Evelyn Schalk ◄
Chronologie eines gebrochenen Versprechens
Den Sternen fühlt sich Amena Karimyan oft näher als den Menschen. Kein Wunder, war der Weg der 25jährigen einzigen Astronomin Afghanistans doch von Anfang an ein überaus steiniger, mit der Machtübernahme der Taliban wurde er lebensgefährlich. Als Österreich ihr ein Visum zusagt, blitzt für sie ein Hoffnungsschimmer auf. Doch kurz darauf wird es schlagartig dunkel. Amena Karimyan, eben von der BBC zu einer der 100 einflussreichsten und inspirierendsten Frauen 2021 gekürt, sitzt in der Falle. In Islamabad angekommen, ziehen die österreichischen Behörden ihre Visumzusage zurück und lassen sie im Stich. Nun kann die junge Wissenschaftlerin, Frauenrechtsaktivistin und Autorin weder vor noch zurück und ihre Lage verschlimmert sich von Tag zu Tag – bis es noch einmal eine unerwartete Wendung gibt.
„Wenn ich hier nicht lebend herauskomme, erzähle der ganzen Welt diese Geschichte. Sag ihnen, dass ich Afghanistan zu einem Ort des Wissens und der Zivilisation machen wollte. Sag der Welt, dass es hier viele wie mich gab, aber unser Leben war kurz und sogar um diese Jahre wurden wir noch betrogen. Sag der Welt, dass Afghanistan so viele gute Menschen hat, aber an ein paar Verräter verkauft wurde. Erzähle ihnen, dass ich mich mit so vielen Träumen auf den Weg aus Staub und Blut gemacht habe und ich mich nicht einmal von meiner Familie verabschieden konnte. Sag ihnen, dass ich kein einziges Mal das Lied der Versöhnung und des Friedens auf der Violine spielen durfte, das Geschenk einer Freundin, um meinen größten Wunsch zu erfüllen.“
Diese Zeilen schreibt mir Amena Karimyan am frühen Abend des 19. August 2021 aus Kabul. Seit Wochen versteckt sie sich, traut sich kaum mehr auf die Straße. Wie und ob ihr Leben weitergehen wird, weiß sie nicht. Ein Leben, für das sie schon bisher nahezu jede Minute kämpfen musste. Afghanistan, das Land, in dem die 25 Jahre junge Frau sich gegen so viele Widerstände eine Existenz aufgebaut hat, wo sie Pläne schmiedete und das sie mit ihrer Arbeit voranbringen wollte, zerfällt um sie herum, schneller als sie oder sonst jemand es für möglich gehalten hätte. Die radikalislamistischen Taliban übernehmen eine Stadt nach der anderen, die Angst vor den Gräueln ihres Regimes, das bis vor 20 Jahren an der Macht war, durchdringt jedes Wort, jede Bewegung, jeden Blick. „Wir gehen nicht 20 Jahre zurück, diesmal ist es ein ganzes Jahrhundert“, so Amena verzweifelt und fassungslos. Jene aus der Generation zwischen zwanzig und dreißig, die sich nicht den religiösen Fanatikern anschließen wollen, verlieren alles, wofür sie ein Leben lang gearbeitet und gekämpft haben. Mit ihnen verliert ein Land seine Zukunft.
Auch Herat ist gefallen, die Provinzstadt ist mit ihren rund 630.000 Einwohner*innen mehr als doppelt so groß wie Graz. Hier wurde Amena geboren, hier hat sie bis vor kurzem gelebt und gearbeitet.
In den nächsten Wochen und Monaten werden wir eine Brücke zwischen den beiden Städten spannen, sie, die Herat verlassen musste und für lange Zeit im Nirgendwo zwischen den Welten festsitzen wird. Ich, die von Graz aus versucht, einen Weg zu finden, der sie, ihr Wissen und ihre so früh gesammelten Erfahrungen über diese Brücke bringen kann. In einer Zeit, in der die Pandemie der Distanz jene der Abschottung, die schon viel länger grassiert, noch einmal mehr befeuert und die Zäune und Mauern um Europa immer höher wachsen lässt, werden aus zwei einander unbekannten Frauen „zwei Freundinnen aus zwei verschiedenen Welten“, so Amena viel später. Die einzige Barriere zwischen diesen Welten ist weder die unterschiedliche Sprache, noch die Geschichte, Religion oder Kultur, sondern ausschließlich jene Barrieren, die verhindern, einander kennen- und verstehen zu lernen. Das wollen wir ändern, als Wissenschaftlerinnen, Autorinnen und Menschen.
30. Juli – Von Herat nach Kabul
Es ist der 30. Juli 2021, die Taliban rücken rasch vor, bald würden sie auch Herat einnehmen. Amena hat längst gepackt, nun schließt sie sich einem kleinen Konvoi von Menschen an, die ebenfalls fluchtartig die Stadt verlassen. In Herat ist Amenas Familie – ihre Eltern, ihre fünf Schwestern mit all ihren Nichten und Neffen –, ihre Freunde, ihre Bücher, ihre Notizen, ihr zu Hause. Alles lässt sie zurück, von einem Tag auf den anderen, um in die Hauptstadt Kabul zu fliehen. Auch ihre Social Media Accounts hat sie stillgelegt, zu groß ist die Furcht vor Wiedererkennung. Als sie nach Kabul aufbricht, hat sie sich nicht einmal von ihrem Vater verabschiedet. Ob sie ihn oder sonst jemand aus ihrer Familie je wiedersehen wird, steht in den Sternen.
