der platz der menschen

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Regina Appel ◄

Vorher drehe ich meine Runde, laufe mir die Beine müde. Erst dann besuche ich meinen Stein. Es ist kein richtiger Stein. Eher ein gemauerter Sockel. Aber für mitten in der Stadt kommt er einem Stein sehr nahe. Ich mag Steine. Er lässt sich von der Sonne des Tages aufheizen und wenn ich mich nach der Arbeit darauf hocke ist er noch warm. Von dem Stein aus kann ich einen Platz überblicken. Der ist umsäumt von Geschäften und Lokalen. Über die weite Fläche ziehen die Menschen entlang.

Ich kann sie sehen. Ich kann es ihnen ansehen. Sie sind schön. Sie wollen schön sein. Sie gehen Wege. Sie haben Wege. Sie sind allein. Sie sind zu zweit. Sie sind unter vielen. Sie starren auf ihre Smartphones, auf ihre Füße, in die Schaufenster hinein. Ihre Gesichter sind ausdrucklos. Sie wirken unbeteiligt. Sie sehen aus, als wären sie gar nicht hier. Stattdessen ganz woanders.

Ich kann sie spüren. Sie bemerken mich nicht. Sie sehen durch mich hindurch.

Um mich, ein unsichtbarer Radius. Ein menschenleerer Kreis. Manchmal wage ich das Experiment. Ich schaue auf mein Smartphone, blicke in ein Buch. Dann kommen sie näher. Der Radius verringert sich. Meine Bedrohlichkeit reduziert sich. Meine Aufmerksamkeit stößt sie nicht mehr ab.

Manche schieben Kinderwägen vor sich her. Andere zerren Hunde an Leinen hinter sich nach. Manchmal frage ich mich, ob sich ihre unsichtbaren Trampelpfade verändern würden. Wenn es mehr von ihnen wären. Oder weniger. Einige Ausreißer beeinflussen den Trott der Masse. Jugendliche. Sie sind schneller. Pensionisten. Sie sind langsamer. Touristen. Sie sind mehr.

Eine alte Dame nähert sich. In meinem Bauch fängt es an zu Kribbeln. Meinen Radius hat sie noch nicht erreicht. Sie könnte noch abdrehen. Ich schätze zwanzig Schritte. Falls sie den Kurs hält. Es passiert. Sie durchbricht den Radius, als wäre er gar nicht vorhanden. Wie mutig. Die zittrigen Hände halten die offenen Enden ihrer Jacke fest. Sie fragt, ob ich ihr helfen könne den Reißverschluss zu schließen. Der Wind hätte angezogen. Ihr fröstelt. Ich springe vom Sockel. Nähere mich vorsichtig. Bloß nicht verschrecken, denke ich. Ganz behutsam nehme ich ihr die Jackenzipfel aus den Händen. Ich ziehe den Reißverschluss hoch. Nicht zu weit. Nur nicht den Seidenschal einklemmen. Wer weiß, ob ihr zu Hause jemand helfen kann, wenn sich der Verschluss darin verhakt. Sie bemerkt mein Zögern. Ihre Hände umfassen meine. Sie zittern. Sie sind kalt. Die Augen der Frau halten mich fest. Wenn man so alt ist wie ich fallen einem viele Dinge nicht mehr so leicht, sagt sie. Verstehen Sie, fragt sie. Ich lächle. Sie lächelt auch. Na dann, sagt sie. Ich danke Ihnen. Schritt für Schritt verlässt sie meinen Radius, geht zurück über den Platz, weg aus meinem Blickfeld.

Erst als ich sie nicht mehr sehen kann setze ich mich wieder auf meinen Stein. Er fühlt sich wärmer an. Und in mir wird es schwer. Die alte Dame. Ob sie sich vorher umgesehen hat? Ob sie nach jemanden gesucht hat, den sie um Hilfe bitten kann? Oder hat sie mein menschenleerer Kreis angezogen.

Diese Figuren. Getarnt ziehen sie vorbei. Getarnt vor den anderen. Getarnt vor sich selbst. Worauf warte ich? Dass jemand einen Fehler macht? Aus der Reihe tanzt?

In mir werden Stimmen laut. Sie sind verärgert. Sie sagen: Mensch sein. Das ist unser Privileg. Zu kommunizieren. Zu fühlen. Sich auszutauschen. Sich kennen. Mit Menschen zu wachsen. An ihnen zu wachsen. Zu vertrauen. Das ist, was uns Menschen ausmacht. Das ist, was von uns übrigbleibt. Das ist, worauf alles andere aufbaut. Erst wenn man uns ein Recht wegnimmt, erkennen wir, dass wir es hatten. Warum gehen wir dann mit unserem Mensch-Sein so fahrlässig um?