Martin Murpott ◄
“The savage mutilation of the human race is set on course
Protest and survive
Protest and survive
It is up to us to change that course
Protest and survive
Protest and survive “
(Discharge – Protest and Survive)
14.10.2022 – Preise runter, Löhne rauf
Das letzte Hemd hat bekanntlich keine Taschen, aber vor allem Volkspartei sowie ihre nahestehenden Wirtschaftsverbände schafften es schon seit geraumer Zeit, immer noch weiter hineinzugreifen. Und während man sich in der ÖVP noch überlegte, ob von 10 bestellten Ballkleidern die Hälfte verzichtbar wäre oder ein Jobwechsel von Eisenstadt ins Kleinwalsertal nicht jedem Arbeitslosen zumutbar sein müsste, lebten viele Menschen in Österreich schon von der im Mund. Nachdem die Mietpreiserhöhung in der Landeshauptstadt bereits im September einen Schwellenwert von 8% gegenüber dem Vorjahr überschritten hatte, und die Inflation wie ein Pfitschipfeil auf einen zweistelligen Rekordwert hinraste, riefen Linksparteien sowie Gewerkschaftsverbände zu landesweiten Großdemos gegen die Teuerungswelle auf. Diesem Aufruf folgten in Graz an diesem Tage 15 000 Personen. Schon zum Start der Demo war die Stimmung aggressiv und aufgeheizt. Die LPD Steiermark hatte bereits in der Vorwoche zwei Wasserwerfer aus Wien beordert, um jeglichen gewalttätigen Protest sofort im feuchtfröhlichen Keim zu ersticken. Auch am Europaplatz geizte die Polizei nicht mit Provokationen, versuchte immer wieder Demobanner zu droppen oder mit Schlagstöcken auf Finger zu klopfen. Und kam einer der Demonstrierenden mal von sich aus zu nahe, zogen die Cops schneller Pfefferspraydosen als ihre Schatten. Die Route hätte eigentlich über die Keplerstraße Richtung Kunsthaus und weiter zur Landesparteizentrale der ÖVP führen sollen, aber bereits am Mariahilfer Platz brachte die Exekutive das Fass zum überlaufen. Nachdem die Cops sinnigerweise beschlossen hatten, die teilweise als Black Bloc formierte Demospitze noch vor der Ecke Café Centraal / Kosakengasse zu kesseln, eskalierte die Gewalt. Es kam zu stundenlangen Straßenschlachten, in Zuge derer sich die Polizei zweimal in den 5. Grazer Stadtbezirk zurückziehen musste. Eine von Innenminister Karner vorgeschlagene Luftunterstützung durch in Zeltweg stationierte Düsenjäger scheiterte am Veto des Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen. Erst der massive Einsatz von Gummigeschossen und Tränengas konnte letztendlich die Lage in den späten Abendstunden wieder beruhigen. In Summe gab es insgesamt 400 Festnahmen, 236 verletzte Demonstrant*innen sowie 150 Verletzte auf Seiten der Polizei. Zwei überteuerte Hipsterläden gingen in Flammen auf, einem Ordnungswächter der Stadt Graz wurden die Schuhbänder zusammengebunden und 13 Einsatzwägen mussten den Verlust ihrer Frontscheiben beklagen. Die geneigte Leserschaft wird sich vermutlich gerade denken, all das ist ja so überhaupt nie passiert? Sie hat damit völlig Recht!