Für die Sterne hat Amena schon früh eine starke Faszination entwickelt, die von allem Unbill ungebrochen immer weiter gewachsen ist. Sie hat alles über Astronomie aufgesogen, gelesen, was sie finden konnte und sich später lokalen Diskussions- und Forschungsgruppen angeschlossen. Fast immer war sie dabei eine der jüngsten – und die einzige Frau. Amena will Astronomie studieren, denn „Astronomie ist die gelebte Sprache des Universums“. Doch das geht in Afghanistan nicht, es gibt kein einziges astronomisches oder astrophysisches Institut. So entscheidet sie sich für Ingenieurswissenschaften, arbeitet gleichzeitig in diversen Jobs, finanziert sich ihr Studium selbst, darauf legt sie wert. Kaum etwas hasst Amena so sehr wie Abhängigkeit; davon hat sie als junge Frau in Afghanistan auch schon vor der Übernahme der Taliban viel zu viel. Sie wählt trotzdem ein technisches Studium, von dem ihr alle sagen, dass es nur etwas für Männer sei. Beschimpfungen, Spott und Hohn begleiten sie tagtäglich, bis hin zu Übergriffen. Sie weigert sich, eine Burka zu tragen und selbst den obligatorischen Tschador reduziert sie auf das Notwendigste. Auch das bringt ihr Verachtung und Gefahr ein. Ihre zweite Leidenschaft ist die Literatur, sie rezitiert Gedichte, aber sie schreibt auch zusehends gegen die Unterdrückung von Frauen an und liest ihre Texte öffentlich. Mit ihren männlichen Kollegen in Studium und Arbeit tauscht sie sich aus, geht diskutierend durch die Straßen. Was in anderen Teilen der selben Welt zur selben Zeit so selbstverständlich erscheint, nicht mal eine Erwähnung wert, kostet sie jeden Tag immense Kraft, Durchhaltevermögen und Mut. 2017 schließt sie ihr Studium als Zivilingenieurin ab. Als solche interessiert sie sich für das Funktionieren einer Stadt, für die Nutzung von Ressourcen, Wirtschaftsfragen und konkrete Lösungen von Problemen. In einem Infrastrukturprojekt der EU arbeitet sie bis Juli 2021 im Rathaus von Herat. Sie will ihre Stadt weiterentwickeln, die zahlreichen Schwierigkeiten in Angriff nehmen. Schon bisher hat sie Essenspakete für Straßenkinder organisiert, Mädchen zur Schule angemeldet, und sie bestärkt, diese nicht wieder abzubrechen. Zudem engagiert sie sich für den Schutz von Zivilist*innen während des Krieges.
Kayhana öffnet ihr Türen, die sie wiederum für andere junge Frauen aufstößt. Sie bekommt erstmals internationale Kontakte, knüpft an ein weltweites Netzwerk von astronomischen Einrichtungen an, die Gruppe nimmt erfolgreich an Wettbewerben teil. Die Existenz und die Erfolge von Kayhana, sowie ihr öffentliches Eintreten für die Rechte von Mädchen und Frauen bringen ihr bald lokale Medienpräsenz – und damit die Wut der Taliban ein.
Wochen später werden diese am Grenzübergang mit Verachtung auf ihre wissenschaftlichen Bücher blicken und ihr sagen, dass eine Frau, die so etwas bei sich trägt, nur den Tod verdiene.
Durch ihre öffentliche Präsenz bin auch ich auf Amena und ihre Liebe zur Astronomie aufmerksam geworden. Mit Ausbruch der Coronapandemie haben wir in der ausreißer-Redaktion die Interview-Serie Stimmen aus der Krise, Stimmen gegen die Krise ins Leben gerufen, um Kommunikation über Distanzen hinweg nicht einzustellen, sondern im Gegenteil zu vertiefen. Im Laufe der Zeit haben sich daraus langfristige Kollaborationen und Austausch auf vielfältigen Ebenen entwickelt. Wir erfahren, wie groß die aktuelle Lücke und gleichzeitig der Bedarf an fundierter Information und vertiefenden Perspektiven ist, die tatsächliches Verständnis ermöglichen.
Als sich die Situation in Afghanistan immer rasanter verschärft, ist uns klar, dass wir rasch handeln müssen. Wir koordinieren uns mit Kolleg*innen aus kulturellen und wissenschaftlichen Institutionen, der Kulturvermittlung Steiermark, dem esc medien kunst labor, Instituten der Karl-Franzens-Universität Graz und schließlich der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Von wievielen Seiten und Ebenen es unmittelbares Interesse und Anknüpfungspunkte gibt, realisieren wir erst jetzt. Also bündeln wir die Einladungen für Amena Karimyan nach Graz und Wien, planen gemeinsam Austausch, Vorträge, Forschungsmöglichkeiten. Eines ist uns allen klar: Ihre Stimme soll und muss hörbar sein. Afghanistan ist in Österreichs Medien fast ausschließlich in den Zahlen der Toten beim jeweils letzten Bombenanschlag präsent. Dass Frauen massiv benachteiligt sind, ist naturgemäß auch nicht unbekannt. Aber was das konkret bedeutet, wissen oder können sich nur die wenigsten vorstellen, erst recht für eine junge Frau, die versucht, als Naturwissenschaftlerin Fuß zu fassen. Umgekehrt hat die Situation massive Auswirkungen auf gesellschaftliche, wissenschaftliche, künstlerische Entwicklungen, und im Jahr 2021 sind diese keineswegs lokal begrenzt.
Denn dafür muss Amena Karimyan zu allererst raus aus Afghanistan. Das versuchen in diesen Tagen und Wochen tausende Menschen. Amena passt in kein bestehendes Evakuierungsprogramm, sie hat nie für internationale Militärs oder Konzerne gearbeitet. Wir wenden uns an die österreichische Botschaft in Islamabad, die Österreichs Angelegenheiten in Afghanistan mitbetreut. Für einen Visumsantrag hat Amena alle Papiere, doch ein solcher könne nur persönlich gestellt werden, sagt man uns. Aber wie über die Grenze kommen? Pakistan hat diese schon längst geschlossen und die Taliban errichten einen Checkpoint nach dem anderen.
