Der FPÖ–Wahlprogrammkatalog
Gerhard Ruiss ◄
Damit ein Wahlprogramm wie das der FPÖ funktionieren kann, muss erst einmal festgestellt werden, was man als Wählerin oder Wähler nicht hat, aber haben könnte, „Wohlstand“, was es geben müsste, aber nicht gibt, „Sicherheit“, und was man empfinden könnte, aber nicht empfindet, „Lebensfreude“. All das verspricht die FPÖ auf den 92 Seiten der digitalen Langversion ihres Wahlprogramms, vor allem aber verspricht sie den „Österreichern“ einen „Volkskanzler, der vom ersten Tag an alles tun wird, um ihnen ihre Freiheit zurückzugeben“. Was darunter zu verstehen ist, wenn es beispielsweise um Kultur geht, lässt sich mit einem Kanzler als Volksbefreier schnell und kompakt, inklusive Wiederholungen und Trachten-Blasmusikillustration, in ohne Überschriften 19 Zeilen auf einer Seite erledigen. Einen größeren Umfang haben die Kulturbetrachtungen der FPÖ nicht.
Freiheit für und in der Kunst und Kultur heißt aus der Sicht des Wahlprogramms der FPÖ: „Können fördern, statt Staatskünstler zu subventionieren“. Kultur soll weitergegeben werden, statt sie zu „canceln“, das kulturelle Erbe soll geschützt, den mit „Zwangsabgaben finanzierten konformen, unkritischen woke-Events“ wie dem „sogenannten Song-Contest“ oder den Wiener Festwochen sollen die Mittel entzogen und stattdessen den „während der Corona-Krise maßnahmenkritischen, von der Kulturschickeria wie Aussätzige behandelten Künstlern“ und anderen „Künstlern, die etwas können“ die Förderungen zukommen. Die weiteren wichtigsten Kulturanliegen der FPÖ sind, „unserer reichhaltigen und vielfältigen abendländischen Kultur die freie Weiterentwicklung zu ermöglichen“ und „unsere Muttersprache zu schützen“, bzw. soweit es finanzielle Zuwendungen betrifft, „unser Geld für die Bewahrung der heimischen Kultur zu verwenden“ sowie die „Landeskultur zu stärken“ bzw. die „Volkskultur“: „Das um knapp 50 Millionen Euro erhöhte Kulturbudget muss gerecht in allen Bereichen der österreichischen Kulturlandschaft verteilt werden. Es ist beschämend, dass in den Bereich Volkskultur gerade einmal 55.000 Euro fließen.“
Eine sich durch Sachkenntnis auszeichnende, gelungene Werbung um Stimmen von Wählerinnen und Wählern in Kunst- und Kulturberufen ist das Kulturkapitel im FPÖ-Wahlprogramm wohl eher nicht. Es wäre z.B. nicht allzu schwer gewesen herauszufinden, wo überall die von ihr forcierten Musikverbände, Chöre und Musikkapellen institutionell verankert sind und von daher ihre finanziellen Zuwendungen erhalten bzw. welche Aufgaben dem Bund und welche den Bundesländern zukommen, und dass die Kulturhoheit und somit die Kulturförderungsaufgaben in Österreich nicht beim Bund, sondern bei den Bundesländern liegen und diese die für die „Landeskultur“ bzw. Volkskultur und deren Förderung von der Blasmusik bis zu den Wiener Festwochen zuallererst Zuständigen sind. Anzunehmen ist aber ohnehin, dieses Kapitel wurde nicht für Künstlerinnen, Künstler und Kunst- und Kultureinrichtungen geschrieben oder um eine sachliche Auseinandersetzung über Kulturbegriffe und Mittelverteilungen zu führen, sondern um Künstlerinnen, Künstler und Vertreterinnen und Vertreter und Angehörige von Kunst- und Kultureinrichtungen unter Verdacht zu stellen und sie in Verruf zu bringen.
