Regina Appel ◄
Dieses Mal war es eine kleine Grünfläche, gleich neben der Straße, an der mir das erste Plakat für die aktuelle Wahl aufgefallen ist. Fast einsam wirkte es, auf der von der Sommerhitze ausgebrannten Wiese. Fast einsam, denn in nur fünf Metern Entfernung stand das nächste. Die gleiche Partei, ein anderes Gesicht.
Ich gehe sehr gerne zur Wahl. Österreich ermöglicht mir in den letzten Jahren ausgesprochen oft das Vergnügen. Früher zählte ich mich zu den Briefwählern, aber mittlerweile habe ich mir ein Ritual zugelegt. Früh morgens ein Spaziergang. In die Runde eingebunden, mein Wahllokal, und der Weg zum Bäcker. Mit einem späten Frühstück beginnt der Informationsmarathon auf der Couch. Showtime.
Während ich vor dem Fernseher lungere kommt mir jedes Mal der Gedanke, die Wahlen mit Fußballmeisterschaften zu vergleichen. Man fiebert wochenlang mit, es wird gefoult, getrickst, und am Ende ist das Ergebnis ernüchternd, schnell wieder vergessen. Jedes Mal bin ich erstaunt über meine Sensationshungrigkeit. Geht es doch um so viel mehr, als um ein für wenige Wochen gut inszeniertes Medienspektakel. Doch für diese Wochen wird Politik zum Fernschauen gemacht. Diese Menschen wollen mich ansprechen, tun alles damit ich sie sympathisch finde, und ihnen gleichzeitig verzeihe, nicht ihrer Meinung zu sein. Wollen meine Stimme, um jeden Preis. Sind die Wahlen vorbei, fühle ich mich abserviert, vermute sie nur noch hinter den Gesichtern ihrer Regierungssprecher.
Bei jeder neuen Wahl erhoffe ich, dass sich etwas ändert. Dass mich das Wahlplakat nicht bloß verführen will, sondern mich ernst nimmt. Und bei jeder Wahl denke ich darüber nach, wie alles begonnen hat. Für mich. Wie das Werben um meine Stimme begann.
Seit fast 15 Jahren darf ich wählen. Davor war Politik für mich ein schwarzes Loch. Uninteressant, weit weg, wie vermutlich für die meisten Teenager am Land. Fragen der politischen Vielfalt stellten sich nicht. Damals gab es Rot und Schwarz. Ich kann mich erinnern gefragt zu haben, welche Menschen welche Partei wählen. Die Antwort war verwirrend: Angestellte wählen Rot, Bauern und Unternehmer Schwarz. Auf die Frage, was Bauern und Unternehmer gemein hätten, bekam ich keine Antwort mehr.
Sicher kannte ich einige Politiker. Zum Beispiel die, deren Portraits im Klassenzimmer hingen. Oder meinen Onkel, der einmal Gemeinderat war, seine politische Karriere aber nach kurzem wieder beendete. Sie redeten ihm zu viel, sagte er. Den Vizebürgermeister kannte ich auch. Ihn nannte ich auch Onkel, obwohl ich nicht mit ihm verwandt war. Habe ich schon gesagt, dass ich aus einem kleinen Dorf komme?
Ich war überhaupt ein Kind ohne politische Einstiegsdroge. Ich war nicht in der Jungschar, keine Musikantin, ging nicht zum Ministrieren, kein Chor, kein Verein. Das Angebot von Jungorganisationen, die mich mit Heurigenbesuche, Ausflügen oder Jugendräumen umwarben interessierte mich nicht. Eine Jugend ohne gesellschaftliche Verpflichtungen.
Doch kurz bevor ich wählen durfte passierte es. Die Umwerbung der politischen Parteien um die Erwachsenen erreichte auch mich. Auch wenn ich damals noch wenig von den Angeboten verstand. Das musste ich auch nicht, wie mir meine ersten Erinnerungen daran heute zeigen.