15. August 2021 – Kabul fällt
Am 15. August 2021 nehmen die Taliban Kabul ein. Dass die Hauptstadt so schnell fällt, entsetzt scheinbar die ganze Welt. Tags darauf eine Nachricht von Amena, verzweifelter als je zuvor: „Die Taliban kommen in unser Haus, sie sind da, jetzt!“ Zusammen mit anderen Frauen versteckt sie sich im oberen Stock des Hauses, in dem sie in Kabul Zuflucht gefunden hat. Im Minutentakt schildert sie mir via WhatsApp, was vor sich geht. „Sie durchsuchen das Haus, sie filmen. Ich hoffe, sie kommen nicht in unser Zimmer.“ Ich zittere. Ich sitze 5000 Kilometer entfernt, bin dabei und gleichzeitig unendlich weit weg. Ich kann mir kaum vorstellen, was sie gerade durchmacht, solche Angst habe ich nicht erlebt. Ebensowenig wie solche Machtlosigkeit in all ihrer Unmittelbarkeit. „Es herrscht ein riesiges Chaos. Es ist ein Horror.“ Sie nehmen sich, was sie brauchen, draussen entwaffnen sie die Sicherheitsleute des Komplexes. Schließlich ziehen sie ab. Doch sie kündigen an, wiederzukommen.
Bis jetzt haben wir fast ausschließlich schriftlich kommuniziert, doch nun halte ich es nicht länger aus und rufe sie an. Ich bin unsagbar erleichtert, als ich ihre Stimme höre.
Amenas Muttersprache ist Dari, Persisich und Farsi eng verwandt. Obwohl die meisten theoretischen Bücher ihrer Fakultät auf Englisch verfasst sind, hatte sie nie die Möglichkeit, die Sprache zu sprechen. Auch das ist meist ein Privileg der Männer. Dennoch tauschen wir uns über WhatsApp in Englisch aus, GoogleTranslate macht es möglich. Denn umgekehrt beherrsche ich kein Wort Dari, kann keinen einzigen Buchstaben lesen. Sie wird in langen Tagen und Nächten des Wartens versuchen, mir einzelne Begriffe beizubringen, doch die Struktur und der Klang sind so komplex, dass ich mir kaum etwas merken kann. Sie hingegen wird künftig nahezu die gesamte Kommunikation, von der ihr Leben und damit das ihrer Familie abhängt, in einer Sprache führen müssen, die sie nicht spricht und die nicht die ihre ist.
Die österreichische Botschaft wird aktiv und setzt Amena auf ihre Liste jener Personen, denen man beim Verlassen des Landes helfen will. Die Bedingung: Sie kommt allein. Österreich schickt im Gegensatz zu anderen Ländern weder Flugzeuge noch Konvois zur Evakuierung. Die Diplomat*innen sind ausschließlich beim Grenzübertritt nach Möglichkeit behilflich. Es bleibt einzig der Landweg, wie fragt niemand.
19. August – Wenn ich es nicht lebend hier raus schaffe…
Sprache, Stadt, die Menschen, die sie liebt. Nun ist der Moment der Entscheidung gekommen. Ich habe Angst, ihr zu raten, sie zu ermutigen und gleichzeitig, es nicht zu tun. Ich kann die Lage nicht einschätzen und sage ihr das auch. „Du hast mich innerlich nicht sterben lassen, das ist so wichtig für mich“, schreibt sie mir. Ihre Familie ist dagegen, dass sie allein aufbricht, doch einmal mehr setzt Amena sich durch. Während ich, egal wie sie sich entscheidet, um ihr Leben bange, hat sie ihren Entschluss gefasst. Sie wird gehen. Schließlich stimmt auch ihre Familie zu. Amena wird sich ganz allein auf den lebensgefährlichen Weg nach Pakistan machen. Sie erfüllt die Bedingung der österreichischen Botschaft.
Inzwischen verbreitet sich das Gerücht, das Internet werde bald abgeschalten. Wie sollten wir dann noch Kontakt halten? Es passiert nicht, doch die Angst ist da, kein Tag vergeht ohne Hiobsbotschaften und Gerüchte gibt es unzählige. Wie noch unterscheiden zwischen Wahr und Falsch? So schnell wie die Meldungen auftauchen und wieder verschwinden fällt es auch uns als Journalist*innen schwer, sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen bzw. ist es mitunter schlicht unmöglich. Doch sie tun ihre Wirkung. Sie zermürben Menschen, die ohnehin schon um ihr Leben bangen, noch weiter. Sie schüren Misstrauen und Furcht.
Nun drängt Amenas Familie sie zum Aufbruch. Die Angst, dass ihr etwas zustößt, wächst jeden Tag mehr. Auch die Nachrichten über die Lage an den Grenzen sind kaum zu verifizieren. Wo wann wer wie durchkommt, kann sich innerhalb von Stunden ändern.
