die fliege

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Florian Sorgo ◄

Soeben 40 geworden, war A gerade dabei Geburtstagswünsche zu beantworten. Der Bildschirm ihres Handys wurde fettiger und die Antworten belangloser – und immer wieder setzte sich eine Fliege auf ihre Hand, wenn diese für einen Moment ruhig lag. Als würde es darum gehen, ihr den letzten Rest an Gelassenheit zu nehmen.

Groß feiern ging nicht. Die Umstände. Klein, verborgen – das ging. Alle frisch getestet natürlich. Sie und die noch übriggeblieben waren, saßen in ihrer geräumigen Innenstadtwohnung zusammen. Die Musik auf halblaut. Zur Sicherheit. Draußen wurde es schon langsam hell. Sie hatte es noch nie gemocht, das Hellwerden. Und das dazugehörige Vogelgezwitscher. Es hatte etwas Hämisches. Sie mochte Vögel. Aber nicht, wenn sie über sie lachten.

Aber Afterhours mochte sie. Es erinnerte sie an damals. Es gab ihr das Gefühl, noch immer dabei zu sein. Sie hatte nur ihre engsten Freund:innen eingeladen. Zwei, drei waren von früher. Alle andern waren in den letzten Jahren dazugekommen. Hatten die von früher verdrängt. Einige waren schon gegangen, ein paar waren noch hier. Also auf die Party bezogen. Aber auch im Großen und Ganzen. Alle waren gut drauf. Nicht grundlegend. Die momentane Situation machte mittlerweile allen zu schaffen. Mehr wegen der Substanzen. Die entspannte Empathie von vorher, mit all ihren Liebeleien, war mittlerweile distanzierter Erregtheit gewichen. Die bunten Pillen – die eher Memes glichen, als Medikamenten – waren bereits aufgebraucht. Sie hatten bitter geschmeckt, wie damals. Damals – bevor die letzten zehn Jahre plötzlich auf A herabgefallen waren. Dann ging alles sehr schnell. Ohne viele bleibende Erinnerungen. Alles zu erinnern Erdenkliche hatte sich davor abgespielt. A verschob diesen Gedanken auf später und schaute ringsum. Die besagte Wohnung, die sie sich hart erarbeitet hatte. Die weißen Wände mit Kunstwerken von Freund:innen. Der Ausblick durch die südseitige Fensterfront. Und die wenigen, aber sehr gut ausgewählten Einrichtungsgegenstände. Mehr benötigte sie nicht. Ihr Leben bestand aus Erlebnissen, nicht aus Besitz. Dachte sie sich.

Sie weitete ihren Blick aus auf die noch Anwesenden. Links gegenüber von ihr redete L1 angeregt auf L2 ein, wobei diese immer wieder erfolglos versuchte zu unterbrechen. Wie die Linke populistischer werden könnte, darum ging es. Um der erstarkenden Rechten den Rang abzulaufen. Daneben saß I1 vereinzelt und nickte mit geschlossenen Augen zur Musik. Seit gefühlten Stunden schon hielt er sein Handy vor sich und damit die Bluetooth-Boxen gekapert. Es spielte Downtempo. Eine Musikrichtung, die nur existierte, um weiter zu machen. Sie markierte nicht einmal einen Übergang irgendwohin. Es war bloß das Hineinlangen in die Ewigkeit. Der Sonnenaufgang, der sich hinter I1 langsam ausformulierte, hatte die Farbe seiner frisch getönten Haare. Dann L3, O und S1. Alle drei redeten durcheinander. In Fragmenten – die sich ständig überlagerten und deshalb zu dem wurden, was sie waren – konnte man herausvermuten, dass es um die Kunst ging und darum, was für einen Zweck sie hatte. An ihrem Gestikulieren erkannte man, dass Banalitäten hier keinen Platz hatten. Als wären Schwerter im Spiel. Dahinter – hinter dem Zigarettenrauch nebulös gleichzeitig vorhanden und nicht vorhanden –, stand T am Fenster. Sie telefonierte mit ihrer Freundin und versuchte zu beschwichtigen. Dann I2, die gerade dabei war den Spiegel neu einzurichten, der vor ihr auf dem Glastisch lag. Ein Glastisch, der – auch wenn ungleich stilvoller – an den Kiffer-WG-Standard der 90er erinnerte. Sie schob die Lines hin und her, als wären es Wände einer architektonischen Zeichnung. In ihrem Gesicht, das im sich Spiegel doppelte, war Ernsthaftigkeit abzulesen. Sie war sehr präzise, alles hatte zu stimmen.