Besonders gut, um sich am Freiheitsbegriff emporzuranken, eignet sich für die FPÖ auch das Thema Medien, wo sie einerseits den eigenen Medienkomplex aus der selbstgewählten Propaganda-Ecke herausholen möchte, „Alternative Medien werden als rechtsextrem oder Verschwörungstheoretiker diffamiert und von Fördergeldern abgeschnitten“, und andererseits allen anderen Medien, „Die Medienlandschaft in Österreich ist durch Einseitigkeit und Unausgewogenheit geprägt“ und dem ORF Propaganda unterstellt: „Die Berichterstattung des ORF ist von objektiv, unabhängig und äquidistant allen Parteien gegenüber meilenweit entfernt.“
Abhilfe schaffen soll laut FPÖ eine umfassende ORF-Reform und/oder eine Aufteilung der Aufgaben des ORF auch auf andere Medien sowie die Abschaffung der „Zwangsabgabe“ (Gebührenfinanzierung) bzw. „Zwangssteuer“ für den ORF, ohne Hinweis darauf, wer ihn wie weiterfinanzieren soll, nämlich wahrscheinlich gar nicht, weil er laut FPÖ-Programmwortlaut ohnehin nur ein „Konstrukt“ ist. Zuletzt außerhalb des Programms von der FPÖ angestellte alternative Finanzierungs-Überlegungen des ORF hielten „ein freiwilliges Bezahlmodell wie bei Netflix“ für möglich. Förderungen und Regierungsinserate sollen hingegen genauso für die von der FPÖ als „alternativ“ bezeichnete Medien vergeben und „willkürliche Beschränkungen von Zensur- und Maulkorbmaßnahmen wie das Hass-im-Netz-Gesetz“ müssen abgeschafft werden. Auffallend ist genauso im Medienzusammenhang, was nicht gesagt wird – der Programmauftrag und die Aufgaben des ORF beispielsweise werden aus der Sicht des FPÖ-Wahlprogramms auf die Berichterstattung über die Parteien reduziert und einmal, an einer anderen Stelle auch darauf, dass der ORF Anglizismen vermeiden sollte.
In vielen Fällen stimmt das Wahlprogramm der FPÖ einen moderateren bis liberaleren Ton an als sonst, hinter dem sich jedoch das dicke Ende der Regierungspläne der FPÖ versteckt, das gleich zu Beginn des Programms nazijargonhaft pathetisch bekanntgegeben wird, „um den Auflösungsprozess unseres Staates zu stoppen und unserer Republik Österreich wieder die volle Verfügungsgewalt über die drei wesentlichen Elemente – Regierung, Raum und Volk – zu verschaffen. Diese drei Elemente vereinigen sich zu einer Festung, die unserer geliebten Heimat Österreich und jedem einzelnen Bürger die größtmögliche Freiheit gibt.“ Österreich wird quasi als „Volk ohne Raum“ am eigenen Platz definiert, das nicht von einer eigenen Regierung, sondern von „Systemparteien“ oder anderen finsteren Mächten regiert wird, wobei dieser ansonsten von der FPÖ ständig verwendete Begriff „Systemparteien“ in ihrem Wahlprogramm kein einziges Mal vorkommt.
Die alte Fremdenfeindlichkeit hat im Wahlprogramm der FPÖ 100 neue Namen bekommen („zugewanderte Fremde“, „uneingeladene Fremde“, „illegal aufhältige Fremde“, „lahmlegende Fremde“, „ansässige Fremde“, „Asylanten“, „Risiko-Asylanten“, „Asyl-Einwanderung“, „illegale Zuwanderer“, „heimaturlaubende Asylanten“, „Sozialnetz-Zuwanderer“, „Wirtschaftsflüchtlinge“, „Scheinasylanten“), ansonsten hat sich in dieser Richtung an ihren Positionen nur geändert, dass sie gegen alle noch schärfer vorgehen will. Auch gegen „Eingebürgerte“, denen die Staatsbürgerschaft aberkannt werden soll, wenn sie sich „der Geringachtung unseres Landes und Volkes schuldig machen“.
Frauen existieren im Wahlprogramm der FPÖ entweder gar nicht, soweit es die Schreibungen des FPÖ-Wahlprogramms betrifft und es in FPÖ-Einflussbereichen der Fall ist (ausgenommen: „In Niederösterreich haben wir uns für die Paar-Bezeichnung Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher entschieden, lehnen aber jede Verwendung des Binnen-I oder anderer skurriler Sonderzeichen ab“), oder in einem Schutzzusammenhang vor der Gewalt von islamischen Übergriffen und mit der Empfehlung für Feministinnen, sich gegen Geschlechterungleichstellungen im Islam zu engagieren. Und schließlich und endlich kommt einem die EU als Feindbild („der wohlstandzersetzende Green-Deal der EU“, „der Digital Services Act der EU als neues Zensurinstrument“) und die Ablehnung aller internationaler Organisationen an allen Ecken und Enden des Programms entgegen.