24. August – Nach Torkham, erster Versuch
Am 24. August wagt Amena den ersten Versuch, über die Grenze zu kommen. Zwischen Kabul und dem nächsten Grenzübergang in Torkham liegen über sechs Stunden Autofahrt auf unsicheren Straßen und zahlreiche Checkpoints der Taliban. Die Familie ihrer Schwester bringt sie an die Grenze, im Wissen, selber wieder zurück zu müssen, mit dabei deren kleiner Sohn, gerade mal zwei Jahre alt. Sie fahren los, und ich hoffe inständig, dass sie die Reise unbeschadet überstehen. Auf der anderen Seite wartet der Fahrer, den wir über private Kontakte buchstäblich um die halbe Welt organisiert haben, vergeblich, um sie von Torkham nach Islamabad zu bringen. Immer wieder versucht sie, die Grenzer zu überzeugen, immer wieder wird sie rüde abgewiesen. Sie hält mich über WhatsApp auf dem Laufenden, stundenlang. Ich texte verzweifelt der Botschaft, bitte um Unterstützung, diese wird auch zugesagt. Allein, sie scheint nicht zu wirken. Es wird Abend und Amena ist immer noch nicht auf der anderen Seite. Für die Rückfahrt nach Kabul ist es zu spät, zu gefährlich wäre die Tour im Dunkeln. Sie beziehen ein Zimmer in einem Guesthouse nahe des Grenzübergangs. Es ist verdreckt, laut, sie werden beschimpft, bedroht. Dreimal werden sie in dieser Nacht die Räume wechseln, aus Angst vor Angriffen. Ich schlafe kaum, hier in meiner Sicherheit, habe ich ihr falsch geraten? Wie konnte ich sie noch mehr in Gefahr bringen! Habe ich das? Am nächsten Morgen fragt sie verzweifelt, was sie tun soll. Ich habe keine Ahnung, bei der Botschaft kann man mir nicht sagen, ob und wann es gelingen wird, eine Genehmigung zu bekommen. Aber tagelang ausharren kann sie nicht, auch für ihre Schwester und deren Familie ist das unmöglich. Fix und fertig fahren sie zurück nach Kabul. Ihr kleiner Neffe wird krank.
30. August – Die letzte US-Maschine hebt ab
Am 30. August hebt die letzte US-Maschine vom Flughafen in Kabul ab, der Luftraum sei jetzt „unkontrolliertes Territorium“. Zurück bleibt ein gebrochenes Land und Millionen Menschen in Angst und Verzweiflung. In der Nacht schickt mir Amena Videos, in der Dunkelheit blitzen einzelne Lichter am sternlosen Himmel auf, deutlich sind Schüsse und Explosionen zu hören. Sie erträgt diese Geräusche längst nicht mehr. „Wir sind alle in Panik, ganz Kabul ist wach. Überall wird geschossen. Rund um den Flughafen fliehen die Menschen aus ihren Häusern, aber keiner weiß wohin. Es ist schlimmer als je zuvor. Die Taliban feiern mit dem Blut der Menschen.“ Es sind Siegesschüsse, die die Taliban abfeuern. Später wird zu lesen sein, wieviele Menschen im Kugelhagel ihres Triumphes starben.
5. September – Ein Visum für Pakistan
Die österreichische Botschaft verhandelt für jene, die auf ihrer Listen stehen, die Ausstellung pakistanischer Visa. Für Amena ist es schließlich am 5. September soweit. Als sie das Papier am Schalter der pakistanischen Botschaft in Kabul abholt, zittert sie, diesmal vor Freude. Sie ist unsagbar erleichtert. Zum ersten Mal hat sie eine greifbare Hoffnung.
9. September – Nach Torkham, zweiter Versuch
Kurz darauf macht sie sich ein weiteres Mal auf den Weg nach Torkham. Wieder Staub, gefährliche Straßen, eine stundenlange Fahrt vorbei an bewaffneten Kontrollen Richtung Grenze, unterwegs Werbung der Taliban für Koranschulen an den Wänden und immer wieder ihre schwarzweißen Flaggen. Aber diesmal hat sie einen „Letter of Protection“ der österreichischen Botschaft im Gepäck, in dem steht, dass „ein Visum zur Einreise nach Österreich an der österreichischen Botschaft Islamabad“ bereitliege.
Unter dieser Voraussetzung wird der Einreise vom pakistanischen Innenministerium zugestimmt. Doch als Amena Karimyan am 9. September in Torkham ankommt erwartet sie dasselbe wie beim letzten Mal – nur schlimmer. Erst schicken die Taliban sie zurück, immer wieder. Sie beschimpfen sie wüst und drohen ihr Gewalt an. Sie verweist wiederholt auf den österreichischen Schutzbrief, aber sie kommt nicht weiter.
Schließlich hat man alle Wartenden passieren lassen – nur sie nicht. Sie ist wütend und verzweifelt. Als Dari sprechende Tadschikin ist sie ein Leben lang massiver Diskriminierung ausgesetzt und in ihrem Land als Mensch zweiter Klasse behandelt worden, und jetzt will man sie auch noch daran hindern, es zu verlassen. Doch auch von pakistanischer Seite kommt keine Unterstützung, im Gegenteil. „Der Geist von uns allen ist gebrochen. Auf der einen Seite die Taliban, die befehlen, den Hijab zu tragen und uns Waffen an die Stirn halten. Auf der andern Seite ein pakistanischer Soldat, der uns die Grenze auch nicht überqueren lassen will“, schreibt sie bitter. Stundenlang wartet sie in brütender Hitze, in Ganzkörperverhüllung und Wollmaske. Der Akku ihres Handys geht zur Neige, es gibt keinen Strom vor Ort. Sie schickt mir die Nummer ihres Schwagers, der mitgekommen ist, wieder mit ihrer Schwester und dem kleinen Neffen. Irgendwann ist sie mit den Nerven am Ende. „Evelyn, ich halte das nicht mehr aus, ich gehe zurück nach Herat, egal was mit mir passiert. Ich kann das meiner Schwester nicht länger antun.“ Ich beknie sie, abzuwarten. Mir ist klar, die Botschaft arbeitet, doch gerade wird keiner unserer verzweifelten Anrufe beantwortet. Ich bin zerrissen, einmal mehr – rate ich ihr das Richtige? Bringe ich alle noch mehr in Gefahr? Ich kann sie doch jetzt nicht zurückgehen lassen. Ich habe die Versicherung der Botschaft, dass die pakistanische Seite ihre Zustimmung zum Grenzübertritt gegeben hat. Warum kommt sie dann jetzt nicht durch? Warum hilft ihr niemand? Noch einmal ergreift sie selbst die Initiative, auf einem Parkplatz in der Nähe lädt sie ihr Handy bei einem der Autos auf. Aus der Botschaft heißt es, sie solle warten. Wie lange, schreiben sie nicht. Ein „Urgent Letter“ sei in Vorbereitung. Der soll helfen, die Grenzer zu überzeugen. Sie schicken ihr schließlich eine „Note Verbale“, in der die pakistanischen Autoritäten dringend gebeten werden, sie als „Bürgerin, die eine österreichische Aufenthaltserlaubnis („resident permit“) bekommen wird“, über die Grenze zu lassen. „Die österreichischen Behörden übernehmen die volle Verantwortung, dass Frau Karimyan Pakistan in kürzestmöglicher Zeit verlässt.“ Wieder stimmt das pakistanische Innenministerium zu und gibt Anweisung, sie passieren zu lassen. Allein, es geschieht nicht.
