Silvia Stecher ◄
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welche literatur?
in ihrer auffächerung öffnen begriffe wie widerstand und literatur ein ganzes arsenal von bezüglichkeiten aufeinander: sie verweisen zurück auf die widerstandsdebatten der bürgerlichen revolutionen im 19. jahrhundert, auf den „zunächst kunstfeindlichen charakter von widerstandstheorien und -traditionen: was zählt, ist das resultat, die vollbrachte widerstandshandlung, nicht der prozess, aus dem es hervorgeht“. widerstand richtet sich hier gegen politische oder staatliche gewalt, darin ist er nach konstantin kaiser primär politisch, aber auch sekundär politisch, „weil er einen zusammenschluss von gleichgesinnten erfordert und damit eine politisch strukturierte öffentlichkeit […] schafft“, in der sich der/die bürger*in als zoon politikon betätigen kann, ob nun untergrundzelle, bürgerinitiative, wählervereinigung oder demonstration. widerstand will zunächst in einem hierarchischen system eine „verfehlte maßregel“ revidieren und zielt weniger auf den umsturz, wiewohl sich historisch etwa an den antifaschistischen widerstand eng auch utopistische und progressive entwürfe knüpfen oder auf das naturrecht referierende positionen eine generelle umwälzung auf ebene der werte forderten. dem bürgerlich-demokratischen widerstandsbegriff stand die in der romantik geprägte idee eines poetischen widerstands als gegenentwurf zur prosaischen wirklichkeit konzeptionell gegenüber. (1)
avant stand arte
der konflikt zwischen poésie pure und poésie engagée führt zum versuch seiner auflösung, zur gebrauchswertdebatte von literatur 1968 und zurück in die zukunft zum impetus der avantgarden und der späteren aneignung der metaphorik rund um diesen begriff. er diente der literaturzeitschrift perspektive ab ende der 1990er-jahre zur auslotung einer randposition im kulturellen feld, von wo aus dieses einer (selbst)beobachtung und -analyse unterzogen werden kann:
„das springen zwischen standorten und beschleunigungen hat eine form avantgardistischer identität zur folge, die sich nicht unter etablierten wiedererkennungsmustern subsumieren lässt, sondern fluktuiert. verortbar zu sein stellt für avantgarden eine systemische bedrohung dar, was [ihre] unattraktivität für vermarktbares kulturschaffen wesentlich zur folge hat […] verortbarkeit ist daher funktionsvoraussetzung für kanonisierte experimentpositionen, die nur so (unter förderbedingunen) adressierbar bzw. (als event) identifizierbar gemacht werden können […]“(2)
die avantgarden übersetzten gewissermaßen eine räumlichen position – nämlich die vorhut und der spähtrupp einer mehrheit zu sein – durch ihre orientierung an begriffen wie entwicklung und fortschritt in eine zeitliche dimension, die „sie in ein oppositionsverhältnis zur gegenwart brachte“(3). im nach vorn gerichteten verweigern von avantgarde-literatur transformiert sich das beharrende moment von widerstand, der sich gegen verfehlungen oder willkür einer obrigkeit richtet, über das verzögernde – das hinhalten des feindes bis zur bereitschaft der truppen(4) – in ein dynamisches moment, das eine grundlegende veränderung eines gesellschaftssystems anstrebt. an diesem punkt scheiden sich die ansätze eines „avantgardistischen“ von einem „avancierten“ literaturbegriff, nämlich am modus der interferenz zwischen dem literarischen und dem politischen. ein beispiel für die „avancierte“ position ist hans magnus enzensberger. in seinem „museum der modernen poesie“ schrieb er 1960 dem poetischen eine quasi inhärente widerständigkeit zu, das moderne gedicht im sinne einer „poésie pure“ sei eine „antiware schlechthin“, die sich „dem gesetz des marktes zu entziehen“ trachtet(5). ein solcher ansatz, der ästhetisch wohlgeformte, zeitgemäße texte als per se subversiv und sich selbst als anti-ideologisch (miss)versteht, die schwelle zwischen literatur und lebenswelt nicht übertreten will und auf direkten gesellschaftlichen angriff verzichtet, erscheint perspektive paradigmatisch für „avanciertes“ schreiben, das von den avantgarden das mimesis-verbot übernimmt, aber deren systemisch-intervenierenden politischen gehalt verwirft.
