost- und mitteleuropäischen EU-Mitgliedsstaaten hat nach 1990 hier der Nationalismus den Kommunismus als Staatsideologie abgelöst.

Wie im Westen ist es im östlichen Europa die Geschichte, die den spezifischen Charakter des jeweiligen Nationalismus prägt. In Polen, in Ungarn, im Baltikum ist der Nationalismus – aus  Geschichte dieser Nationen heraus erklärbar – identitär: Er richtet sich gegen Vereinnahmung durch einen mächtigeren Nachbarn. Entwickelt haben sich die kleineren Nationen östlich von Deutschland alle in der Emanzipation von einem Großreich. Sie verteidigen ihren Bestand, achten ängstlich auf ihre Eigenheiten.  

Der russische Nationalismus dagegen ist seinem Wesen nach imperial. Das heißt: Er verortet sich in einem großen Reich, das übrigens ruhig ethnisch und kulturell divers sein darf, achtet die Eigenheiten anderer in seiner imaginären Einflusszone aber gering. Er setzt nicht auf seine Eigenheiten, sondern auf seine Macht. Das ukrainische Nationalgefühl gilt aus dieser, der imperialen Perspektive als eine bessere Marotte. Nationalbewusstes Russentum schloss stets das Gefühl ein, Herr in einem Hause mit vielen Mietern und Untermietern zu sein.

Den Untergang des Zarenreiches 1917 hat dieses imperiale Gefühl ohne Schaden überstanden. Schon unter Stalin wurde daraus wieder offizielle Ideologie. Sojus neruschimy respublik swobodnych / Splotila naweki Welikaja Rus: So lautete – programmatisch – die Hymne der Sowjetunion. Das „große Russland“ war es darin, das den „unverbrüchlichen Bund“ der Sowjetrepubliken geschmiedet hatte. Anders gesagt: Wir sind der Kern des Reiches, wir sind das Staatsvolk. Alle anderen sind Varianten, Schwundstufen. Russland ist die Mutter, die mitwohnenden Völker sind die Kinder. Deshalb knüpft Putin heute in seiner Propaganda so deutlich an die Stalinzeit an – und distanziert sich von Lenin, der in den frühen 1920-er Jahren einen Vielvölkerstaat schaffen und etwa das ukrainische Nationalgefühl nicht schwächen, sondern fördern wollte.

Seit Putins Machtübernahme vor bald einem Vierteljahrhundert ist der klassische russische Nationalismus immer mehr zur Staatsdoktrin geworden. Putin pflegt dessen Rituale, übernimmt sein historisches Narrativ, alles weitgehend ohne persönliche Zutaten. Wie in jedem anderen Nationalismus mittel- und osteuropäischen Typs – im ungarischen, im polnischen, im deutschen – gehört zu dem Cocktail die Ideologie vom Volk als einer großen Familie, möglichst mit einem weisen und strengen Vater. Putin und Russlands nationaler Gedanke passen wie der Schlüssel zum Schloss.

Größe muss sich beweisen, auch nach außen. Barack Obamas Wort von der „Regionalmacht Russland“ hat in der Nation entsprechend eine dauerhafte Kränkung hinterlassen. Aber die russische Staatsdoktrin  bleibt doch eine nationale; auf Weltherrschaft zielt sie nicht. Von den unmittelbaren Nachbarn fordert sie Unterwerfung, vom Rest der Welt fordert sie nur Respekt. „Weltherrschaft“ ist im russisch-nationalen Denkgefüge gerade die Chiffre für den westlichen Universalismus, die Ideologie des großen Gegenspielers im Westen mit ihrem weltweiten Geltungsanspruch. Putins Ziel ist nach seinem eigenen Bekenntnis eine „multipolare Weltordnung“, in der jedes Land seine Interessen vertritt.  Nicht umsonst hat sich Russland in den letzten Jahrzehnten in der Rolle des Anwalts der kleinen Nationen gefallen, die sich gegen amerikanischen Interventionismus zu wehren hätten.