Amena hat panische Angst. Sie ist die einzige Frau rundum, die Blicke und Drohungen der Taliban treffen sie immer und immer wieder. Es wird Abend, zu spät, um nach Jalalabad, die nächstgelegene große Stadt, zu fahren. Wieder beziehen sie Quartier im selben Guesthouse. Wieder bleibt sie wach. Taliban gehen von Tür zu Tür, lärmen, drohen. Niemand schläft. Wir bleiben auf WhatsApp, die ganze Nacht. Sie erzählt mir von Kayhana, von der Begeisterung der Mädchen, schickt mir Fotos von ihren Treffen. Irgendwann driftet die Kommunikation zu Literatur, ihrem ersten Manuskript, dass sie zusammen mit einer Kollegin veröffentlichte, sie erzählt von Büchern, die sie gelesen hat, und wir finden erstaunlich viele, die wir beide kennen. Hier ist es weit nach Mitternacht, in Torkham gegen vier Uhr morgens. Sie war schon die Nächte zuvor fast durchgehend wach. Schließlich verspricht sie mir, wenigstens ein bisschen zu schlafen. Mir fallen die Augen zu, zwei Stunden später wache ich auf, sie ist noch immer online.
10. September – Über die Grenze
Um sechs Uhr früh lese ich Amenas Nachricht, die Taliban hätten sie mit vorgehaltenen Waffen zurückgedrängt, ihr das Gewehr an die Schläfe gehalten und gedroht, abzudrücken, wenn sie auch nur einen Schritt weiter mache. „Hier traut sich niemand ein Wort zu sagen, die Antwort sind immer nur Waffen.“
Ihre Panik wächst, aber sie wartet weiter. Setzt sich. Drei Taliban kommen vorbei, beschimpfen sie, einer schlägt mit der Peitsche zu. Sie zittert am ganzen Körper, Tränen der Angst und der Verzweiflung. Sie will nur weg, egal wohin. Sie folgen ihr zurück zum Guesthouse, beschimpfen sie weiter, drohen. Ihre Schwester brüllt sie an zu verschwinden. Ein lebensgefährlicher Akt der Verzweiflung. Ich sitze im sicheren Wohnzimmer und lese alles nahezu in Echtzeit mit. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Was mache ich hier, während sie um ihr Leben kämpft? Wenn ihr was passiert, werde ich mir das nie verzeihen, vergessen werde ich diese Tage ohnehin nicht.
Sie versucht es weiter. Am späten Vormittag reißt plötzlich für zwanzig Minuten die Verbindung ab. Dann endlich, eine Nachricht. „Die Taliban haben mich verhaftet.“ Ich bin geschockt, was ist passiert? Sie antwortet nicht. Fünf Minuten, zehn Minuten, eine halbe Stunde. Eineinhalb Stunden später blinkt eine Meldung von ihr am Display. Die Taliban haben sie festgenommen, zu ihrem Chef gebracht, ihre Daten aufgenommen, von allen die Papiere gescannt. Was sie noch getan haben, ist sie nicht imstande, zu beschreiben. Sie scheint sich zwischen den Grenzen zu befinden. Der Akku ihres Telefons ist wieder fast leer. Dann höre ich zwei Stunden nichts mehr. Endlos.
Die erlösende Nachricht kommt vom Fahrers auf der pakistanischen Seite, der auch diesmal seit dem frühen Morgen auf sie wartet. Sie hat es geschafft, sie ist drüben! Ich weiß nicht, wann ich zuletzt so erleichtert war. Auch Amenas Handy hat wieder Netz. Umgehend schreibe ich der Botschaft und erfahre, dass Amena sich dort bereits selbst gemeldet hat. Das Schlimmste hat sie geschafft. Jetzt kann nicht mehr viel schiefgehen – denke ich.
Über Bekannte haben wir ein sicheres Hotel für sie organisiert, wo sie erstmal zu sich kommen soll. Doch ist das überhaupt möglich? Nach allem, was sie durchgemacht hat, ist sie in einem ihr fremden Land gestrandet, die pakistanische Landessprache Urdu spricht sie nicht. Sie ist zum ersten Mal außerhalb Afghanistans und sie ist ganz allein.
16. September – Erster Termin bei der Österreichischen Botschaft
Drei Tage nach ihrer Ankunft erhält sie die Verständigung über ihren ersten Termin bei der österreichischen Botschaft. Entgegen früheren Auskünften, in denen sie aufgefordert wurde, ein Visum der Kategorie C für drei Monate zu beantragen, soll sie nun die Unterlagen für ein Visum der Kategorie D mitbringen. Zunächst sind wir erfreut, ein solches gilt für sechs Monate und gibt ihr mehr Zeit für ihre Aktivitäten in Österreich. Sie bestätigt den Termin umgehend und bereitet sich akribisch vor. Ich helfe per WhatsApp mit Erklärungen, wenn Google Translate an der Bürokratie der Formulare scheitert. Sie sammelt alle nötigen Dokumente, findet einen Copy Shop für die geforderten Kopien. Als sie sich am 16. September auf den Weg zur Botschaft macht, hat sie außerdem noch Safran aus Herat eingepackt, als kleine Dankesgeste für die Hilfe. Sie ist nervös, hat Angst, etwas falsch zu machen, die Situation ist völlig neu für sie. Gleichzeitig freut sie sich, endlich nach Österreich zu kommen. Sie ist neugierig auf den Austausch mit jenen Leuten, die sie eingeladen haben, schon vorher hat sie mich nach allen Details gefragt, über persönliche Arbeitsschwerpunkte und Interessen der Personen, die Tätigkeitsfelder der Institutionen und Arbeitsweisen der Organisationen. Doch so sehr sie sich auch inhaltlich auf ihren Aufenthalt vorbereitet, so wenig Erfahrung hat sie mit bürokratischen Abläufen.