aus einer gegenposition dazu fragt zeitschrift perspektive, welche formen und weisen des schreibens zwischen experiment und gesellschaftspolitischer exponiertheit ausmachbar sind, wie sie sich zueinander verhalten, ob es zwischen literaturbetrieb und marktanpassung oder gerade jenseits davon widerständiges schreiben geben kann – und ob dieses innerhalb einer literaturzeitschrift, die selbst den bedingungen des subventionswesen unterworfen ist und sich damit in einem spezifischen kulturellen feld befindet, entfaltbar ist. oder ob der begriff nicht taugt, weil widerstand dort passiert, wo menschen ihre existenz aufs spiel setzen, um zu publizieren, andere zu retten, sich einem übermächtigen regime entgegenzustellen. doch mit oder ohne das label „widerstand“ – es stellt sich auch in den herrschenden neoliberalen zusammenhängen die „frage nach einer engagierten literatur, die imstande [ist], mehr zu tun, als dem linksliberalen vorurteil zu schmeicheln und sich auf sprachlich-ästhetische programmatik zu begrenzen“(6). eine der zeitgenössischen antworten darauf ist die forderung nach einem neuen sozialen realismus(7).
perspektive dagegen orientiert sich unter einbeziehung sprachkritischer und literatursoziologischer reflexion an schreiben, das nicht davon ausgeht, dass sprache die (politische) realität mimetisch abbilden kann, welches aber dennoch auf diese realität gerade auch in ihrer sprachlichen mitverfasstheit bezogen bleibt. das manifestiert sich in texten, die über das reine sich- echauffieren über politische verhältnisse hinausgehen und zugleich formales bewusstsein aufweisen, also weder trivial-engagiertes schreiben noch ausschließlich avancierte formenspiele repräsentieren. lyrischem pathos wird bei dieser suche genauso misstraut wie klassischem erzählen. eine trennung zwischen literarischer sprache als solcher und einer davon separierten marketing-gebrauchssprache, die diese als sprachware am markt positionierbar macht, scheint perspektive nicht möglich, um einen kritischen oder gar widerständischen ansatz zu verfolgen. literatur ist von der sozialen und kulturellen reproduktion sowie der gebrauchsfunktion von sprache nicht ablösbar. perspektive operiert in einem experimentalraum zwischen sprachskepsis einerseits und der notwendigkeit von sprache als kritischem analysewerkzeug andererseits und findet sich in der paradoxen situation wieder, mit institutionell zur verfügung gestellten mitteln die bedingungen des zustandekommens von kulturbetrieben zu kritisieren; mit den mitteln der sprache zu differenzieren, was an sprache sowohl macht bzw. herrschaft ist als auch möglichkeit der (selbst-)analyse mit der chance zur überwindung von herrschaftsmodellen.
label der vielen
beobachtbar ist aktuell: verortbares und damit vermarktbares kulturschaffen bedient sich des politischen engagements häufig auf eine weise, in der letzteres ersteres befördert, und agiert von moralischer, zu selten von analytischer ebene aus. schließt sich beispielsweise wie heuer das gros des kulturbetriebs zusammen, um gegen rechtsextremismus und rechtspopulismus aufzutreten, entsteht nach der medialen lancierung bald der eindruck einer interessenvertretung oder werbeplattform, bei der der „widerstand unter glitzernde rettungsdecken“(8) gekrochen ist. eingekuschelt in den herdenschutz erklärten sich kulturschaffende im gefolge einer in berlin begründeten plattform zu den „vielen in der republik österreich“(9), die sich „für vielfalt und freiheit der kunst“ aussprechen – und zwar zuerst exklusiv die zur unterzeichnung geladenen organisationen und personen, bevor man das netzwerk bei einer pressekonferenz vorstellte.
