Ein Brief an meine Jüngeres Ich

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Immaculee Steinlechner

Vor 30 Jahren riss mich ein Albtraum aus unserer unbeschwerten Welt. Ich sehe dich noch, wie du lachend Schmetterlinge jagst, und weinst, weil wir unser neues Kalb nicht behalten durften – ahnungslos, dass bald dein Papa vor deinen Augen brutal ermordet werden würde, dass unsere Nachbarn und Freunde zu blutrünstigen Monstern werden würden. Du wirst die Erde über dir spüren, die dich lebendig begräbt, die Panik, die dich fast erstickt.

Du wirst Vergewaltigungen ansehen, ohne zu verstehen, was geschieht. Du wirst stillschweigend Abschied von deinen zwei Brüdern nehmen und dich aus dem gemeinsamen Grab befreien. Du wirst schnell lernen, erwachsen zu werden. Die Nachricht, dass unser jüngster Bruder Dusabe lebendig begraben wurde am Rücken unserer Mama gebunden, wird dich für immer zerreißen und mit Wut und Schmerz erfüllen.

Du wirst alleine überleben, die Narben werden tief sein, für immer in deine Seele gebrannt. Der Regen wird dich an die kalten Nächte allein im Wald erinnern, an die Angst, die Einsamkeit und die Verzweiflung. Jedes Knallen wird die Schüsse widerhallen lassen, die dein Leben für immer zerstörten. Genieße jeden unbeschwerten Moment, mein kleines Ich, denn der April wird für immer mit Tränen in deinen Augen verbunden sein. Du wirst dich fragen, ob du wirklich lebst oder nur noch ein Schatten deiner selbst bist. Aber du bist stark, stärker als du glaubst. Du wirst wieder lachen, lieben und leben.

Du wirst für deine geliebte Familie leben und stark sein, ihr Erbe in deinem Herzen tragen, ein Denkmal aus Liebe, Stärke und Hoffnung setzen.

Immaculee Steinlechner lebt heute in Tirol.