Als sie sich nach dem Gespräch meldet, ist sie aufgelöst. Sie hätte nicht alle Fragen beantworten können. Ja, selbstverständlich möchte sie nach Österreich, um ihre Einladungen anzunehmen, was sonst? Natürlich will sie die Zeit ihres Aufenthalts auch nutzen, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Was danach kommt? Woher soll sie das jetzt wissen? Sie ist gerade dem Horror der Taliban entronnen, sie macht sich furchtbare Sorgen um ihre Familie, die jetzt, nach dem Aufsehen, das sie erregt hat, noch mehr zur Zielscheibe wird. Sie hat keine Ahnung, was sie tun wird können und was nicht. Wie soll sie erklären, was in sechs Monaten sein wird? „Evelyn, ich fühle mich so hilflos.“ Der Safran ist noch immer in ihrer Tasche, die sie am Eingang abgeben musste.
Man hat sie aufgefordert, weitere Dokumente nachzureichen, das tut sie am 24. September, im selben Email schickt sie wie ebenfalls verlangt ein Terminanfrageformular für ein Folgegespräch.
Am 1. Oktober antwortet ihr die Botschaft mit einem standardisierten Email, das einen weiteren Link zu einem Formular zur Terminvergabe enthält. Auch dieses füllt sie pflichtschuldig aus und schickt noch am selben Tag ein Antwort-Mail zurück.
In den Tagen dazwischen streckt sie vorsichtig die Fühler aus, und wieder ist es ihre Leidenschaft für die Weiten des Weltalls, die ihr Mut gibt. Die junge Wissenschaftlerin verschafft sich einen Überblick über astronomische Institutionen in Islamabad und trifft sich schließlich mit einer Gruppe pakistanischer Astronomen zur nächtlichen Sternenbeobachtung. Nicht ohne zuvor Sicherheitsfragen abzuwägen, zu groß ist ihre Furcht auch hier vor Angriffen. Kurz bevor sie ihr Hotelzimmer verlässt, schickt sie mir ein Foto, auf dem sie Jeans, T-Shirt, offenes Haar trägt. „Ich wünschte, ich könnte so rausgehen“, schreibt sie darunter.
12. Oktober – Zweiter Termin bei der Österreichischen Botschaft
Vom Konsulat kommt keine Nachricht. Sie wird immer ängstlicher. Am 6. Oktober heißt es auf Rückfrage, das Formular für das Visum D fehle noch immer. Kein Wort über das Email, dem sämtliche geforderte Unterlagen beigefügt waren. Aber Amena bekommt nun endlich den Termin zum zweiten Gespräch.
Am 12. Oktober, da soll sie auch das Formular wieder mitbringen. Gewissenhaft füllt sie es also zum dritten Mal aus, diesmal von Hand, und legt es, mit allen weiteren Dokumenten, im Konsulat vor. Wieder weiß sie nicht, was sie erwartet, wohl aber, dass ihr Leben von der Entscheidung jener Leute abhängt, denen sie gleich wieder gegenübersitzen wird.
Doch diesmal sind es andere Mitarbeiter, auch das Gespräch sei völlig anders verlaufen, berichtet sie kurz darauf. Man habe ihr gesagt, sie hätte lediglich eine 50:50 Chance – und ihr schon wieder ein Formular mitgegeben, nun doch für ein Visum der Kategorie C. Auf keine ihrer Fragen hätte sie eine Antwort bekommen, keine Erklärung, nichts. Nur wieder das Formular. Eine Stunde später retourniert sie es ausgefüllt an die Botschaft.
13. Oktober – Die Ablehnung
Diese reagiert nun rasch. Schon am nächsten Tag wird sie wieder einbestellt. Doch jetzt wird sie nicht einmal eingelassen. Am Eingang drückt man ihr einen Bescheid in die Hand, den sie zu unterschreiben hat. Es ist die Ablehnung ihres Visums. Die darin angeführte Begründung: Ihre Ausreise nach Ablauf des Visums aus Österreich sei nicht gesichert.
Sie steht unter Schock, ist vollkommen haltlos. Irgendwann wird sie mir schreiben: „Ich dachte, vielleicht verdiene ich es einfach nicht, in dein Land zu kommen. Vielleicht bin ich wirklich so wenig wert. Schlimmer als die Verzweiflung ist die totale Zerstörung des Selbstwertes. Das tötet einen von innen.“ Ihr Ton hat sich verändert, ihre Abwesenheiten werden länger. Ich mache mir Sorgen. Zurecht, wie sie mir viel später eingestehen wird. „Eine Zeitlang habe ich an Selbstmord gedacht.“
Sie hat zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen alles verloren. Doch diesmal ist es nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft, die man ihr entrissen hat.
Ich schäme mich in Grund und Boden. Was ist unser Entsetzen über die Taliban wert, wenn man jenen, die vor ihrer Bedrohung fliehen, die Tür vor der Nase zuschlägt? Gelten Frauenrechte in Österreich tatsächlich nur für die, die zufällig mit dem richtigen Pass auf die Welt gekommen sind?
Wie kann die Regierung eines Rechtsstaates lebenswichtige schriftliche Zusagen abgeben und sie dann kommentarlos ignorieren? Zusagen nicht nur gegenüber eine jungen Frau in Gefahr, sondern auch gegenüber den Behörden eines anderen Staates, Pakistan?