Den Panorama-Blick noch nicht vervollständigt, wurde A gestört. „Anti!“, rief S3 hinter ihrem Rücken, auf diesen zielgerichtet. „Black oder White?“ „Black!“, antwortete sie. S3 war einer der zwei, drei Freund*innen von früher. Eine Dreadlock trug er noch als Erinnerung. Und er nannte sie immer noch „Anti“. Ihr alter Spitzname. Anarcha, arbeitsscheu und abenteuerlustig. Ambivalent. Heute war sie wohl eher „Pro“ als „Anti“. Englisch ausgesprochen, im Sinne von „Professional“. S3 kam mit zwei Gläsern Black Russian und setzte sich neben sie. Draußen auf der Straße hörte man lautstark eine Gruppe vermeintlich Jugendlicher feiern. ‚Gönnt euch!‘, dachte sie sich. Ein Glas für sie, eines für S3. Auf die alten Zeiten. Und eine weitere Nase für die ganze Runde. Dann umarmte sie S3 so plötzlich, dass er hinter ihr die Hälfte seines Getränks verlor. Es lief ihr kalt über den Rücken. „Wir kennen uns schon so lange. Ich bin froh, dass du hier bist.“

„Anti! Wo warst du?“, rief ihr S3 entgegen. ‚Keine Namen bitte!‘, dachte sie sich, während sie ihren schwarzen Kapuzenpulli auszog und sich zwischen ihm und der Person daneben einlockte. War diese Person U gewesen? Sie konnte sich nicht mehr genau erinnern. A hatte noch Herzklopfen von vorher. Aber die Blockade, in die sie sich gerade eingereiht hatte, gab ihr wieder Sicherheit. „Ich bin von ’nem Zivi aus der Menge gezogen worden. Kurz nachdem wir versucht hatten, den Bullen die Parkbank zu entreißen. Einfach so, zack! Es ging alles verdammt schnell.“ „Und?“ „Und? Nichts zum Glück! Er hat mich hinter die Absperrungen gezerrt. Aber ich konnte ihn überzeugen und er hat mich mit einem Tritt in den Rücken gehen lassen.“ Die Bullenfront vor ihnen rückte näher. Auf beiden Seiten waren alle schwarz gekleidet. Doch so sehr sich die Kleidungsfarbe glich, so sehr war die Intention dahinter eine grundlegend andere. Dort war sie Uniform, Gewalt, Befehlskette. Unterdrückung und Unterwerfung zugleich. Hier war sie notwendige Fassade. Hier ging es um ein besseres Leben für alle. Die Blockade war Verteidigung und gleichzeitig eine Umarmung untereinander. Und hinter der Bullenfront winkte ihr die Parkbank zu, die sie zuvor noch auf die Straße gezerrt hatten, um ebendiese zu verstellen.

A wurde von einer Polizeisirene aus der Erinnerung gerissen. Die galt diesmal aber nicht ihnen. Unten auf der Straße hörte man die Jugendlichen auseinander stoben. A musste plötzlich an ihre Firma denken. ‚F.R.I.U.T.S.‘, Kreativ-Agentur – ‚Machen Sie sich die Welt zu eigen.‘ Sie dachte an ihre Angestellten, die allesamt in Kurzarbeit geschickt werden mussten. Sie dachte an das vereinsamte Büro, an die Gemeinschaftsküche, an den Besprechungsraum und die leeren Flipcharts, die sich darin versammelten.

Sie dachte an all die Zeit, die sie darin investiert hatte.

Und sie dachte an die herannahende Insolvenz.

Plötzlich doNNNNNNNerte alles rundum. Die Wän
                                                                               de ihrer geräumigen, gutgelegenen Wohnung

wAaAaAnkten.

                          Der Glastisch kliRRRte.
(Alle hielten sich an ihren halbausgetrunkenen Gläsern fest.)
Als auch die Fenster zu vibrierrrrrrrrrrrrren begannen, drehten alle ihre Köpfe in Richtung Süden. Hinter dem Nebel des Zigarettenrauchs kam –

draußen zwischen den Gebäuden –

Godzilla zum Vorschein –

der sich mit seinem zerstör_nd_n Feu_r,
mit seinem maßlosen GESCHREI,
seinen Weg durch die Stadt direkt                                                   auf sie zu bahnte.

A wurde angst.

Dann klirrte das Glas in ihrer Hand. S3 hatte mit ihr angestoßen. „Weißt du wie es U so geht? Ich musste gerade an damals denken…“, wandte sich A ihm zu. „U heißt I mittlerweile. Es hat sich einiges verändert. Aber irgendwie ist I auch noch immer wie früher. I hat weitergemacht, durchgehalten.“ A lehnte sich zurück in das schwarze Kunstledersofa. Koks war zwar noch ausreichend vorhanden, aber die Glücksgefühle von vorher ließen sich nicht mehr weiter pushen. A starrte aus dem Fenster. „Richt‘ I schöne Grüße von mir aus. Soll sich mal melden!“

Irgendwann war A eingedöst. Die Musik spielte leise im Hintergrund. Alle anderen waren schon gegangen. Nur die nervige Fliege blieb und setzte sich unablässig auf ihr Gesicht und machte es ihr unmöglich so richtig einzuschlafen.