Dominik Kurcsics ◄
„Du musst deinen Stress reduzieren.“
„Hast du es schon mit Yoga probiert?“
„Ich weiß, du hältst ja nichts von Esoterischem, aber …“
„Trinkst du denn auch genug?“
„Vielleicht helfen dir ja Atemübungen.“
„Du musst nur Geduld haben, bald geht es sicher wieder bergauf.“
„Das wird schon wieder.“
„Du bist so stark.“
Wenn mein Gleichgewichtssinn beschließt, wieder einmal zum Attentäter in meinem eigenen Körper zu werden – mir jede Kraft zu rauben, jede Orientierung zu nehmen, und ich dadurch jede Kontrolle über mich selbst verliere – dann höre ich diese Stimmen im Kopf. All die guten Worte, die ich in den letzten Jahren gesammelt habe wie andere Kühlschrankmagneten. Alle gut gemeint, keine davon je erbeten.
So existiere ich seit acht Jahren mit meiner chronischen Krankheit. Schwankend zwischen Mut und Frust, zwischen Aussichtslosigkeit und Zuversicht. Für mich haben diese Selfcare-Ratschläge nichts mit Selbstliebe zu tun, sondern mit einem ständigen Kampf gegen mich selbst. Gegen den kaputten Teil in mir, der mir immer wieder den Boden unter den Füßen wegzieht.
Ich kann noch so sehr versuchen, Stress abzubauen – er bleibt. Er wächst auch wieder an. Oft bleibt er unsichtbar, bis er zu groß ist, um ihn zu übersehen. Und dann ist es zu spät.
Am Ende habe ich kein schmerzverzerrtes Gesicht. Das ist vermutlich das Problem. Ich habe mir aus dem ICD-10-Katalog genau das ausgesucht, das nicht mit Schmerzen verbunden ist. Ich muss dankbar dafür sein, aber dadurch bleibt meine Diagnose auch so furchtbar unsichtbar. Wer mich sieht, könnte Adipositas ferndiagnostizieren oder – sollte man mir frühmorgens in meiner Wohnung begegnen – Kurzsichtigkeit. Aber das Ding, das mich seit fast zehn Jahren begleitet, das mich manchmal die Lust und manchmal den Respekt vor meinem eigenen Körper verlieren lässt, das sehe eben nur ich.
Es gab Momente, in denen ich nicht mehr funktionieren wollte – und Momente, in denen ich es nicht konnte. Weil das Funktionieren die Symptome verschlimmert. Weil meine Funktion dysfunktional für mich war. Weil ich keine Grenzen gesetzt habe und die wenigen, die ich hatte, ignoriert worden sind.
Der Tinnitus kam früh. Manchmal war er leiser, nie weg. Seit Jahren ist er mein ständiger Begleiter. Mein Hörverlust bleibt stabil instabil, und selbst das Hörgerät im einen Ohr ist nur so lange nützlich, bis mein Hören wieder schlechter wird. Daran habe ich mich gewöhnt.
Aber der Schwindel – der hat mich verändert. Er hat mich zu einem Angsthasen gemacht. Ich habe begonnen, meinen Körper zu hassen, weil ich glaubte, mich auf ihn verlassen zu können. Bis er vergaß zu kämpfen. Bis er sich der vermeintlichen Schwerelosigkeit hingab, ohne Widerstand dem näherkommenden Gehweg entgegenfiel.
Trotzdem musste ich weiter funktionieren.
Ich saß in Kundenmeetings und spürte, wie sich eine Attacke anbahnte. Hab den kalten Schweiß auf meinem ganzen Körper gefühlt, allein nur wegen der Angst davor, wie alle reagieren würden. Panik, wenn ich in der Toilette im Büro saß und sich alles zu drehen begann. Ich hatte Termine, Projekte, Verantwortung. Produktivität, Belastbarkeit, Flexibilität – so stand es in der Jobbeschreibung. Mein Körper hatte andere Pläne.
Oft hätte ich mir einen Badge gewünscht – ein sichtbares Zeichen, damit ich mich nicht immer erklären muss. Damit Menschen automatisch in mein gutes Ohr sprechen. Damit sie nicht genervt schauen, wenn ich im Bus nicht sofort aufspringe, weil mir der Sitz gerade den Halt gibt, den mir der Boden stehend verweigert. Ich wollte gesehen werden. Ich wollte, dass sich die Welt ein bisschen an mich anpasst, anstatt dass ich immer jede Anpassung an mir selbst vornehmen muss.
Im Nichtfunktionieren habe ich irgendwann eine Form von Erfüllung gefunden. Stress schlägt sich auf mein Ohr, Stress verstärkt den Tinnitus, Stress kann Schwindel auslösen. Es ist nicht immer der Stress – aber er könnte es sein. Stress ist eine Währung, er hat System, er bleibt. Und ich bleibe auch.
Ich habe gelernt, besser zu funktionieren, indem ich manchmal nichtfunktioniere. Ich sehe meinen Körper als Widerstand, mein Nichtfunktionieren als politisches Statement. Kein Schema soll für mich passend sein, kein Thema soll mich niederringen. Vielleicht wird es nie wieder besser, vielleicht wird alles schlimmer mit meinem H81.0. Vielleicht schneide ich mir irgendwann ein Ohr ab und male schön. Vielleicht nagle ich 95 Thesen an eine Kirchentür. Wie meine vermeintlichen Diagnosekollegen Vincent und Martin.
Vielleicht gelingt mir durch diese Flucht nach vorne, durch das Benennen und Nicht-Ausweichen, mein Leben so zu optimieren, dass ich wieder in ein System passe, das ich verachte – einfach, um weiter zu existieren. Einfach, um es mir wieder ein bisschen leichter zu machen.
Am Ende habe ich kein schmerzverzerrtes Gesicht.
Aber manchmal wünsche ich es mir.