25. Oktober – Einspruch
Gegen den Bescheid erhebt sie schließlich am 25. Oktober Einspruch, diesem legt sie drei weitere Einladungen renommierter Institutionen aus Kroatien, Serbien und Kanada/USA bei, die ihre Reisepläne belegen. Alle betreffen den Zeitraum nach Ablauf des beantragten Visums.
10. November – Neuerliche Ablehnung, selbe Begründung
Doch auch das lässt die Behörden kalt. Am 9. November bestellt man sie ein weiteres Mal telefonisch für den folgenden Tag zur Botschaft. Am Morgen des 10. November wird ihr dort ein weiteres Mal wortlos die neuerliche Ablehnung ausgehändigt. Da stehe alles drin, lautet die einzige Auskunft, die sie zu hören bekommt. Die Begründung ist nahezu wortgleich wie die in der ersten Abweisung. Genau heute vor zwei Monaten, am 10. September, ist sie den Taliban entronnen. Nun sitzt sie in der Falle.
In der Falle
Eine Rückkehr nach Afghanistan würde Amenas Tod bedeuten. Ihre Grenzüberquerung hat nicht nur die Aufmerksamkeit der Taliban, sondern vor allem deren Zorn erregt. Wie konnte diese junge Frau eine solche Aktion wagen und auf ihrer Freiheit bestehen? Doch jetzt scheint auch diese Freiheit ein Trugbild zu sein. In all den Wochen sind die Nachrichten über die verheerende Situation in Afghanistan nicht abgerissen. Mädchen werden aus dem Schulunterricht verbannt, Universitäten geschlossen, eine noch nie gesehene neue Kleiderordnung für Frauen eingeführt, die noch weniger als die Burka den Mensch unterm schwarzen Stoff erkennen lässt, Leute werden ausgepeitscht, verschleppt, ermordet. In Herat finden öffentliche Exekutionen statt und der kleinste Widerstand wird von den Taliban im Keim erstickt. Freunde und Familienmitglieder von Amena fliehen, verschwinden, verstecken sich in panischer Angst vor ihren Verfolgern. Nach und nach häufen sich auch die Meldungen von Angriffen in Pakistan. Als ein Zivilingenieur, der für die Stadtverwaltung von Kabul gearbeitet hat, in Islamabad auf offener Straße erschossen wird, versetzt dies Amena tagelang in Furcht. Wie aktiv die Taliban in Pakistan sind, weiß die Welt spätestens seit dem Anschlag auf Malala Yousafzai. Knapp zehn Jahre später sind sie nun auch noch zurück an der Macht.
Die Stimme erheben
Sowohl als Journalistin als auch Akteurin weiß ich um die Notwendigkeit, diese Geschichte zu erzählen. Ob meiner persönlichen Involviertheit ist es allerdings unmöglich, dies aus professioneller Distanz zu tun. Daher bitte ich Kolleg*innen um ihre Einschätzung. Alle, denen ich die Abläufe schildere, sind entsetzt. Wie konnten die Verantwortlichen Amena in eine solche Lage bringen? Medien greifen die Geschichte auf und beginnen, zu berichten. Am 22. November startet SOS Mitmensch eine Petition, die am 16. Dezember als Eil-Appell dem Außenministerium übergeben wird. In nicht einmal einem Monat haben übe 7400 Menschen die Forderung unterschrieben, der jungen Astronomin das ihr zugesicherte Visum umgehend auszustellen und sie nach Österreich zu holen. Es treffen zahlreiche Solidaritätsbekundungen ein, die erste ist von Elfriede Jelinek: „Das Schlimmste, das ich mir vorstellen kann, ist, einem Menschen, der am Ertrinken ist, die Hand hinzuhalten und sie dann im letzten Moment doch noch wegzuziehen. Einem Menschen Hoffnung zu machen und die Rettung im letzten Augenblick zu verweigern. Das hat das österreichische Außenministerium mit Amena Karimyan gemacht“, so die Literaturtnobelpreisträgerin. Sie ist zutiefst empört. „Wir haben schon genug Frauen und genug Forscherinnen, da brauchen wir uns nicht eigens noch welche zu holen, nicht einmal für ein paar Monate. Das haben sie sich vielleicht gedacht. Und Frauenrechtlerinnen brauchen wir hier sowieso nicht. Wer braucht die schon… Die arme junge Frau muss sofort unterstützt werden, so wie es ihr versprochen wurde. Das ist keine Frage.“
Für Burgschauspieler Cornelius Obonya ist das Verhalten des Außenministeriums „nicht tragbar.“ Denn: „Es zeigt Verachtung ihr gegenüber, es zeigt Verachtung der Situation fliehen müssender Menschen gegenüber und nicht zuletzt zeigt es Verachtung österreichischen wissenschaftlichen Einrichtungen gegenüber.“ Das findet auch Autorin Eva Rossmann und sieht einen einen „doppelten Skandal: Man nimmt das Terror-Regime der Taliban als Vorwand, um sie auszuladen. Man überlässt eine junge Frau, die sich auf offizielle österreichische Einrichtungen verlassen hat, schutzlos ihrem Schicksal. Um Bundespräsident Van der Bellen zu zitieren: So sind wir nicht! Hoffentlich.“
