das kündigungsmuseum

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Markus Grundtner ◄

Alles begann damit, dass das Dienstverhältnis von Andrea Arndt per Kündigung beendet wurde.
Der Personalchef Hubert Fink verabschiedete sie mit den Worten: „Gehen Sie in Ihr Büro und nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen.“
Arndt tat wie geheißen: Mit dem Kündigungsschreiben in der Hand ging sie zurück an ihren Arbeitsplatz, der von Glaswänden umgeben und von jeder Seite einsehbar war. Aus ihrer Schreibtischschublade nahm sie eine Rolle Klebeband, riss vier Streifen ab und befestigte ihre Kündigung innen am Glas, gut lesbar für jeden Vorbeigehenden. Dann setzte sie sich in ihren Drehsessel, ihre Hände legte sie flach auf den Schreibtisch.
Die restliche Belegschaft tuschelte über Arndt. Manche der Sätze wurden versehentlich so laut ausgesprochen, dass sie überall im Großraumbüro zu hören waren: „Und das nach 25 Jahren …“, „Weiß jemand, ob sie Familie hat?“ und „Ich hätte sie längst rausgeworfen …“
Arndt starrte derweil auf ihren Computer-Bildschirm, der längst in den Energiesparmodus gewechselt war. Sie nahm sich alle Zeit der Welt.
In den nächsten Tagen verwendete die Kollegenschaft die gesetzlich vorgesehenen Ruhepausen darauf, vor Arndts Glaszelle zu stehen und jede ihrer Bewegungen zu kommentieren. „Sie isst“, sagten sie, wenn Arndt einen Apfel aus dem Obstkorb auf ihrem Schreibtisch nahm. „Sie trinkt“, sagten sie, wenn Arndt einen Schluck aus einem Wasserglas machte.
Ein Mitarbeiter der Kantine brachte neues Obst und Wasserflaschen. Eine Reinigungskraft des Facility Management räumte den Müll weg. Dabei bemerkte die Kollegenschaft eine Pfütze unter Arndts Schreibtisch. Alle hielten sich die Nase zu und lachten. Die Reinigungskraft wischte rasch die Pfütze weg.
Die allgemeine Belustigung fand ihr Ende, als der Personalchef die Belegschaft in alphabetischer Reihenfolge zu sich bestellte. Jeder Kollege und jede Kollegin verließ sein Zimmer mit einem Kündigungsschreiben in der Hand. Fink sagte zu allen: „Gehen Sie in Ihr Büro und nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen.“
Mehr und mehr Kündigungsschreiben klebten an mehr und mehr Glaswänden. Andrea Arndt und ihre Kollegen und Kolleginnen saßen in ihren Büros, die Hände flach auf den Schreibtischen, und nahmen sich alle Zeit, die sie brauchten.
Bald waren alle Büros besetzt. Fink drehte seine Runden und dokumentierte die bedenklichen Entwicklungen der letzten Zeit. Er telefonierte mit der Rechtsabteilung, um die entstandenen Probleme zu lösen. Die Juristin, die er um Rat fragte, war ihm jedoch keine Hilfe, denn sie sagte nur: Grundsätzlich könne er ein Hausverbot aussprechen, dieses werde sich aber schwerlich durchsetzen lassen, da er sich bei seinen Beendigungsgesprächen einer mehrdeutigen Formulierung bedient hätte. Fink selbst habe doch gesagt, dass sich die Gekündigten in ihren Büros alle Zeit nehmen sollten, die sie brauchten.
Dann bekam Fink auch noch einen Anruf vom Geschäftsführer Charles Kulik. Lange dauerte das Gespräch nicht. Fink legte auf, ging in sein Büro, klebte seine für sich selbst geschriebene Kündigung ans Glas und nahm sich – ganz so wie alle anderen der Belegschaft – alle Zeit, die er brauchte.
Die Kantine und das Facility Management versorgten die Gekündigten so gut es ging. Es ließ sich aber nichts ausrichten gegen den Geruch von Menschen, die nicht mehr auf sich achteten, weil sie den Fixpunkt ihres Daseins verloren hatten.
Nach Monaten erschien die Delegation einer Unternehmensberatung. Sie staunten über die Gekündigten, die in ihren Glaszellen wie in Ausstellungsvitrinen saßen. Ursprünglich war die Delegation gekommen, um den Betrieb zu schließen. Doch nach einer gründlichen Sondierung der Lage und einer hitzigen Besprechung sollte es anders kommen.
Die Delegation zog für die Durchsetzung ihrer neu gefassten Pläne ein Gremium arbeitsmedizinischer Experten und Expertinnen hinzu. Die Delegation sprach zu ihnen wie ein vielköpfiges Wesen, das sein Großprojekt realisieren wollte: „Hängen Sie die gesamte Belegschaft an einen Tropf. Behandeln sie alle so, als lägen sie im Koma. Machen Sie bitte auch etwas gegen den Gestank.“ und „Optisch soll alles bleiben wie früher.“
Bald danach kamen die ersten Besucher und Besucherinnen – ihnen voran der Geschäftsführer Kulik. „Willkommen in dem, was einmal unser Betrieb war“, sagte er und erzählte die Erfolgsgeschichte, wie aus einer Stilllegung ein Stillleben entstand – „das weltweit erste und einzige Kündigungsmuseum!“
Das Publikum ergötzte sich an den Kündigungsschreiben – alle ident, nur die Namen, Ausstellungsdaten und Beendigungszeitpunkte waren individuell angepasst.
Das Publikum schoss Selfies – mit den Gekündigten und deren Kündigungsschreiben im Hintergrund.
Es fielen auch unzählige Worte des Lobes für den Einfallsreichtum des Geschäftsführers in diesen arbeitgeberfeindlichen Zeiten.
Erst, als Kulik außer Hörweite war, rottete sich eine kleine Gruppe Journalisten und Journalistinnen zusammen, um sich kritisch zu äußern. Sie sprachen von „allgemeinem Wahnsinn“.
„Klassischer Kapitalismus“, sagte eine Journalistin und die anderen wiederholten es.
„Zum Glück haben wir Freikarten“, brachte es einer von ihnen auf den Punkt, „So hohe Eintrittspreise kann sich niemand leisten. Das muss doch billiger gehen!“
Und alle nickten empört.