13.03.2023 – Die Letzte Generation Fraktion
Kurz vor 8 Uhr Morgens an einem ganz normalen Lohnarbeitsmontag in Graz. Der Verkehr bewegt sich wie immer äußerst zähflüssig durch das gesamte Stadtgebiet. Vor allem im Bereich Geidorfplatz, Ecke Glacisstraße gibt es kaum noch ein Weiterkommen. Ob Ries, Andritz oder Mariatrost – von allen eher konservativ dominierten Vierteln strömen scharenweise SUVs zu diesem zentralen Verkehrspunkt, um ihre Fahrer*innen vor den Strapazen sowie den Gefahren in öffentlichen Verkehrsmitteln zu schützen. Die Vögel zwitschern, die Sonne scheint und Anrainer*innen schließen wegen der Abgase bereits wieder ihre Fenster, die sie zum Auslüften der Bettwäsche erst kurz zuvor geöffnet hatten. Im nahen Stadtpark haben die ersten Philosophiestudenten bereits ihre Decken ausgebreitet, trinken Bier und träumen von Richard David Precht. Nichts deutet darauf hin, dass heute einer der schwärzesten Tage in der Geschichte des motorisierten steirischen Individualverkehrs werden soll. Doch dann detonieren um exakt 07:59 insgesamt 100 Kilogramm Sprengstoff, die von Terroristen der Letzen Generation Fraktion unter zwei Kanaldeckeln entlang der Glacisstraße versteckt wurden. Die Explosionen waren dermaßen wuchtig, dass die Fahrzeuge in unmittelbarer Nähe der Kanaldeckel bis zu 15 Meter in die Luft katapultiert wurden. Der summierte Knall war so unglaublich laut, dass noch am Kaiser-Josef-Markt vereinzelt Trommelfelle platzten und weltkriegserfahrene Pensionist*innen die Rückkehr der Russen befürchteten. Dass es an diesem Morgen zwar 15 Schwerverletzte sowie mehrere Dutzend Leichtverletzte zu verzeichnen gab, jedoch glücklicherweise keine Toten, war folgenden zwei Faktoren geschuldet: Einerseits sind innerstädtische Fahrgemeinschaften in Graz eher rar gesät, weswegen die meisten betroffenen PKW jeweils nur mit ihren Fahrer*innen besetzt waren. Andererseits muss man der modernen Autoindustrie gerade im Segment der gehobenen Mittelklasse zu Gute halten, dass sie freilich immer noch nicht in die Sicherheit von unmotorisierten Verkehrsteilnehmenden investierte, dafür aber umso mehr in die ihrer Käufer*innen. So ergab es sich, dass man in den Notaufnahmen der Murmetropole primär Radfahrer*innen, Fußgänger*innen sowie eine Gruppe von männlichen Philosophiestudenten zu versorgen hatte. Letztere wurden im nahen Stadtpark von Teilen eines herabfallenden Hyundai Tucson getroffen, überlebten aber knapp. In einem kurz darauf aufgetauchten Bekennerschreiben rechtfertige die LGF ihre Tat wie folgt: „Aufgrund massiv steigender Preise handelsüblicher Superkleber und zunehmender allgemeiner Ignoranz gegenüber friedlichen Protestformen war es unausweichlich, unserem Anliegen durch den Einsatz militanterer Mittel Gehör zu verschaffen“.
31.07.2023 – Zumindest in Graz
In der Tat gab Mitte Oktober des Vorjahres eine von der KPÖ initiierte Demo gegen die bis heute anhaltende massive Teuerungswelle in Österreich. Jedoch nahmen nur ungefähr 500 Personen daran teil und sie endete völlig unspektakulär bei einer genehmigten Abschlusskundgebung am Mariahilfer Platz. Trotz ruinöser Energiepreise, sukzessiv steigenden Mieterhöhungen oder unleistbar werdender Lebensmittel kann von Zuständen wie etwa in Frankreich noch nicht einmal geträumt werden. Selbst der andauernde rechtskonservative Klassenkampf von Oben mit all seinem autoritären Geltungsanspruch schafft es immer noch nicht, die urbane Protestkultur zum Brennen zu bringen.
Auch das zweite von mir beschriebene Geschehnis ist so überhaupt nie passiert! Zwar blockierten an diesem Tag tatsächlich Mitglieder der sogenannten Letzten Generation besagte Straßenecke in Geidorf, allerdings betont friedlich und fast schon kooperativ gegenüber den Behörden. Gewalt in Zusammenhang mit Klebehippies kommt bis jetzt erfahrungsgemäß immer nur dann vor, wenn es irgendwelchen aggressionsgesteuerten KFZ-Lenkern die zu niedrig dimensionierten Sicherungen schmeißt. Wenn also Politiker*innen aus dem vornehmlich rechten Spektrum bei solchen Aktionsformen von Extremismus oder sogar Terrorismus sprechen, ist das gleichermaßen absurd wie bösartig. Abgesehen davon mag man von der Letzten Generation halten was man will, aber angesichts des global drohenden Klimakollapses sollten ihre Anliegen nicht nur in Graz oder der Steiermark oberste Priorität genießen. Protest ist meist ebenso wichtig wie richtig. Er ist im Falle des Klimawandels oder der zunehmenden sozialen Ungleichheit sogar existentiell. Öffentlicher Protest ist ein unabdingliches Mittel all jener die nicht die Möglichkeit haben, im Rahmen von gesetzgebenden Sitzungen ihre Stimme zu erheben. Sein Ziel ist es, notwendigen Druck oder notwendige Aufmerksamkeit zu generieren. Er darf gerade auch in Bezug auf die obengenannten Beispiele nicht bloß lokal gedacht werden, sondern muss sich flächendeckend erheben, um seine solidarische Wirkung entfachen zu können. Ach ja! Und würde es nach mir gehen, könnte er zumindest in Graz ruhig ein bisschen intensiver verlaufen…