Es war ein schöner Sommertag. Es war Kirtag. Die Messe war vorbei und die Menschen drängten sich in ihrem Sonntagsgewand durch die eng gestellten Heurigenbänke. Das Folklore-Revival sollte erst in knapp zehn Jahren kommen. Damals wirkte die Tracht der Frauen des Kirchenchors und der Jäger altbacken.
Die Siegerehrung des Feuerwehrwettbewerbs würde bald beginnen. Unsere Freiwilligen sollten Silber erhalten. Meine Oma und ich saßen schon bei Kaffee und Kuchen, als ein Mann das Zelt betrat. Er war gut gekleidet, mit gestärktem Hemd und für den Kirtag unpassenden Khaki-Hosen. Ich erkannte sein Gesicht. Meine Oma erwähnte ihn oft, wenn sie Zeitung las. Ich wusste nicht, dass er Politiker war. Sie begrenzte sich darauf ihn Maurice zu nennen. Maurice, der schöne Mann. Jener ging nun von Tisch zu Tisch, schüttelte Hände, wechselte vor allem mit Frauen heitere Worte und reichte ihnen winzige Honiggläschen, die er aus einem Korb, den er unter dem Arm trug, hervorzog. Die Männer ignorierten ihn. Ich vermutete aufgrund seines gegelten Haars und seinem starken After-Shave.
Meine Oma strahlte ihn an und drohte zu zerplatzen, als er an unseren Tisch trat. Er überreichte ihr ein Gläschen, sie hielt seine Hand, er hielt ausdauernd lange durch, während er ihr Komplimente über ihre Vitalität machte. Als er sich losgelöst hatte, reichte er auch mir ein Glas. Eine Schleife war darumgebunden, mit seinem Namen und einem großen X darauf. Ich sagte, ich dürfe noch nicht wählen, doch er antwortete, das sei unwichtig, Honig dürfe ich wohl essen, also solle ich es mir schmecken lassen. Ich nahm es. Es fühlte sich falsch an. Ich fragte meine Oma, wen sie wählen würde. Sie gab mir keine Antwort, rieb sich nur die Hände.
Dankbar war ich, als sich eine Bekannte zu ihr setzte und mein Unterhaltungsprogramm damit ein Ende fand. Ich schlenderte zur Ausschank, um mir ein Cola zu holen. Als ich mich umdrehte, war es plötzlich still im Zelt. Der Auftritt der Gewinner des Wettbewerbs war der Grund. Sie kamen nicht einfach durch den Zelteingang, sie schritten in Formation. Der Mann, der die Truppe anführte, war nicht nur der Feuerwehrkommandant, sondern auch der Bürgermeister ihrer Gemeinde. Er gehörte einer anderen Partei an. Einer Partei, die keine Honiggläser verteilte, sondern mit Fähnchen in der Hand in ein Zelt einmarschierte, um sich den Siegerpokal abzuholen. Wohlwollend winkten sie. Die Feuerwehrstiefel hallten im Gleichschritt über den Asphaltboden. Die Hemden der Uniformen waren ordentlich in die Hosen gesteckt. Die Stille durchbrach ein Mann, der zu klatschen begann. Weitere Festgäste stimmten ein. Applaus. Nur in den Blicken der älteren Menschen blieb das Entsetzen.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich beim Aufräumen mithalf. Ich sammelte die stehen gelassenen Honiggläschen gemeinsam mit den Fähnchen in einer Kiste zusammen. Weil ich nicht wusste, was ich damit machen sollte, ließ ich sie einfach auf einer Heurigenbank zurück.
Wir denken an zukünftige Wahlen. Wahlen, die alles verändern können. Und das wäre richtig so. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass Politik keinen Anfang und kein Ende hat. Auch wenn wir uns das wünschen. Eines ist noch wichtiger: Politik lässt sich nicht aussitzen. Das geringer Übel wählen, darf nicht gelten. Beim nächsten Mal wird es schon besser werden, darf nicht gelten. Politik sind wir zu jeder Zeit, alle.