Es bleibt trotz der größeren Zurückhaltung als in den O-Tönen von FPÖ-Vertreterinnen und Vertretern aber immer noch mehr als genug Totschlagvokabular für die Auseinandersetzung mit aktuellen Themenstellungen und Problemen im FPÖ-Wahlprogramm übrig, vom „Genderwahn“ bis zur „LGBTIQ-Propaganda“, der „Frühsexualisierung von Kindern“, den „ausufernden Überwachungsphantasien“, der „Queer-Propaganda“, dem „Grünen Verbotswahn“, der „Transgender-Gehirnwäsche“, der „Klimahysterie“, den „Umerziehungssteuern“, der „Öko-Planwirtschaft“, den „Wohlstandszersetzenden“, den „Staatsfremden“, dem „Sprachenwirrwarr“, dem „fremden Nationalismus“, dem „Genderwahnsinn“, dem „Regenbogenkult“, dem „Wokeismus“, dem „Gender- und Woke-Wahnsinn“, dem „Regulierungswahn“, der „EU-Regulierungswut“, oder, wer lieber halbe Sätze hat: „dem Schutz der Österreicher vor Überfüllung unserer Heimat“. All das gibt es auch in den schon gut bekannten zynischen FPÖ-Ganzsatz-Ausführungen: „Supranationale Gerichtshöfe sind zur treibenden Kraft der gesellschaftspolitischen Zersetzung geworden.“ „Sensible Grenzabschnitte sind mit Zäunen zu sichern.“ „Einer Familienzusammenführung im Herkunftsland des Migranten steht nichts im Wege.“ „Um die gebotene Neutralität im Unterricht zu gewährleisten, soll eine Meldestelle gegen politisierende Lehrer eingerichtet werden.“ „Wer die Grundrechnungsarten und einfachste Umgangsformen beherrscht, schlägt lieber eine Akademikerlaufbahn ein.“
Begegnet werden soll den im FPÖ-Programm massenhaft aufgelisteten Missständen durch „konsequente Remigration“, mit einem „Genderzwangverbot“ bzw. „Genderverbot“ (gemeint sind die Schreibweisen) und mit einem nicht begrenzten Teilausstieg aus der EU („Weg von den überstaatlichen Einrichtungen, zurück nach Österreich. Bereits vollzogene Kompetenzabtretungen an die EU müssen nötigenfalls rückgängig gemacht werden.“).
Die FPÖ fischt auf sämtlichen Gebieten in allen Gewässern nach Stimmengefangenen für die Festung, die sie ihnen verspricht. Sie verschweigt, dass die meisten ihrer Forderungen ohne Diktatur gar nicht umzusetzen sind. Sie vertraut darauf, dass diejenigen, die ihre Regierung wollen, glauben, dass sie ohnehin nicht die an die Kandare Genommenen sein werden, sondern jene, die ihnen die FPÖ als Schuldige an ihrer Lage präsentiert. Dazu gehören neben den von ihr als Verursacherinnen und Verursacher vorgeführten Bevölkerungsgruppen auch internationale Gerichtshöfe und Vereinbarungen oder europäische und österreichische Grund- und Freiheitsrechte, demokratische Einrichtungen und Errungenschaften eben.
Sie vertraut darauf, dass diejenigen, die wollen, sie soll regieren, glauben, dass sie ohnehin nicht die von ihr an die Kandare Genommenen sein werden, sondern diejenigen, die ihnen die FPÖ als Schuldige an ihrer Lage präsentiert, wie internationale Gerichtshöfe und Vereinbarungen oder europäische und österreichische Grund- und Freiheitsrechte, demokratische Einrichtungen eben.
Die FPÖ bietet die Verhältnisse, die sie haben möchte, als die Freiheit an, das „andere“, das nicht gesagt werden darf und das nicht gemacht werden darf, sagen und machen zu dürfen. Sie kann sich darauf verlassen, sie wird nicht die nötige Zweidrittelmehrheit zustande bringen, um Österreich auf dem verfassungsrechtlich notwendigen Weg zu einem autoritären Staat umzubauen, und sie kann – egal bei welchem Wahlergebnis – einmal mehr behaupten, sie werde von den „Einheitsparteien“, wie außerhalb des Wahlprogramms alle anderen Parteien von ihr bezeichnet werden, an der Umsetzung ihrer Pläne gehindert.
Dass es in Österreich den Hang zum „starken Mann“ gibt, ist bekannt, dass sich die FPÖ dazu einen Volkskanzler einfallen hat lassen, ist für ihre Politik von genau derselben Bedeutung wie die im Wahlprogramm ausführlich gegeißelte Maßnahmenpolitik der Corona-Pandemie. Es werden Heilserwartungen erweckt und Wunschvorstellungen nach einfachen Lösungen befriedigt, und es erlaubt der FPÖ, an Verbotserfahrungen anzuknüpfen und dabei nicht immer nur im eigenen Fahrwasser von Wiederbetätigungsvorwürfen darüber reden und sich dagegen wehren zu müssen.