Erika Pluhar bringt die Zustände auf den Punkt. „Ein vom Außenministerium zugesichertes Visum plötzlich zurückzuziehen, weil man befürchtet, jemand, den man wert befand, aus Afghanistan nach Österreich einzureisen, könne diesen Aufenthalt vielleicht aus Not verlängern – was für ein menschenfeindliches Verhalten tritt doch dabei an den Tag. Nicht umsonst lud man Amena Karimyan ein. Eine anerkannte Wissenschaftlerin und Frauenrechtsaktivistin lud man ein. Wie sieht es dann mit Menschen aus – mit Frauen aus – die ohne unsere Akademie der Wissenschaften und ohne die Universität Graz in unserem Land Zuflucht suchen? Schmählich sieht es aus! Würdelos, engherzig und populistisch beatmet geht Österreich mit dem Thema Flucht, Flüchtlinge, Aufnahmebereitschaft um. Amena Karimyan, in Islamabad von der österreichischen Botschaft – trotz Zusage und Flugticket – ihrem Schicksal überlassen – ist ein trauriges Beispiel. Ich schäme mich.“
Ein Kollege auf Twitter erinnert: „Österreich hatte einmal einen Botschafter in Prag, der gegen die ausdrückliche Weisung des Außenminisers 50.000 Visa an Flüchtlinge ausstellte. Er hieß Rudolf Kirchschläger. Der Minister Kurt Waldheim. Der Vergleich macht sicher.“
Amenas Aufenthalt in Islamabad, der für wenige Tage geplant war und nun schon Monate dauert, können wir längst nur mehr durch ein privates Netzwerk und Spenden finanzieren. Gehen die aus, sitzt Amena Karimyan in Islamabad buchstäblich auf der Straße. Denn sie hat nichts, die paar Dollar, mit denen sie in Islamabad ankam, sind längst verbraucht. Ihren Eltern und Schwestern, alle Lehrerinnen, wurde ihr Gehalt schon seit Monaten nicht mehr ausbezahlt, sie wissen bereits jetzt nicht mehr, wovon sie leben sollen. Die Armut in Afghanistan wächst rasant. Das World Food Programm der Vereinten Nationen warnt vor einer Hungersnot. Für 8,7 Millionen gäbe es nicht mehr genug zu essen, um diesen Winter zu überleben. Bilder und Videos von Familien, die ihre kleinen Mädchen für umgerechnet 15 oder 20 Euro verkaufen, gehen durch die Medien. Allein, es interessiert nur wenige. Armut tötet leiser als Bomben.
Ursula Strauss, Schauspielerin und UN Botschafterin für die Orange the World-Kampagne gegen Gewalt an Frauen, ruft zur Unterstützung der 25-jährigen afghanischen Forscherin auf, ebenso Autorin Julya Rabinowich. „Was der jungen Frau versprochen wurde, nämlich ein Visum für Österreich, muss eingehalten werden! Hier geht es um Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und Haltung. So viel Anstand muss sein. Österreich ist ein Land und keine Boulevardzeitung.“
Die BBC hat die Astronomin im Dezember zu einer der 100 inspirierendsten und einflussreichsten Frauen 2021 gekürt, was für ein Gewinn wäre ihr Aufenthalt für Österreich. Wir wissen so wenig voneinander, dabei wäre der Austausch und das Lernen so leicht – und so notwendig, für alle. Doch man macht es so schwer.
Inzwischen hängt Amena Karimyan seit über drei Monaten in Pakistan fest. Noch immer wird ihr die Weiterreise nach Österreich verwehrt. Es gab ungezählte Versuche, Gespräche, Versprechungen, angekündigte oder tatsächliche Bemühungen. Doch ihre Lage ist nach wie vor unverändert – oder vielmehr, sie wird mit jedem Tag, den sie in Islamabad bleiben muss, gefährlicher.
Der Westen ist entsetzt von der Rückständigkeit und Brutalität der Taliban, wir empören uns über ihre Wissenschafts-, Kultur- und Frauenfeindlichkeit. Aber wir lassen es nicht nur geschehen, wir legitimieren ihre Taten auch noch, indem wir jenen nicht helfen, die von ihrem Regime verfolgt werden. Dabei fehlt es der Welt gerade jetzt daran am Nötigsten: dem Gegenteil von Ignoranz. Wir sollten alle nach den Sternen greifen.
Jänner 2022 – Wendepunkt und Neubeginn
Wie jedes Jahr sind in Österreich rund um die Weihnachtsfeiertage jede Menge warme Worte zu hören und zu lesen, so auch 2021. Doch diese Lichter am dunklen Himmel der Alpenrepublik scheinen nur innerhalb ihrer engen Grenzen. Dass es auch anders geht, beweist einmal mehr eine Entscheidung, von der wir kurz nach dem Jahreswechsel erfahren. Amena wird von Deutschland auf die Liste besonders bedrohter Afghan*innen gesetzt. Von diesem Moment an geht alles sehr schnell. Bei einem Termin in der deutschen Botschaft in Islamabad werden ihre Daten für die Ausstellung eines deutschen Visums aufgenommen. Wir sind überrascht und unglaublich erleichtert. Kurz darauf teilt man ihr den Abflugtermin mit, in drei Tagen! Trotzdem ich um die Verbindlichkeit dieser Zusage weiß, bleibt ein Bangen. Zu oft haben sich in letzter Minute scheinbar unüberwindbare Hindernisse aufgetan. Wird diesmal alles gut gehen? Am Tag vor dem Abflug erhält sie ihr Visum. Aufatmen. Noch einmal packt sie ihre Sachen, nun ist es soweit. Ein langer Weg liegt vor ihr, die Schrecken des Erlebten kann sie nicht zurücklassen. Später wird sie schreiben: „Ich habe mich selbst verloren.“ Ein letztes Foto am Flughafen von Islamabad, dann steigt sie zum ersten Mal in ihrem Leben in ein Flugzeug. Es bringt sie nach Europa, nach Deutschland, in Sicherheit. Spät in der Nacht vom 6. auf 7. Jänner leuchtet Amenas Nachricht bei mir auf: „Ich bin da.“
Eine Antwort
100. ausgabe – ausreisser.mur.at
[…] (Die ganze Geschichte ist in unserer Faltausgabe zulesen sowie online auf: https://ausreisser.mur.at/2021/12/20/nacht-ueber-oesterreich-fuer-afghanische-astronomin-2/) […]