Moral und Menschenrechte haben in dieser Putinschen Weltordnung keinen Platz. Joe Bidens Rede von der „Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie“ findet in Russland kein Echo. Es wird nicht als Widerspruch empfunden, wenn man mit islamistischen Regimen wie dem iranischen paktiert und gleichzeitig mit dem Syrer Assad gegen eine islamistische Opposition. Die westliche Berufung auf die Werte oder, neuerdings, auf die „regelbasierte Ordnung“ hat im ganzen postkommunistischen Osten nie jemand ernstgenommen. Der Westen heuchelt nur, heißt es hier. Seit Gaza hat es dafür ein aktuelles Argument, das in weiten Teilen der Welt sticht. Statt Doppelmoral lieber gar keine Moral, ist die Parole. 

Putins multipolare Welt besteht aus Einflusszonen – wie die Welt vor 1990. Moskau wäre danach das Zentrum für die Ukraine, um Belarus, Moldau, Georgien, und, gäbe es die NATO nicht, wohl auch für das Baltikum, die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten, vielleicht sogar für Finnland. Im Rest der Welt will dieses Russland nicht mehr und nicht weniger als ein Machtfaktor sein. Es will gefragt werden, wenn ein regionaler Konflikt sich ausbreitet und nach Intervention verlangt.

Alles spricht dafür, dass Putin wenigstens weltpolitisch sein Ziel erreicht hat. Aus dem Traum von einer weltweiten Geltung der Menschenrechte oder nur eines universellen Völkerrechts, von der die Welt nach dem Fall der Berliner Mauer träumte, hat er uns geweckt. In der Konfrontation mit seiner Weltmacht wird wohl auch der Westen sich Moral immer weniger leisten. Gegner neigen dazu, einander ähnlich zu werden. Die Militarisierung der Debatten im Westen zeigt es schon jetzt. 

P.S.: Was bedeutet das für die Ukraine? Nichts Gutes. Ihr blüht das Schicksal eines geteilten Frontstaats, ähnlich wie Deutschland bis 1990, aber ökonomisch viel schwächer und ausgehalten vom Westen. Ob Kiews Macht bis zu den „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk reicht oder ob Moskau bis nach Odessa herrscht, wird noch ausgekämpft; hoffentlich nicht mehr lange. Sollte die Ukraine aber kapitulieren müssen, etwa weil ein Präsident Trump sie fallen lässt wie Biden Afghanistan, bliebe sie in jedem Fall ein ständiger Unruheherd. Eine Herrschaft über ein anderes Land lässt sich in den 2020er Jahren nicht mehr so leicht ausüben wie noch in den 1970-ern – im Zeitalter der virtuellen Beziehungen, der grenzenlosen Reisen, der langen Lieferketten. Auch Putin träumt nur.      

P.P.S.: Was bedeutet das für Österreich? Kurz gesagt: Nichts. Österreich hat nach wie vor keinen Grund, der NATO beizutreten. Seine Sicherheit würde sich nicht verbessern. Wenn die irreale Angst vor einem russischen Angriff auf die NATO stimmen sollte, würde sie sich sogar verschlechtern – ganz abgesehen von den gewaltigen Mitteln, die eine Aufrüstung des Bundesheers auf NATO-Niveau verschlingen würde. Österreich ist ein sicherheitspolitischer Trittbrettfahrer, das stimmt. Aber warum soll ein Land wenn seiner günstigen geopolitischen Lage nicht profitieren dürfen? Umgekehrt hat Österreich auch für „aktive Neutralitätspolitik“ keinen Grund. Nichts qualifiziert das Land dafür, im Krieg um die Ukraine (oder auch im Gazastreifen) zu vermitteln, keine Macht, keine Idee, menschenfreundliche Mission. Am besten, seine Regierung duckt sich einfach weg. Aber das tut sie ja sowieso.

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Der Zerfall Jugoslawiens und der überforderte Kontinent
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