gespenster zählen

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Martin Peichl (Text), Matthias Ledwinka (Fotos) ◄

Eskalationsstufen

ALS

Eine Art Erde für unsere Blumen, eine andere
für die Toten, lass mich dir die Karten legen,
sobald du bereit für die nächste Enttäuschung
bist, will dich wie einen Dinosaurier über dein
Aussterben hinwegtrösten, nichts wird bleiben,
wir werden keine tiefen Spuren hinterlassen,
wenn sie mich finden, dann mit deinem
Schlüsselbein in meiner Hand.

WIR

Jemand hat die Schaufensterpuppen bewegt über
Nacht, jetzt tanzen sie Walzer, vielleicht
handelt es sich aber auch Wrestling-Moves, die
wir im Vorbeigehen mit Tanzschritten
verwechseln, du kneifst mich, ich träume nicht,
alles ist echt.

NOCH

Was uns wie Mangel vorkommt, ist vielleicht
nichts weiter als Überfluss, wer zu tief in
deine Einkaufstasche greift, findet Scherben,
verliert zwei bis drei Schichten Haut, spendet
Blut.

INTAKT 

Dass Kämpfe mit Rivalen und Beutetieren
stattgefunden haben, belegen die verheilten
Rippenbrüche an Skeletten, ich zeige dir ein
Foto von zwei Sauriern, die ineinander
verbissen von einem Sandsturm verschüttet und
so für die Ewigkeit konserviert in der Wüste
Gobi ausgegraben wurden, Pachycephalosaurier
haben sich vermutlich zur Paarungszeit wie
Widder mit Rammstößen ihrer verdickten
Schädeldecken weithin hörbare Turniere
geliefert.

WAREN

Was wir besitzen: zusammengerafft, nichts davon
ausgesucht, deine Zunge plündert meinen Mund,
so will es der Plot des Katastrophenfilms, häng
mich zum Trocknen auf, über Nacht, häng mich
auf, werde verschwinden wie eine Wimper, die
fällt, schnell, wünsch dir was.

Wir sehen zu, dass wir beschäftigt sind

Was uns passiert ist, nennt man landläufig eine Geistergeschichte. Ich habe sie auf verstreuten Zetteln festgehalten und diese in sicherer Entfernung zueinander im Haus verteilt. Die Zeitung von heute ist die Zeitung von gestern, von vorgestern und so weiter, jemand muss vergessen haben, die Druckerei anzuhalten. Wenn sich die Lebensbedingungen grundsätzlich ändern, verschwindet auch die Mathematik, vielleicht kann ich deshalb nur noch tagsüber schlafen.

Draußen finde ich tote Bienen im Schnee und satte Vögel, die sie trotzdem aufpicken, unbeirrt weiterfressen. Ich kratze an Plakaten, bis die noch älteren Plakatschichten darunter zum Vorschein kommen, während sich in den Auslagen immer mehr Wasser sammelt, jeden Moment könnte das Glas zerspringen, platzen. Ich drücke mein Gesicht gegen die Scheibe, schaue den Schaufensterpuppen beim Schwimmen zu, was bleibt uns Voyeuren, jetzt wo alle weg sind, auch anderes übrig.

Die Briefkästen gehen über, mit Abschiedsbriefen und Werbesendungen. Ich weiß, du spürst sie auch, die große Erleichterung, ein weiteres Lebenskapitel abgeschlossen zu haben. Keine offenen Rechnungen mehr, nichts mehr zu verlieren. Lass uns nicht über die Folgen sprechen, reden wir lieber über Neuanschaffungen, darüber, welches Museum wir heute noch plündern werden. Ich habe gehört, im naturhistorischen, zwischen Krebsen, Spinnentieren und Insekten kann man sich so richtig schön verlieben.


Der Beitrag ist ein Auszug aus „Gespenster zählen“, einerTextsammlung von Martin Peichl mit Fotos von Matthias Ledwinka, die im Herbst 2021 bei Kremayr&Scheriau erscheint.