Ihr Volkskanzler soll auch nicht auf das Gesicht des Festungsbauers im Wahlprogramm allein reduziert werden können, er ist nach den ganz auf ihn zugeschnittenen Wahlwerbungen noch Vieles darüber hinaus: Ein Volkskanzler für das Herz und/oder der verhinderte Schwiegersohn und/oder Bräutigam der Nation („Dein Herz sagt Ja“), der Volkskanzler für spirituelle Bedürfnisse („Euer Wille geschehe“), der Beichtvater („Weil er Euch versteht“) und der Volkskanzler für das Ganze („Der Einzige. Auf Eurer Seite“), unterwegs in heiliger abendländischer Mission und von den gleichartigen Einpersonen-Wahlkämpfen des ebenso messianisch auftretenden Vorgängerkanzlers Sebastian Kurz, bei dem er schon von 2017 – 2019 als Innenminister in einer Regierung gedient hat, inspiriert. Bei einer solchen Vielzahl an gestellten Führungsansprüchen und eingelösten Führungsrollen kann es natürlich passieren, dass ein Plakattext wie „Ihr seid der Chef. Ich Euer Werkzeug“ nicht unbedingt den in ihrem Wahlprogramm an zahlreichen Stellen gestellten Anspruch der Beherrschung der deutschen Sprache entspricht. Aber das muss man vielleicht, wenn man ohnehin weiß, was gemeint ist, nicht ganz so streng sehen.
Das FPÖ-Wahlprogramm ist im Vergleich zur sonstigen Wortwahl ihrer Funktionärinnen und Funktionäre „mit Kreide“ geschrieben, wie das gleich eines seiner ersten für sie sprechen sollenden Bilder des Programms bei der Beschriftung eines schwarzen Brettes mit den wichtigsten Stichwörtern zeigt. Außer dass diese Bilder tatsächlich für etwas stehen oder wenigstens stehen sollen– die schönen Seiten zeigen einzelne bis zu Kleinfamilien mit Großeltern reichende strahlende Gesichter, die weniger schönen Seiten verhüllte einzelne oder massenhaft auftretende Gestalten von hinten im Halbdunkel bis Dunkel – sind es bisweilen sehr schiefe Bilder, die das Wahlprogramm der FPÖ begleiten. Das eine Mal gönnt sich ein nach Zuwanderung aussehen sollender jüngerer Mann in einer nur am oberen Ende befestigten sozialen Hängematte ein lächelndes Schläfchen, das andere Mal taucht der von hinten mit Kapuze im Dunkel auftretende gewalttätige Gefährder noch einmal in derselben Ansicht von hinten mit Kapuze als Cyber-Krimineller an seinem Computerarbeitsplatz auf.
Insgesamt geht das FPÖ-Wahlprogramm genauso im Österreich-Fahnenmeer unter wie jede ihrer Parteiveranstaltungen. Jeder einzelne Punkt des Programms ist mit einem Österreich-Fähnchen-Logo ausgestattet, und zwar mit dem der Bundesregierung, nur seitenverkehrt verwendet. Wie ernst die FPÖ ihre eigenen Forderungen nimmt, demonstriert sie mit einem Bild eines sehr jungen Schülers in einer Schulbank, den sie für sich und ihre Bildungspolitik in einem Klassenzimmer werben lässt, obwohl sie Meldepflicht und Sanktionen gegen das Politisieren an Schulen fordert.
Das Bild zum ersten Text des Programms „An der Festung der Freiheit bauen“ zeigt eine überdimensionierte, gerissene Kette mit einer größeren Anzahl davonfliegender kleinerer Vögel, die jedenfalls ganz sicher nicht da ihr Freiheitsfestungsnest errichten werden. Die letzten beiden Bilder zeigen zuerst eine Frau von hinten, die der sauberen Welt des Bergsees mit Waldsaum und schön gezeichnetem Berghang unter blauem Himmel die Arme entgegenstreckt, was verständlich ist – endlich angekommen –, um dann im zweiten Bild aus dem Bild zu verschwinden. Zurück bleibt eine nur noch saubere Welt des Bergsees mit Waldsaum und dem schön gezeichneten Berghang sowie ein – bis auf ein letztes in Auflösung begriffenes weißes Wölkchen – strahlend blauer Himmel. Wer will denn da noch an all die bösen Dinge denken, von denen vorher im Programm die Rede war und die von der FPÖ im Wahlkampf und vor und nach den Wahlen in die Welt gesetzt wurden und werden?
Gerhard Ruiss ist Verfasser der Kanzlergedichte-Trilogie: „Kanzlergedichte“ 2006, „Kanzler-Nachfolgegedichte“ 2017 und „Kanzlerreste. Das Kanzlerneueste“ 2023, erschienen im Wiener Aramo Verlag. Außerdem hat er sämtliche Parteiprogramme hinsichtlich ihrer Positionen zu Kunst und Kultur analysiert: https://www.literaturhaus.at/index.php?id=10189