widerstand wird in einer abgemilderten form mit anstand als etikett rekuperiert: „widerstand? gemeinsame kulturinitiative für ein mindestmaß an anstand!“(10) welches label es auch sein mag, es wirft fragen auf: wie organisiert und repräsentiert sich eine im kulturbetrieb versammelte zivilgesellschaft mit dem anspruch, eine „vernetzung im sinne einer solidarisierung“ zu bieten? ist widerstand ein deklarativer akt in listenform? soll er nach allen regeln der kunst verpackt werden, um wirksam zu werden? und reicht es, sich gegen politische verhältnisse zu stellen, wenn die bedingungen des eigenen feldes nicht mitreflektiert werden?
während in autoritären systemen namenslisten, auf die menschen gesetzt werden, die grundlage für denunzierung, bespitzelung, ausschluss, inhaftierung, ermordung bilden, sind unterschriftenlisten, auf die sich menschen selbst setzen, ein direkt-demokratisches mittel, sie ermöglichen volksbegehren, bürgerinitiativen oder petitionen, dienen aber auch außerhalb der einbringung in politischen gremien als massen-mittel des politischen statements. im gegensatz zu repressiven verzeichnissen sind sie produktive verzeichnisse, vorderhand der produktion eines bekenntnisses. sie schaffen eine positive grundlage, eine politisch strukturierte öffentlichkeit, über die statt des ausschlusses der verzeichneten deren zu(sammen)gehörigkeit formiert wird – bei zugleich implizitem ausschluss der nicht verzeichneten.
die „erklärung der vielen“ listet eine reihe von punkten auf, die allesamt unterstützenswert sind, dennoch bleibt das signal: der kulturbetrieb solidarisiert sich zuvorderst mit sich selbst unter einer durchdesignten dachmarke, will „nach außen glänzen, nach innen vernetzen“ – womit die vernetzungsarbeit betont wird, die bisweilen die inhaltliche im kulturbereich ohnehin ablöst. jene, denen dieser betrieb abgehoben erscheint, müssen sich bestätigt fühlen. die „privilegien“, die entsprechend dem slogan „solidarität statt privilegien“ durch ersterers ersetzt werden sollen (welche und wessen privilegien genau?), schimmern durch die plattform auf glanzpapier hindurch. innerhalb der kapitalistischen verwertungslogik konnte nun eine kulturinstitution aus einer unterschrift, mit der man bei geringem aufwand – zumindest solange produktive listen nicht in repressive verkehrt werden – wenig bis nichts aufs spiel setzt, zudem symbolisches kapital generieren: sätze wie „auch wir sind unter den erstunterzeichnern der vielen“ fanden eingang in ankündigungstexte für veranstaltungen und transportieren ebenjene privilegien, die man zwar bekenntnishaft abschaffen will, tatsächlich aber ein stück weiter absichert.
statt eines slogans „glänzen statt grenzen“ wäre für einen ernsthaften kampf gegen den rechtsruck eine debatte darüber vonnöten, was passiert, wenn dieser in seiner identifizierbaren form zurückgedrängt, rechte politik aber unter anderem label bleibt, oder warum es einander ähnlicher werdende transnationale, kosmopolitische eliten gibt, die eine sozial geschlossene gruppe bilden und andere milieus gar nicht mehr wahrnehmen(11), also geografische grenzen mühelos überschreiten, soziale aber kaum. statt sozioökonomische probleme mit den mitteln der kultur zu analysieren, werden diese als kulturelle probleme verkannt.
