Von: Regina Appel ◄
Hinter dem Hof auf dem Feld steht eine Weide. Nackt steht sie da. Ich greife nach den Ästen, berühre die Knospen, die sich kraftvoll den Weg aus dem dünnen Holz bahnen. Beinahe hätte ich sie übersehen. Doch ich habe hingesehen. Hinsehen habe ich erst im letzten Jahr gelernt.
Als ich vor einem Jahr hierhergekommen bin, habe ich gar nichts gesehen. Nichts um mich. Nur mich selbst. Damals stand alles auf Anfang.
Dabei hätte es keinen Neuanfang geben müssen. Der Fahrplan, an den ich mich bis dahin hielt, war ein anderer. Von außen betrachtet war ich zufrieden, erfolgreich, sozial eingegliedert. Es gab keinen Anlass meine Stadt, meinen Job, mein Leben hinter mir zu lassen und in das Haus meiner verstorbenen Großmutter zu ziehen. Allein. Aufs Land. Ans Ende der Welt.
Doch von einen Tag auf den anderen hatte ich keine Lust mehr. Keine Lust im Hamsterrad des neoliberalistischen Wirtschaftsprinzips meine Runden zu laufen. Keine Lust die Schnellste, die Beste, die Erfolgreichste zu sein. Keine Lust unaufhörlich nach Freiheit, Selbstverwirklichung, dem scheinbaren Glück zu suchen. Je energischer ich darauf hinarbeitete, desto unglücklicher machte mich die Bewegungsunfreiheit, die damit einherging.
Abgestumpft. Ich sprach von der Umwelt, las von Klimakatastrophen, lebte weiterhin im Internet und teilte mein Leben auf Social Media. Ich hörte es gerne, wenn jemand sagte: Gemeinsam können wir es schaffen. Dabei wusste ich nicht was es bedeutet.
Ich kam auf dem Hof an und hatte keine Vorstellung von dem Leben, das mich erwartete. Schon am ersten Tag musste ich mir klar werden, dass ich, Anfang dreißig, in körperlich guter Verfassung, Akademikerin, bestens informiert über das Zeitgeschehen, rein gar keine Fähigkeiten besaß, um alleine in einem alten Haus am Rande des Dorfes zu (über-)leben. Alles musste ich mir aneignen. Ich begann von Neuem. Die Misserfolge ließen mich verzweifeln. Die Erfolge durchhalten.
Meine Großmutter war mir die größte Hilfe. Sie ist seit über 15 Jahren tot. Doch hier wacht sie über mich. Wie ein Geist. Vieles aus ihrem Leben ist noch da. Liegt noch an derselben Stelle. Am Anfang wollte ich umgestalten, doch mit der Zeit verstand ich, trat in ihre Pfade, übernahm ihre Handgriffe.
Damals haben wir sie nicht oft besucht. Sind selten raus gefahren aus der Stadt. Ich wünschte ich hätte mehr Erinnerungen an sie. Ich weiß nicht mehr wie ihre Stimme geklungen hat oder wie sich ihr Lachen angehört hat. Ob sie überhaupt gelacht hat? Heute habe ich unzählige Fragen an sie.
Manchmal glaube ich sie zu sehen. Wenn ich in die Küche komme, sitzt sie an dem Tisch, hat das Geschirrtuch über die Beine gelegt und schält Kartoffeln. Im nächsten Moment wird mir klar, dass ich diejenige bin, die das Messer in der Hand hält.
Ich habe Gemüse angebaut, ich jäte das Unkraut mit ihrem Werkzeug. Ich habe mir Hühner angeschafft, trage die Eier mit ihrem Korb in die Speisekammer. Wenn ich Holz hacke, schmerzt mein Rücken. Der Hackstock ist zu niedrig. Sie war eine kleine Frau.
Ich glaube ihre praktische Eleganz in meinen Händen zu spüren, glaube mich an ihre geschickten Bewegungen zu erinnern. Aber wissen tue ich es nicht. Meine Welt und meine Vorstellung von ihrer Welt verschwimmen miteinander.
Die Knospen der Weide werden bald grün und flauschig sein. Ich werde ihnen beim Wachsen zusehen. Obwohl der Winter kurz und warm war, war er für mich der längste und kälteste, den ich bisher erlebt habe. Mein zweites Jahr fängt mit dem Ende des Winters an. Ein neuer Kreislauf beginnt.
Ich habe noch viel zu lernen. Und noch mehr zu verstehen. Vor allem über die Welt da draußen. Manchmal glaube ich, davon gelaufen zu sein, geflüchtet zu sein. Ein Feigling zu sein. Doch dann sehe ich mich um, sehe Anfang und Ende, in den Pflanzen, in mir. Sehe, dass ich Teil bin, dass ich Bestand habe.
Ich weiß nicht, ob ich je zurückkehre in mein altes Leben oder ob ich überhaupt zurückkehren kann. Ich weiß aber ich hätte vor der Zeit hier, nicht viel beitragen können zu der notwendigen Veränderung, von der alle reden.