größtes wir auf kleinstem nenner
diese einwände sind randnotizen – für die angesichts unmittelbarer bedrohungen oft kein platz bleibt und durch die verschärfungen in der trennlogik von innen und außen, wir und die anderen eintreten. wo ein innen und ein außen benannt wird, stellt sich unweigerlich die frage, wer drinnen ist und wer draußen. politischer druck befördert eine zunehmende innen/außen-polarisierung und verdrängt differenziertere positionen, die sich dieser identitätslogik zu entziehen suchen. dann geht es um die findung des einfachstmöglichen wir, um die verteidigung des kleinsten gemeinsamen nenners. etwa wenn der druck von rechts auf nicht konforme medien steigt, kritische fragen suspendiert werden. jede zeit erfordert andere mittel für die gleiche position: je stärker angriffe auf kultur und medien werden, desto schwieriger gestaltet sich eine kritik am gebaren ihrer vertreter*innen. zumal kulturorganisationen durch die ausschreibungs- und förderstruktur in einen wettbewerb miteinander gebracht werden(12), in dem sie aufgrund ihrer häufig prekären lage die regeln eines freien marktes widerstandslos adaptieren. die dann stattfindenden akte der solidarisierung lassen die analyse gesellschaftlicher widersprüche zugunsten von kultur als einrichtung weg und die chance ungenutzt, das wettbewerbsprinzip selbst infrage zu stellen. stattdessen entdifferenzieren sie dort, wo kritische differenz und selbstkritik gefragt wären.
solche akte der solidarisierung werden auch durch attacken auf einzelpersonen hervorgerufen. was bleibt für eine möglichkeit, als sich hinter und an die seite von medial präsenten autor*innen oder aktivist*innen zu stellen, die nicht etwa inhaltlich-argumentativ oder in bezug auf die mechanismen kritisiert werden, die eine position in diesem feld überhaupt erst ermöglichen, sondern zum beispiel frauen in bezug auf ihren körper, der als bildspender missbraucht wird. das ziel solcher populistischen und polemischen strategien, zu emotionalisieren, zu reduzieren und den diskurs zu ersticken, wird durch die als solidarisch verstandene ausschaltung der binnenkritik über umwegen schließlich dennoch erreicht.
dann bleibt alles wider. alles stand. wieder. still?
(1) vgl. konstantin kaiser: literatur und widerstand. österreichische literatur im exil. universität salzburg 2002
(2) ralf b. korte: handout aktion solitude, in: perspektive – hefte für zeitgenössische literatur 37+38 (1999), 7
(3) bernd hüppauf: das unzeitgemäße der avantgarden: die zeit, avantgarden und die gegenwart. in: der blick vom wolkenkratzer. avantgarde – avantgardekritik – avantgardeforschung. hg. asholt/fähnders, 547-582 (553)
(4) die avantgarde sicherte den marsch, indem sie den feind suchte, seine bewegungen rechtzeitig aufklärte, ihm die eigenen truppen verschleierte und so lange hinhaltenden widerstand leistete, bis die eigenen truppen gefechtsbereit geworden waren.“ hannes böhringer: avantgarde – geschichten einer metapher. in: archiv für begriffsgeschichte 22/1, 90-114 (90)
(5) museum der modernen poesie. eingerichtet von h. m. enzensberger, suhrkamp, 1960, 15
(6) kaiser: literatur und widerstand, 7
(7) etwa enno stahl: der sozial-realistische roman. aufklärung und kritik 507, sukultur 2006
(8) colette m. schmidt: „widerstand unter glitzernden rettungsdecken“, der standard, online, 27. 1. 2019
(9) https://dievielen.at
(10) https://esel.at/termin/101480/pressekonferenz-die-vielen
(11) elke buhr: lebenslügen. interview mit cornelia koppetsch über ihre studie „die gesellschaft des zorns. rechtspopulismus im globalen zeitalter“, transcript 2019. in: monopol – magazin für kunst und leben 9 (2019)
(12) lidija krienzer-radovjević: die administration des klassenkampfes. https://tatsachen.at